Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Fjodor Gladkow - Zement (1925)
http://nemesis.marxists.org

VI. Vorsitzende

Gordischer Knoten

Auf einem Stuhl neben der Tür zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees saß als Ordonnanz ein bärtiger Alter in Feldbluse, mit einer grauen Soldatenmütze aus der Zeit des imperialistischen Krieges. Finster blickte er unter seinen grauen Augenbrauen hervor Gleb an. Seine behaarte Hand umklammerte gewohnheitsmäßig die Messingklinke. So bewachte er jeden Tag von zehn bis fünf die Tür zum Arbeitszimmer des Vorsitzenden, selbst wenn dieser dienstlich unterwegs war. Ob nun Leute mit gewichtigen Aktentaschen kamen oder namenlose Bittsteller, die schüchtern die Hälse reckten — der stumme Wächter war jedem gegenüber gleich unzugänglich, und jedermann wartete unterwürfig, bis die Reihe an ihm war, es sei denn, er konnte sich durch Vermittlung des Sekretärs vordrängen.
Leute in Uniformröcken, Leute mit Aktentasche und ohne Aktentasche, mit Schreiben und ohne Schreiben, geduldige und wütende standen Schlange, alle wussten: wegen dieses bösen Onkelchens durften sie nicht ins Zimmer.
Hinter den Türen ratterten metallisch die Schreibmaschinen, und eine raue Stimme schrie: „Schmach und Schande, Genossen! Bürokratismus und Schlendrian haben uns aufgefressen. Zum Teufel müsste man euch alle jagen, zusammenknallen wie die Schakale." „Na los, Zottelbart, nimm mal die Hand da weg!"
Die Leute meuterten und murrten über Gleb. Ob er denn besser als andere sei, um sich als erster zur Tür zu drängeln? Wenn sie geduldig warteten, warum sollte er nicht ihr Los teilen?
Aus dem Arbeitszimmer kam kein Laut. Einige Zettel klebten an der Tür: „Zutritt nur nach Anmeldung": darunter: „Der Vorsitzende empfängt nur in streng dienstlichen Angelegenheiten"; noch tiefer: „In Sonderfällen bevorzugte Abfertigung nur über den Sekretär des Exekutivkomitees".
Teufelsmaschinerie! Um sie zum Arbeiten zu bringen, muss man sie zerschlagen.
Gleb ging ins Sekretariat. Auch dort wieder anstehen! Junge Mädchen saßen, über Papiere gebeugt, an klapprigen Tischchen und kauten an schwarzem Rationsbrot. Sie waren an das Menschengewimmel gewöhnt — es ließ sie kalt.
Sah vielleicht deshalb der Sekretär Peplo — ein Jünglingsantlitz unter grauen Locken — mit so verklärtem Lächeln auf die griesgrämigen Gesichter? Er lächelte unaufhörlich, er strahlte vor Lächeln; auf seinen gleichmäßigen, zuckerweißen Zähnen glitzerten Speichelbläschen.
Peplo kannte einen jeden, horchte auf den Spektakel und rauchte — er hatte es nicht eilig: ein Fall war wie der andere, alle waren alltäglich.
Nur eine raue Stimme übertönte den Lärm bald aus der einen, bald aus der anderen Ecke des Zimmers: „Rausprügeln müsste man euch, ihr Teufelsbande, ihr Fliegenfänger. Habt den Arbeitsmenschen ohne Kumt vor zwanzig Berge gespannt. Einen Schädel mit Hörnern braucht man, um eure Bürokratie einzurennen. Ich schlag euch kurz und klein. Ihr werdet mir die Arbeiterklasse nicht zuschanden reiten."
Sekretär Peplo lächelte verklärt. Er war wohl an solche Skandale gewöhnt. Die Maschine lief auf vollen Touren, und der Aufruhr der Bürger war das beste Schmieröl für den Motor.
Der aufgebrachte Shuk, flammenden Zorn in den Augen, fegte durch die Kanzlei und rempelte wie ein Blinder die Leute an.
Gleb schob ihm die Mütze ins Genick.
„Bitte etwas freundlicher, Shuk!"
„Ach, Gleb, alter Junge, lieber Genosse, es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, wie man die Arbeiterklasse knebelt! Ich mache ihnen die Hölle heiß, solange ich noch in diesem Jammertal herumlaufe... Im Volkswirtschaftsrat bin ich gewesen — Schlamperei. Im Versorgungskomitee — Schlamperei. Überall — Schlamperei. Und hier auch, gottverdammich, Schlamperei. So renne ich also herum und schimpfe wie ein Rohrspatz."
„Die Zunge ist ein Holzschwert, Shuk. Kämpfe mit Taten und Tatsachen!"
„Ich? Wozu? Ich bringe alles ans Licht. An die Wand stelle ich alle."
„Du musst Arbeit bekommen, Shuk, sonst schießt du immer nur mit Knallerbsen."
„Nein, Bruder Gleb, lieber Genosse, die kennen mich noch nicht. Ich werde ihnen schon ein zweites Jahr achtzehn bereiten."
Drohend hob er die Faust zur Decke und ging hinaus. Gleb schob sich an der Schlange vorbei und trat zum Sekretär Peplo.
„Bitte melden Sie mich dem Vorsitzenden." Peplo sah ihn mit verklärtem Lächeln an.
„Stellen Sie sich an, seien Sie so freundlich."
„Ich sage Ihnen doch deutlich: melden Sie mich dem Vorsitzenden. Die Sache ist dringend — sie duldet keinen Aufschub. Verstanden?"
Peplo tat erstaunt und warf einen spöttischen Blick auf Gleb.
„Wichtig? Worum handelt es sich denn?" Aus der Menge schrieen wütende Stimmen: „Meine Sache ist ebenso dringend, äußerst dringend. Was ist das für eine Schweinerei!"
Der Sekretär hatte sich bereits von ihm abgewandt und hörte den anderen zu. Gleb reckte sich, und seine Augen bekamen den gleichen Ausdruck wie die Shuks. Auf dem Korridor stieß er den zottigen Onkel beiseite und betrat das Arbeitszimmer des Vorsitzenden. Durch die Strahlenbündel der Sonne hindurch sah er breite blutrote Transparente, und die frischgestrichenen Wände glänzten hell.
„In welcher Angelegenheit, Genosse? Ich bin beschäftigt. Kein Empfang."
Die Sonne blendete derart, dass Gleb nicht gleich erkennen konnte, wer mit derart schallender Stimme sprach. Er hörte jedoch sofort die Herrschsucht und Machtvollkommenheit des Mannes heraus. Gleb trat einige Schritte vor und erblickte am Schreibtisch einen brünetten untersetzten Mann in schwarzer Lederjacke, mit glattgeschorenem Schädel und zusammengezogenen Brauen. Ein anderer Bursche, in dunklem Tscherkessenrock, Dolch und Pistole im Gürtel, stand daneben und stützte die Hand auf die Stuhllehne. Er sah nach einem der Mordskerle von der „Teufelshundertschaft" aus, die im Kriege Wunder vollbracht hatten und auf deren Säbeln das Blut nie getrocknet war.
Gleb hob militärisch die Hand an den Helm und setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch, dem Vorsitzenden gegenüber. Beide sahen einander nicht gerade freundschaftlich an. Über den Augen des Vorsitzenden wölbte sich eine breite Stirn. Er sprach, die Stimme dämpfend, auf den Tisch hinab, auf seine großen Hände mit den schwarzen Härchen auf den Fingern.
„Also. Schreib dir das hinter die Ohren, Borstschi: Wenn du im Laufe eines Monats die Kampagne für zusätzliche Einzugsquoten zum Ablieferungssoll nicht durchgeführt hast und die Septemberrate der Saatanleihe nicht voll einläuft, dann kannst du etwas erleben. Ich verliere kein unnützes Wort. Das weißt du ja. Als Vorsitzender des Gebietsexekutivkomitees bist du mir für alle verantwortlich. Denk daran!"
Borstschi, stramm und schlank, rollte die Augen und lächelte dreist.
„Genosse Badjin! Auch ich bin Kommunist. Und mich kann man so leicht nicht einschüchtern."
Der Vorsitzende des Exekutivkomitees unterbrach ihn mit drohender Kälte. „Als Kommunisten lasse ich dich auch aufs Korn nehmen, wenn du deinen Auftrag nicht erfüllst. In deinem Kreis wird zuviel gestänkert und den Kulaken nachgegeben."
„Genosse Badjin!" Borstschis helle Stimme bebte. „Du willst mich aufs Korn nehmen, aber ich habe nicht für 'nen Sechser Angst. Du kennst mich. Versteh doch, dass man die Saatanleihe bis zum nächsten Jahr stunden muss. Und Zwangsgetreidelieferungen wurden seit dem Herbst schon viermal eingetrieben. Die Bauern krepieren bald vor Hunger. Mit solchen Maßnahmen züchten wir uns ja selbst grün-weiße Banden heran. Man wird uns alle bis zum letzten Mann abschlachten, in Stücke wird man uns hacken."
„Schön. Soll man euch in Stücke hacken, aber dein Auftrag ist auszuführen, und zwar exakt und pünktlich."
„Genosse Badjin, setzen Sie bitte meinen Bericht auf die Tagesordnung. Ich werde dem Plenum des Exekutivkomitees beweisen..."
Badjin richtete sich auf; die Falten seiner Lederjacke funkelten. „Borstschi!" Er stand auf und wandte sein Gesicht langsam dem Kosaken zu. „Vorsitzender des Gebietsexekutivkomitees Borstschi!" Er lächelte, und in diesem Lächeln lag mehr Drohung als in seinem Ausruf.
Borstschi trat einen Schritt zurück und nahm Haltung an. In seinen Augen blitzten stechende Funken auf.
„Genosse Badjin! Kampagnen werden durchgeführt, werde alles tun. Aber das gibt ein Blutbad, Genosse Badjin."
„Heul nicht! Du bekommst Saltanow zu Hilfe, den Chef der Bezirksmiliz."
Er wandte sich von Borstschi ab und setzte sich wieder. Borstschi, der Haudegen von der „Teufelshundertschaft", stand zerknirscht da, wollte etwas herausschreien, winkte dann aber resigniert ab und verließ das Zimmer eilig. Badjin starrte wieder auf seine behaarten Hände. „Worum handelt es sich, Genosse? Fassen Sie sich kurz." „Zu Ihnen durchzukommen, Genosse Vorsitzender, ist für einen Arbeiter ebenso schwierig, wie Perekop einzunehmen." „Kommen Sie zur Sache."
Die kalte Unbeweglichkeit des Vorsitzenden bedrückte Gleb. Er fuhr jedoch hartnäckig und wie zum Trotz langsam fort: „Das nächste Mal schmeiße ich Ihren Götzen da draußen zum Fenster raus. Solche Generalsmanieren stehen uns schlecht zu Gesicht."
Badjin sah Gleb in die Augen und sagte teilnahmslos: „Ich werde Sie gleich in Arrest setzen. Wer sind Sie eigentlich?"
Er stand auf, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sah zur Tür hinüber. Gleb schob polternd seinen Stuhl zurück und brüllte: „Genosse Vorsitzender, mit Ihnen spricht ein Arbeiter des Werkes! Haben Sie die Güte, sich hinzusetzen! Sie haben kein Recht, Arbeiter aus Ihrem Büro zu jagen."
Badjins Wangen zuckten, er lächelte, zwischen seinen dicken Lippen blitzten die Zähne auf. Dann setzte er sich, nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, steckte sich eine an und schob Gleb das Päckchen zu.
„Ich höre. Sagen Sie kurz und bündig, was Sie wollen. Wie heißen Sie?"
Auch Gleb setzte sich. Er holte seine Rotarmistenpfeife hervor und begann sie zu stopfen.
„In der Parteizelle und auf der allgemeinen Arbeiterversammlung haben wir beschlossen, Holz über den Pass heranzuschaffen, und zwar mit Hilfe eines Bremsberges. Das Bezirkskomitee und das Gewerkschaftskomitee haben bereits zugestimmt. Zwei, drei Sonntagseinsätze der Gewerkschaften — und wir lassen ganze Berge Holz zu den Waggons rollen. Von den Bauern haben wir nichts zu erwarten — das ist Unsinn, die laufen uns alle auseinander und stellen immer neue Banden auf. Und mit den Lastkähnen können wir auch nichts anfangen, die sind verfault und von den Wellen leckgeschlagen. So sieht's aus. Ich heiße Tschumalow, Schlosser in unserem Werk, Regimentskommissar."
Badjin streckte ihm die Hand hin; seine Wangen zuckten wieder, und seine Zähne blitzten in einem Lächeln.
„Ja, das ist wirklich eine ernste Sache, ein erstrangiges Problem. Dascha Tschumalowa — ist das Ihre Frau?"
Badjins letzte Worte überhörte Gleb, er war mit seiner Pfeife beschäftigt.
„Diese Frage ist nur Teil einer großen Frage, Genosse Vorsitzender. Ich habe auch noch anderes im Auge. Was halten Sie zum Beispiel davon, das Werk wieder in Betrieb zu setzen — falls dies in nächster Zeit notwendig werden sollte?"
Badjin sah Gleb starr an. Er lehnte sich zurück und studierte aufmerksam Gesicht und Bewegungen dieses so unvermutet aufgetauchten Mannes.
Gleb Tschumalow, der vermisste Ehemann. Dascha, die keiner anderen Frau glich — Dascha, nach der er eines Tages die Hand ausgestreckt hatte. Es gab kein Weib, das sich ihm nicht ergeben und bereitwillig gefügt hätte, hier aber war er auf eine Stahlfeder gestoßen. Und weil diese Frau, die Führerin der städtischen Proletarierinnen, ihren Platz selbst unter den Männern zu behaupten wusste, war er, der Vorsitzende des Exekutivkomitees, nicht imstande, sich ihr zu nähern wie sonst den Frauen. Tag für Tag grübelte er, von welcher Seite er Dascha beikommen und wie er ihren Starrsinn brechen könnte.
„Vom Werk wollen wir vorläufig nicht reden, Genosse Tschumalow. Es wieder in Betrieb zu setzen steht nicht in unserer Macht. Aber den Bau des Bremsberges werde ich schon auf der nächsten Sitzung des Wirtschaftsrates zur Sprache bringen."
Gleb ließ verdutzt die Pfeife sinken, sein Blick begegnete dem des Vorsitzenden. Immer stärker empfand er unbegründeten Hass gegen Badjin. Schon in den ersten Minuten hatte er diesen Hass verspürt.
„Wieso — nicht in unserer Macht? Ist es denn nicht eine Schande, dass das Werk nicht einmal in der Lage ist, seine eigenen Winkel zu beleuchten, von den Arbeiterwohnungen ganz zu schweigen? Überall Bruch: keine Türen, keine Fenster, und wenn Türen da sind, dann hängen statt Schlösser Bindfäden oder Draht daran. Was wollen Sie tun, dass man das Werk nicht ausplündert? Wer züchtet denn diesen Verfall: Sie oder die Arbeiter? Das Werk erhält Zuteilungen an flüssigem Brennstoff. Wo bleiben diese Zuteilungen? Nehmen wir das Zermahlen des Klinkers. Ein unermesslicher Reichtum an auszubeutenden Rohstoffen. Aber die Schuppen stehen leer, und die Dauben häufen sich zu Bergen. Ihr schreit immerzu über Drückeberger und Faulenzer und erzieht selbst Schmarotzer und Tagediebe. Ein Revolutionstribunal taugt nichts, wenn es Misswirtschaft und Sabotage nicht bestraft. So stelle ich die Frage, Genosse Vorsitzender."
„Genosse Tschumalow, Fragen stellen können wir ebenso gut wie Sie. Man muss von der konkreten Lage ausgehen. Wir dürfen nicht über den Kopf des Staatlichen Plankomitees hinweg Fragen von allgemein staatlicher Bedeutung entscheiden."
„Von der allgemein staatlichen Bedeutung spreche ich ja gerade, Genosse Vorsitzender."
„Zu gegebener Zeit werden wir auch an diese Frage herangehen, Genosse Tschumalow. Das hängt von den Perspektiven der Neuen Ökonomischen Politik ab. Dieser Augenblick ist nicht mehr fern."
„Meine Meinung ist die, Genosse Vorsitzender: Wir als
Kommunisten dürfen nicht nur gewissenhafte Vollstrecker von Direktiven und Anordnungen sein, sondern wir müssen auch — und das ist die Hauptsache — Initiative zeigen und schöpferisch arbeiten."
Badjin kurbelte am Telefon.
„Folgendes, Schramm: Komm doch gleich mal auf einen Augenblick zu mir."
Er kniff ein Auge zusammen und sah mit kühlem, spöttischem Lächeln auf Glebs Pfeife. Auch Gleb kniff ein Auge ein, und beiden wurde klar, dass sie niemals Freunde werden konnten.
„Jeder Wirtschaftsfunktionär, Genosse Tschumalow, ist um so wertvoller, je fester und unbeirrbarer er die Sache anpackt, die ihm auf den Nägeln brennt. Die Regel lautet: nicht alles auf einmal, sondern ein Teil; kein Märchen, sondern ein Stück Brot. Sie wissen doch, dass uns Banditen bedrohen. Wie Wölfe haben sie uns eingekreist. Der Kampf gegen sie bindet die Kräfte, die für den Wiederaufbau der Wirtschaft nötig sind. Wir brauchen eine neue Kampfmethode, eine neue Strategie. Ihr Projekt, das Werk unverzüglich in Betrieb zu setzen, ist unsinnig; Sie berücksichtigen die Konjunktur nicht. Doch wenn Sie es fertig bringen, die Stadt in kurzer Zeit mit Holz zu versorgen, haben Sie eine wirkliche Heldentat vollbracht."
Gleb starrte Badjin an. Zweifellos war dieser schwarze Kerl klug und kannte genauso gut wie Gleb die Forderung des Tages, aber er spielte entweder hohe Diplomatie oder war ein Opportunist und prinzipienloser Praktiker, der sich nicht über die Tagesfragen erheben wollte.
„Sie jagen mit dem Hammer Flöhe, Genosse Vorsitzender. Die Rote Armee hat die ganze Entente verprügelt, im Namen der großen Idee, die Sozialismus heißt. Allein die Idee hielt uns am Leben, an ihr wuchsen wir, sie hat uns immer wieder aufs neue gestählt. Aber ihr mit eurer kleinlichen Wirtschafterei züchtet nur Schmarotzer. Was habt ihr konkret für den Wiederaufbau der Produktion getan?
Nichts. Wie habt ihr das Volk begeistert? Überhaupt nicht. Und dabei waren wir schon so nahe daran."
„Auch das weiß ich ebenso gut wie Sie, Genosse Tschumalow. Wir haben auf jeder Parteikonferenz, auf allen Kongressen der Sowjets und Gewerkschaften darüber gesprochen. Produktivkräfte, wirtschaftlicher Aufstieg der Republik, Elektrifizierung, Genossenschaften und so weiter. Aber wo haben wir reale Möglichkeiten?"
„Eine solche Frage, Genosse Badjin, kann ein unpolitischer Spezialist stellen — Sie dürfen es nicht. In den Kriegsjahren haben wir alle Felder zertrampelt, jetzt aber müssen wir sie pflügen. Solange die Schlote nicht rauchen, bleibt der Bauer ein Bandit und der Arbeiter ein Landstreicher." Badjin grinste gelangweilt, und seine Augen wurden kalt.
„Warten Sie ab, Genosse Tschumalow, was der Zehnte Parteitag beschließt."
Dieser Arbeiter war in Badjins Augen ebenso halsstarrig wie naiv und kurzsichtig. Demagogen seiner Art störten den normalen Ablauf der komplizierten Arbeit, die man Staatslenkung nannte. Solche besessenen Träumer brauten aus Zukunftsbildern eine hochtrabende Romantik der Gegenwart, die von der Verwüstung zerfressen war.
Ein hochgewachsener Mann mit Aktentasche trat ein, ganz in gelbem Leder, von der Mütze bis zu den Stiefeln. Er hatte ein wabbliges Kastratengesicht und trug einen Zwicker auf der weibischen Nase. Ohne zu grüßen, setzte er sich Gleb gegenüber an den Tisch und erstarrte in einer Pose gesammelter Ruhe. Er glich einer Wachsfigur aus dem Panoptikum: ganz auf lebend zurechtgemacht, und doch nur eine Puppe.
„Hör zu, Schramm: Was kann der Volkswirtschaftsrat unternehmen, wenn in den nächsten Tagen die Frage aufgeworfen wird, das Werk teilweise in Betrieb zu setzen?"
Langsam, gleichgültig und völlig ausdruckslos antwortete Schramm wie ein Automat: „Der Volkswirtschaftsrat
hat das gesamte Staatseigentum erfasst und in seine Obhut genommen — von komplizierten Maschinen bis zum alten Hufeisen. Ohne die entsprechenden Anordnungen können wir nichts unternehmen. Unser Apparat muss kostbare Zeit vergeuden und sich mit allen möglichen Projekten und Vorschlägen herumschlagen, die von verschiedenen Betrieben und Privatpersonen ausgehen. Die Leute begreifen nicht, dass der Volkswirtschaftsrat kein Bestattungsinstitut
ist."
„Einverstanden, Schramm, aber dem Volkswirtschaftsrat steht eine Stoßarbeit bevor. Er muss sich aus einem Bestattungsinstitut in einen geschäftstüchtigen Unternehmer verwandeln."
Badjins Worte machten auf Schramm nicht den geringsten Eindruck.
„Der Volkswirtschaftsrat erhält alle Aufträge und Pläne nur vom Industriebüro."
Badjin lehnte sich zurück, musterte Schramm verächtlich lächelnd, und seine lärmende Stimme wurde noch lauter.
„Du versteckst dich hinter dem Rücken des Industriebüros, um den Volkswirtschaftsrat zu kastrieren. Aus deinen schriftlichen Berichten geht hervor, dass du nichts weiter tust als erfassen und nochmals erfassen. Du hast eine Unmenge Abteilungen, fast zweihundert Mitarbeiter, aber von schöpferischer Arbeit keine Spur. Welche Vorschläge hält der Volkswirtschaftsrat für die nächste Zukunft in Bezug auf Werkstätten, Fabriken und Unternehmen
bereit?"
Schramm antwortete mechanisch wie zuvor: „Der Volkswirtschaftsrat steht auf dem Standpunkt, dass
man vor allen Dingen das Volkseigentum schützen muss
und keinerlei zweifelhafte Unternehmen zulassen darf." „Wie arbeitet die Forstverwaltung deines Kreises?" „Ich habe damit nichts oder, genauer gesagt, nur indirekt
zu tun. Sie verfügen dort über einen eigenen Apparat, der
lediglich unter meiner Kontrolle steht."

„Was für Angaben hast du über die Arbeit der Forstverwaltung?"
„Es wird planmäßig Holz gefällt und gestapelt."
„Und die Zustellung des Brennholzes?"
„Das geht den Volkswirtschaftsrat nichts an. Das ist Sache des Gebietskomitees für Brennstofffragen."
„Nun aber folgendes, Schramm. Die Stadt und die Vororte müssen bis zum Winter in ausreichendem Maße mit Brennstoff versorgt sein. Das Kraftwerk des Werkes ist unverzüglich in Betrieb zu setzen und am Pass ein Bremsberg zu errichten."
„Das ist nicht meine Sache, sondern Sache des Industriebüros. Gibt das Industriebüro den Auftrag dazu, schreiten wir zur Ausführung!"
„Das ist unsere Sache und nicht Sache des Industriebüros, und wir erledigen sie ohne seine Sanktion."
Zum ersten Mal lief, wie ein leichter Schatten, krampfhaftes Zucken über Schramms Gesicht, seine Augen jedoch blieben glasig wie zuvor.
„Wie viel flüssiger Brennstoff steht unserem Werk zu?"
„Die Zuteilungen erfolgen unregelmäßig. Nach statistischen Angaben beträgt der Schwund bis zu dreißig Prozent. Die Raffinerie muss einen Teil der für das Werk bestimmten Vorräte mit Genehmigung des Industriebüros als Sonderzuteilung an die Dampfmühlen abgeben. Was die Stromanlage des Werkes und die Errichtung des Bremsberges betrifft, so steht das alles nicht auf dem diesjährigen vom Industriebüro bestätigten Plan. Das Projekt muss zuerst der staatlichen Bauverwaltung und dem Industriebüro unterbreitet werden, damit diese den Kostenanschlag ausarbeiten."
Badjin legte die geballten Fäuste auf den Tisch.
„Bei der nächsten Sitzung des Wirtschaftsrates wirst du Bericht erstatten, Schramm. Du wirst einen Plan vorlegen, der folgendes enthält: Maßnahmen zur Wiederinbetriebsetzung des Werkes und zur Holzbeschaffung."
Schramm fuhr zusammen, blieb aber nach wie vor undurchdringlich.
„Ich muss mich mit dem Industriebüro in Verbindung setzen und die Direktiven abwarten."
Badjin lächelte ihn an wie vorhin Borstschi. „Wir werden dich auch ohne die wundertätige Einmischung des Industriebüros zum Leben erwecken, Genosse Schramm. Mach dich darauf gefasst."
Schramms Augen blitzten wütend, wortlos stieß er mit dem Finger gegen den Kneifer. Gleb klopfte über dem Aschenbecher seine Pfeife aus, stand auf und tauschte mit Badjin einen Blick. In dieser Sekunde waren sie einander plötzlich nahe. Sie lächelten sich zu. Dann übermannte Gleb die Wut auf Schramm, und er rannte mehrere Male im Zimmer hin und her, ehe er aufgebracht rief: „Ihr Industriebüro soll von mir aus der Teufel holen. Verschlampt und verschimmelt ist dort alles bei Ihnen. Das Werk haben Sie zugrunde gerichtet! Ein solches Werk! Die Arbeiter zu Dieben gemacht, sie systematisch zersetzt."
Schramm sah Gleb mit bestürztem Staunen an. Dieser Soldat attackierte seine Autorität, ziemlich hitzig und ohne jede Berechtigung. Was wollte er? Was konnte er für Ansprüche an den Volkswirtschaftsrat haben? Vorlauten Phantasten und Demagogen begegnete Schramm jeden Tag, er war es gewohnt, sie in die Schranken des Anstandes zu weisen. Wäre es denkbar, dass dieser Neuling, der offensichtlich von sehr weit herkam, irgendwelche Trümpfe in der Hand hatte, die er gegen den Volkswirtschaftsrat ausspielen konnte?
Bemüht, seine Undurchdringlichkeit beizubehalten, unterbrach er Gleb trocken: „Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, und bitte, sich nicht in die Angelegenheiten des Amtes einzumischen, das ich leite."
Gleb lachte auf.
„Sie sind Kommunist, Genosse Schramm, aber Sie treiben keine Arbeiterpolitik. Sie haben weder Pulver noch Arbeiterschweiß gerochen. Ich pfeife auf Ihre Amtsmaschinerie! Sie haben dort ganze Regimenter Ratten. Die haben die Zähne tüchtig in Sowjetbrot gegraben. Aber verlassen Sie sich darauf, gefangen und gehangen werden sie von uns, diese Nagetierchen! Und auch Sie werden nichts zu lachen haben."
Schramm stand auf und nahm eine hoheitsvolle Pose an. „Genosse Badjin, ich verlange, dass dieser Genosse zur Ordnung gerufen wird."
Doch Gleb hatte zu Badjin hinüber salutiert und ging rasch zur Tür.
Zu Tschibis! Niemanden brauchte er jetzt so wie den Genossen Tschibis.

Augen, die im Dunkel sehen

In einem kleinen Arbeitszimmer, dessen Fenster offen stand, hatte sich Gleb Tschibis gegenüber an den Tisch gesetzt. Tschibis' Gesicht war blass, jedoch jugendlich frisch. Er war sorgfältig rasiert.
„Wenn die Sache eilt, Genosse Tschumalow, schieß los, wenn nicht, lass dir Zeit. Ich habe gerade eine freie Minute. Na, wie steht's mit deinem Werk?"
„Vorläufig wird noch überlegt; bis zur Arbeit ist's noch weit."
Tschibis blinzelte in die Sonne.
„Ich sehe mir gerade das Meer an. Von hier aus wirkt es wie Luft, und diese Farben, kannst du sehen? Man möchte baden oder am Strand entlanglaufen, einfach so hinausstürmen und Steinchen ins Wasser werfen. Im Walde wäre es ebenso schön. Das Meer! Siehst du, wie es wogt und lebt? Das riecht ein wenig nach Psychologie. Was hältst du von Psychologie?"
„Schon seit Tagen, Genosse Tschibis, erlebe ich hier Psychologie, der Teufel soll sie holen. Mit Psychologie allein kann man den Feind nicht bezwingen—dazu braucht es gute Muskeln und einen festen Griff. Wenn du baden willst, können wir zusammen gehen. Was ist denn eigentlich los?"
Tschibis blinzelte und lächelte, und dann sah er Gleb mit klaren Kinderaugen an.
Doch in der Tiefe der Pupillen glitzerten heiße Fünkchen. Solche Augen schlafen in der Nacht nicht, sie sehen durch Wände.
„Ich hole dich im Werk ab; dann gehen wir baden, direkt von der Mole. Ich mag tiefes Wasser. Wellen mag ich. Und du? Sagen dir Wellen nichts?"
„Ich nähme mir mit dem größten Vergnügen den einen oder den anderen von unseren Wirtschaftsmenschen vor, zum Beispiel den Vorsitzenden des Volkswirtschaftsrates. Das ist eine Type, dieser Schramm! Ich habe ihn vorhin im Exekutivkomitee fertiggemacht. Aber er hat nicht einmal gezuckt. Stur wie ein Götze! Ich heize ihm ein, und er brummt nur in seinen Bart: Industriebüro, Industriebüro. Sogar Badjin wurde es peinlich."
„Sogar Badjin. Du hast einen geschulten Blick, Tschumalow. Diesem Nest — dem Volkswirtschaftsrat — ist mit bloßen Händen nicht beizukommen. Bürokratismus als System — das ist ein fester Bunker und in der Hand des Feindes eine sehr raffinierte Waffe, gegen die man oft machtlos ist. Er triumphiert über die Massen, über das lebendige Leben, er tötet den schöpferischen Gedanken ab. Wir greifen uns zwar einzelne Saboteure und Verschwörer, auch ganze Gruppen, aber das genügt nicht. Wir müssen diese Festung nehmen und die Mauern schleifen."
Tschibis sah hinaus auf das Meer, auf die Berge, auf die Wolken, die wie Schneehaufen über dem Meer schwebten, und sein Gesicht war plötzlich alt vor Übermüdung.
„Wen schlägst du vor, wer soll den Volkswirtschaftsrat zur Strecke bringen? Bedenke, dass die gescheitesten und
tatkräftigsten Arbeiter Schafsköpfe sind. Sie können wohl sehen und zufassen..."
Tschibis lächelte wieder und verbarg die Augen hinter den Wimpern.
„Schramm ist ein mechanistischer Kommunist, für seinen Apparat lässt er sich in Stücke hacken, wie ein Holzklotz. Die Schafsköpfe aber verstehen es, klares Wasser zu trüben ... Weißt du, was Notwendigkeit heißt, Tschumalow? Sie fühlen, ist eins, um sie wissen, etwas anderes. Das Wissen um die Notwendigkeit, verbunden mit dem Gefühl für die Notwendigkeit — das ist Freiheit. Du musst es verstehen, die Notwendigkeit in einen eigenen Gedanken umzuformen, und die Nacht wird dich nicht mit Gespenstern schrecken."
Gleb sah Tschibis mit einer unbestimmten Unruhe an; es kam ihm vor, als wachse Tschibis' Kopf, als ginge er aus den Fugen, als berste er unter dem Druck des Gehirns.
„Genosse Tschibis, was hättest du gegen Shuk einzuwenden? Er faulenzt. Man muss ihn in eine Arbeit einspannen. Ich finde, er wäre der geeignetste Schafskopf. Das Parteikomitee soll ihn in die Kreisforstverwaltung abkommandieren."
„Gut. Schick ihn morgen zu mir. Lass dir einen Dauerpassierschein ausstellen!" An der Tür drehte sich Gleb um.
„Genosse Tschibis, hast du Lenin gesehen?"
„Ja, na und? Was folgt denn daraus? Und wenn ich ihn nun nicht gesehen hätte?" Tschibis wandte sich ärgerlich ab.
„Ich habe ihn nicht gesehen, Genosse Tschibis, und mir ist, als hätte ich die Hauptsache noch nicht erlebt. Könnte ich ihn sehen und hören — ich würde mich selbst neu begreifen. Ich kann das nicht so ausdrücken, ich bin arm an Worten. Aber dann würden sogar meine Worte anders."
„Wie denn — anders?" fragte Tschibis streng und spöttisch.
„Groß und tief, Genosse Tschibis."
„Handle lieber, statt zu reden! Kämpfe, schone deine Kräfte nicht! Organisiere die Arbeit! Erfülle im Kampf die Aufgaben, wie es die Partei verlangt! Hörst du? Dann wirst du auch Lenin vor dir sehen. Geh! Vergiss nicht, dir den Dauerpassierschein zu holen. Ich rufe gleich an."

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur