XIII. Langsame Fahrt
Am Wendepunkt
Es kamen wieder ruhige Tage voller Geschäftigkeit, Tage gewohnter beharrlicher Arbeit in Behörden und Organisationen und im Werk.
Es waren genau solche Tage wie vor dem Aufstand der Kosaken und der Weiß-Grünen: wieder Papiergeraschel in den Büros, wieder Sitzungen in stickigem Tabaksqualm, mit Zigarettenstummeln auf dem Fußboden und mit endlosen Diskussionen, Resolutionen und Plänen im Exekutivkomitee, im Gewerkschaftskomitee und im Wirtschaftsrat. Nachts sah man keine alarmierenden Fackeln mehr in den Bergen geistern. Jeden Sonnabend überschwemmten Bauernfuhren mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen — Kartoffeln, Mehl, Gemüse, Eiern und Kleinvieh — den Marktplatz in der Vorstadt, und die Luft roch nach Pferdeschweiß und Ackerboden. Durch die Bergschluchten, die früher kein Fußgänger und kein Reiter unbeschadet passieren konnte, führten jetzt friedliche Waldwege, auf denen Wagen knarrten und der Landmann schläfrig sein Lied sang.
Die Bürger und all die geschäftstüchtigen Leute in Feldblusen, Waffenröcken und Lederzeug, mit und ohne Aktentaschen, krochen aus ihren muffigen Wohnungen wieder auf die Straße hinaus, und keiner dachte mehr an Evakuierung, Kanonendonner und die durchlebten nächtlichen Schreckensstunden.
Das Meer zwischen den bergigen Ufern war blau wie der
Himmel. Von der Reede hinter den Molen bis zum Horizont leuchteten die spitzen weißen Flügel der Fischerboote. Des Morgens tauchten — niemand wusste, woher — türkische Feluken vor den Pieren auf und zeichneten mit ihren schlanken Mastspindeln feine Muster in die Luft. Die Spießer zwinkerten sich nicht mehr zu, tuschelten auch nicht mehr an den Straßenkreuzungen, über den Zaun und auf dem Bürgersteig, sondern sprachen laut und sachlich über die Neue Ökonomische Politik, über Valuta und Schmuggel.
Auf der Hauptstraße, vor den Läden, die früher verschiedenen Wirtschaftsorganisationen als Lagerräume gedient hatten, ratterten Wagen, Pferde wieherten und bissen sich, und Transportarbeiter brüllten von früh bis spät und ächzten unter der Last von Ballen, Kisten und Säcken. Die Hauptstraße briet in der Sonne, roch nach Frühlingshimmel, putzte sich wie eine Henne und wiegte sich in neuen Hoffnungen. Einst hatte sie im Schmuck der Auslagen geprangt, in Wohlgerüchen geschwelgt, und die Röcke der promenierenden Modedamen hatten gerauscht; nachts hatte sie im Schein elektrischer Lichtreklamen gewogt. Nun lächelte die Zukunft wieder rosarot: Der Tag schien nahe, da es keine Rationen mehr gab, keine Wohnraumbeschränkung, keine Registrierung und Umregistrierung, keine Zwangsmaßnahmen, keine Lebensmittelkarten und keine Arbeitspflicht.
Mit über die Knie geschürzten Röcken standen junge Frauen und Mädchen auf Fensterbrettern und Leitern, wuschen die Scheiben und rieben sie blank, und der jahrealte Schmutz floss in rötlichen Strömen auf den Bürgersteig.
Aus den dunklen Bäuchen der Geschäfte wehten Schimmelgeruch und abgestandene, kalte Kellerluft. Vor den offenen Türen und Fenstern stauten sich Passanten und sahen mit unruhiger Neugier lange in das Ladeninnere, auf die nassen Fenster und die nackten Frauenwaden. Dort,
wo im Innern Hämmer klopften und Hobel kreischten, während noch schwarze Leere hinter den Scheiben gähnte, klebten blendendweiße Inschriften an Türen und Hauswänden :
HIER WIRD IN KÜRZE EINE VERKAUFSSTELLE DER ARBEITERKONSUMGENOSSENSCHAFT ERÖFFNET
KAUFHAUS DER VKG
HIER WIRD EIN CAFE ERÖFFNET
HANDELSGENOSSENSCHAFT MANUFAKTUR
An den glatten Wänden des Stadthauses (Kommunalwirtschaft) aber stand in ellengroßen Buchstaben folgendes zu lesen:
WER NICHT ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
AUF DEN RUINEN DER KAPITALISTISCHEN WELT ERRICHTEN
WIR DAS GROSSE GEBÄUDE DES KOMMUNISMUS
WIR HABEN NUR KETTEN VERLOREN, GEWINNEN ABER EINE
GANZE WELT
Auf dem Marktplatz wurden neue Verkaufsstände und -zelte aufgeschlagen. Dort schmatzten die Beile, sprühten goldene Späne, und in allen Straßen der Stadt roch es nach Kienharz und Ölfarbe.
Vor der Abteilung Volksbildung drängten sich vom frühen Morgen bis vier Uhr nachmittags die Schullehrer mit grauen Gesichtern. In Gruppen standen und saßen sie auf dem Bürgersteig, verzweifelt und ergeben wie Blinde. Tag für Tag belagerten sie so das Gebäude, den ganzen Winter und das ganze Frühjahr hindurch. Die Schulräume waren von Behörden belegt, die Bücher und das Anschauungsmaterial waren von den Weißen geraubt, die Pulte waren verheizt, und die Abteilung Volksbildung hatte kein Geld. Warum sollte man also nicht herumsitzen und auf sein Gehalt warten, das längst fällig war?
Wenn Sergej nach einer Kollegiumssitzung auf die Straße trat, sank ihm sofort der Mut angesichts dieser Bettlerschar mit den grauen Gesichtern und trüben Augen, die voll kläglichen Flehens waren und voller Demut. „Sergej Iwanowitsch! Bester Sergej Iwanowitsch! Sie sind doch selbst Lehrer. Sie müssen doch wissen... Das geht doch nicht, Sergej Iwanowitsch."
Sergej aber zwängte sich durch die muffige Menge und sah niemanden an; er schlug die Augen nieder und lächelte verlegen. Lächelte und hatte ein quälendes, verworrenes Schuldgefühl gegenüber diesen verhärmten Menschen.
„Ich kann nichts tun, Genossen. Ich fordere, ich mühe mich ab, aber was kann ich schon ausrichten? Ich weiß alles, Genossen. Aber ich kann nichts tun."
Er beeilte sich, fortzukommen, konnte sich aber nicht losreißen von der Menge, konnte diesen demütigen Augen nicht entfliehen.
Wieder war Sonntagseinsatz gewesen. Wieder hatten am Bremsberg Tausende von Arbeitern wie die Ameisen gewimmelt und Hämmer, Hacken und Spaten geschwungen. Würdevoll auf seinen Stock gestützt, hatte Kleist wieder persönlich die Arbeit geleitet. Gegen Abend surrten bereits die Räder der Förderbahn. Und in der Nacht blitzten im Werk die elektrischen Sterne wieder auf.
Die Waldarbeiter verstopften die Straße vor dem Gebäude des Volkswirtschaftsrats. Zerlumpt, ungekämmt und schmutzig, als wären sie eben von der Arbeit gekommen, mit der Axt im Gürtel, drängten sie sich vor dem Portal, rollten die Augen und brüllten wie auf einer Massenkundgebung.
Die Eingänge zum Volkswirtschaftsrat waren verschlossen, und die Menge drückte gegen Tür und Pfeiler.
„Her mit dem Volkswirtschaftsrat! Her mit der Forstverwaltung, an den Galgen damit! Her mit den Dieben und Räubern! Wo bleibt die Tscheka? Warum hat die Tscheka ihre Augen auf dem Hintern statt im Gesicht? Die Kommunisten sollen rauskommen! Wozu sitzen Kommunisten dort drin?"
Auf dem Bürgersteig hockten, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, andere Arbeiter und kauten ihr Rationsbrot. Von der mit Asphaltgeruch und glühendem Staub gesättigten Hitze benommen, schlurften sie nun an die Ecke, zum Tor des Volkswirtschaftsrates und bahnten sich einen Weg mit Ellenbogen und Schultern.
Da erschien auf den Eingangsstufen Shuk und ruderte mit den Armen. „Genossen, herhören!"
Er nahm die Mütze ab und sah mit stummer Drohung auf die Menge.
„Genossen, ich kenne dieses Hundepack sehr gut. Ich hab ihnen schon ordentlich auf den Schwanz getreten." Er stampfte auf und fletschte die Zähne. „Ich hab ihnen allen die Maske vom Gesicht gerissen und bin ihnen allen erstklassig übers Maul gefahren. Wir, die Arbeiterklasse, wir wissen, wie man sie am Schlips packen muss. Sie haben das ganze Gold in ihre Zähne gesteckt. Und der Arbeiterklasse ziehen sie das Fell über die Ohren, wollen unsereins ins Joch spannen. Führen wieder die alte Ausbeutung ein. Sabotieren, wollen uns aushungern, damit die Zarenzeit leichter wiederkommen kann."
Er verstummte und verschwand plötzlich, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. An seiner Stelle erblickte die Menge den Vorsitzenden des Exekutivkomitees, Badjin. Sein Gesicht war starr und hart.
Die ersten Worte sprach er so ruhig und leise, als säße er in seinem Arbeitszimmer, doch mit klarer und durchdringender Stimme.
„Genossen, in unserer Stadt gibt es zwanzigtausend organisierte Arbeiter. Von diesen zwanzigtausend seid ihr, dieses kleine Häuflein, wie eine Horde Jahrmarktbummler hierhergekommen und desorganisiert in schändlicher Weise die festen Reihen der revolutionären Arbeiter. Das ist eine Schmach und ein Verbrechen, Genossen! Was ist los? Was wollt ihr? Habt ihr denn keine Gewerkschaft, wo
ihr alle Fragen behandeln und auf dem schnellsten Wege lösen könnt?"
Die Menge geriet in Aufruhr und überschrie Badjins Worte: „Her mit den Räubern! Her mit den Dieben von der Forstverwaltung! Wir gehen nicht zur Arbeit. Wir sind keine Zuchthäusler."
Badjin hob die Hand. Sein Gesicht veränderte sich nicht; es blieb eisern, unbeweglich und hart. „Ich bin nicht hergekommen, um mit euch zu streiten, Genossen. Alle eure Forderungen, die ihr durch eure Vertreter, durch eure Organe vorbringen lasst, werden erfüllt. Geht diszipliniert wieder an eure Arbeitsplätze. Lasst euch gesagt sein, dass jede vertrödelte Stunde in diesen für die Republik so schweren Tagen einen Verlust an der Front der Arbeit bedeutet, einen nicht wieder wettzumachenden Verlust. Schuld daran werdet ihr allein sein. Ihr werdet den Schandfleck nie wieder abwaschen können, mit dem ihr unser Proletariat beschmutzt. Es hat viele Heldentaten vollbracht, solche Schmach kann es nicht ertragen. Ihr habt diesen erniedrigenden Schritt nicht von selbst getan. Das ist das Werk einzelner Aufwiegler. Ich kenne diese Unruhestifter. Einer von ihnen hat vor mir hier gesprochen — Shuk. Ich werde Befehl geben, ihn zu verhaften."
Badjin hatte noch nicht geendet, als Shuk, blass und völlig zerzaust, neben Badjin auftauchte, hin und her sprang und schrie: „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Genossen, das ist eine Lüge! Das lasse ich mir nicht gefallen, Genossen!"
Ein ohrenbetäubendes Brüllen unterbrach Shuks Geschrei. Die Menge schwankte, fuchtelte mit den Armen, und es hatte den Anschein, als sollte sich im nächsten Augenblick an Mauer und Tür ein wüstes Lynchgericht vollziehen.
„Schlagt sie tot! Her mit ihnen! Unser Shuk! Shuk an die Spitze! Shuk! Shuk!..."
Badjin stand noch immer auf der obersten Treppenstufe
und sah unbewegt auf die brüllende Menge. Ohne mit der Wimper zu zucken, wartete er — noch einige Sekunden, und die Leute werden ermüdet aufgeben und sich beruhigen ...
Aber es kam anders. Luchawa griff ein, rannte die Treppe hinauf, schüttelte seine schwarze Mähne und hob beschwichtigend die Hand. „Genossen, herhören! Seid still und hört zu!"
Die Menge verstummte und wich zurück. „Luchawa! Der wird denen das Fell abziehen. Leg los!"
Luchawa sprach schlicht, wie es seine Art war, und mit der üblichen Leidenschaft.
„Zum Teufel, was macht ihr hier für einen Unsinn, Genossen? Axt im Gürtel, Sack auf der Schulter — Kleider und Schuhe wachsen wohl auf den Bäumen? Dummes Zeug, Genossen! Aber die Sache ist die: In einer Stunde ziehen wir los. Sammelpunkt vor dem Gewerkschaftskomitee. Die Produkte werden auf Wagen verladen. Das Parteikomitee hat den Genossen Shuk für die Verteilung verantwortlich gemacht. Jeder bekommt einen Arbeitsanzug. Die Forstverwaltung ist mit Mann und Maus zur Hölle gefahren! In Reihen antreten! Shuk, übernimm das Kommando!"
Die Menge vor der Treppe tobte, Luchawa flog in die Luft und zappelte mit Armen und Beinen.
Als alle sich beruhigt hatten und in Reih und Glied standen, gab Luchawa mit der Hand das Zeichen. Der ganze Schwarm marschierte ab zum Kai.
Badjin und Luchawa standen vor dem Volkswirtschaftsrat und plauderten wie Busenfreunde. Aber ihre Augen funkelten einander voller Hass an.
„Ich habe seinerzeit schon eure Eselei mit der Enteignung an maßgeblicher Stelle gemeldet. Solche Dummenjungenstreiche müssen ein Ende nehmen, liebe Genossen. Wer hat euch bevollmächtigt, den Apparat der Kreisforstverwaltung ohne Anweisung des Exekutivkomitees zu zerschlagen? Darüber wird ebenfalls den Gebietsorganen berichtet
werden. Ich werde euch alle auf den Platz verweisen, wo ihr hingehört."
Luchawa kniff lächelnd die Lider zusammen und warf ihm einen stechenden Blick zu: „Bürokrat!"
Mit festem Schritt
Durch das Fenster der Werkverwaltung sah man vor dem „Komintern"-Klub Komsomolzen und Komsomolzinnen in Turnanzügen, mit nackten Armen und Beinen Gymnastikübungen machen. In luftiger Ferne aber stiegen die Schienenstränge des Bremsberges vom unsichtbaren Grund eines kraterartigen Trichters den achthundert Meter hohen Berg hinauf. Zwei Loren krochen sich entgegen, die eine auf-, die andere abwärts, fuhren aneinander vorbei und entfernten sich wieder voneinander. Von weitem sahen sie aus wie kleine Schildkröten. Sie glitten langsam und mühelos über die Schienen: fünf Minuten aufwärts, fünf Minuten abwärts. Ungefähr alle Viertelstunden begegneten sie sich. Die nach oben fuhr, war leer, die nach unten fuhr, mit Holz beladen. Man konnte erkennen, wie sich die Antriebsräder der Förderbahn drehten. Zwischen Pass und Förderbahn, auf dem abschüssigen, festgewalzten Wege quer über den Berg, fuhren Lastautos und Pferdewagen hin und her.
Gleb verbrachte ganze Tage in der Werkverwaltung. Die Spezialisten vom Volkswirtschaftsrat, die schon seit einer Ewigkeit dort saßen, waren dem komplizierten Betriebssystem noch immer nicht auf den Grund gekommen. Alle waren sie gestriegelt und blass vor lauter Sauberkeit, alle waren nach englischer Manier glattrasiert. Was sie aber wirklich an ihren Eichenschreibtischen trieben, warum sie nur mit gedämpfter Stimme und halb flüsternd sprachen — das ließ sich schwer erraten. Sie musterten Gleb (so
musterte man ihn auch im Volkswirtschaftsrat) und gaben auf seine Fragen durch Zigarettenrauch hindurch seltsame Antworten. Gleb verstand sie nicht, hörte nur klar und deutlich immer das eine Wort, das er schon seit langem hasste — „Industriebüro".
Auf seine Meldung hin beschloss die Parteizelle, von der Werkverwaltung einen ausführlichen Bericht vor versammelter Belegschaft zu verlangen. Gleb selbst studierte bis zur Erschöpfung die Lage der Dinge, nahm freiwillig die Sträflingsarbeit auf sich, all die Zahlen, Anweisungen und Pläne zu enträtseln. In den ersten Tagen verlor er fast den Verstand dabei, und die ganze Arbeit war vergebens — er fand sich einfach nicht zurecht in diesem Wust von Zahlen und Tabellen. Die glattrasierten Spezialisten gaben ihm auf seine Fragen höflich Auskunft und verbargen Spott und Verachtung geschickt hinter halbgeschlossenen Lidern. Vor diesen glattrasierten Spezialisten gab Gleb sich ebenfalls höflich, sprach selbst mit gedämpfter Stimme und halb flüsternd und stellte alberne Fragen, die sie mit einem Lächeln quittierten; er stellte aber auch andere Fragen, über die er nächtelang gegrübelt hatte, und dann wurden die Spezialisten nervös, gerieten in Verlegenheit und antworteten nur das eine: „Industriebüro. Hauptverwaltung Zement. Rat für Arbeit und Landesverteidigung."
Gleb beobachtete durch das Fenster die Arbeit des Bremsberges, studierte Betriebsfragen, über die eigentlich nur die Spezialisten Bescheid wissen konnten, und rechnete aus, wie viel Holz bis Neujahr herbeigeschafft sein werde.
Jede halbe Stunde 2,5 Kubikmeter macht bei zwei Schichten täglich 60 Kubikmeter. Macht im Monat 1500 und bis Jahresende 12 000. Viel zuwenig: das behebt die Krise nicht. Der Bremsberg muss auch im Winter arbeiten.
Das Holz wurde vom Grunde des Trichters mit einem anderen Bremsberg weiter befördert. Von den Bergen ins Werk und vom Werk in die Berge krochen die eisernen Loren eine hinter der anderen, in der einen Richtung mit
Holz beladen, in der anderen leer. Am unteren Ende der elektrischen Förderbahn wurden sie vom Drahtseil abgehakt und auf die Plattform des Gitterturms gerollt; von dort aus sausten sie dann im Förderkorb in die Unterwelt. Auf der Schachtsohle wurden sie wieder an Seile gehängt und verschwanden in der Dunkelheit, von wo ihnen leere Loren entgegenkrochen.
Wenn Gleb durch die Förderbahnanlage schritt, erregte ihn das elektrische Surren der Räder, die ganze frische Arbeitsatmosphäre. Er warf Akten und Tabellen auf den Boden und stürzte sich in den Arbeitsstrudel. Die Gesichter der Arbeiter hatten sich sichtlich verändert: keine typhöse Röte mehr, sondern Schweiß und gesunde Bräune.
Nachts wartete er nicht mehr auf Dascha wie früher; er ließ die Tür unverschlossen und legte sich beizeiten schlafen. Er wusste gar nicht, wann sie nach Hause kam. Erwachte er manchmal für einen Augenblick, so sah er sie am Tisch sitzen: sie hatte den Kopf aufgestützt und las mit Ausdauer und großer Aufmerksamkeit. In der Frühe, wenn er zur Arbeit ging, begleitete ihn ihr junges, freundliches Lächeln bis zur Tür.
Unruhe
Er musste einmal selbst nachsehen, was das Industriebüro — dieser kugelsichere Schild des Volkswirtschaftsrates und der Werkverwaltung — eigentlich darstellte. Dieser schwere Brocken lag ihm im Wege, alle seine Anfragen prallten daran ab und blieben ohne Antwort. Gleb beschloss, unverzüglich hinzufahren und diese Institution unter die Lupe zu nehmen. Scheiterte auch das, führte man ihn auch dort an der Nase herum, dann würde er — das hatte er sich geschworen — nach Moskau fahren und zu Lenin gehen, zum Obersten Volkswirtschaftsrat und zum Rat für Arbeit
und Verteidigung. Dort würde er die ganze Geschichte aufdecken; würde Lärm schlagen und alles auf die Beine bringen, bis er sein Ziel erreicht hätte. Das Werk musste in Betrieb gesetzt werden — koste es, was es wolle.
Die Werkverwaltung versumpfte in Misswirtschaft, Untätigkeit und hartnäckiger Schädlingsarbeit. Die Sabotage, die im Volkswirtschaftsrat immer mehr um sich griff, bestand in Sitzungsfimmel und Papierkrieg. Die einfachsten Fragen wurden zu einem unentwirrbaren Knäuel verfilzt. Schramm hielt langatmige, streng logisch fundierte Vorträge, die Genossen aber und die Funktionäre in untergeordneten Wirtschaftsorganen kritisierten ihn in Grund und Boden und nannten seine Dienststelle mit bitterer Ironie „Volkswirtschaftssarg". Gleb war es klar, dass im Volkswirtschaftsrat unsichtbare Feinde am Werk waren. Die zweistöckige Villa wimmelte täglich von verdächtigen Subjekten, die zu einer Tür hinein- und zur anderen heraushuschten, und auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude defilierten Tag für Tag von zehn bis vier Uhr ungewöhnlich redselige Leute, die früher die Kaffeehäuser und die Börse bevölkert hatten. Still war es in der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen und in der Abteilung Volksbildung, während wiederum in den Abteilungen für Landwirtschaft, Kommunalwirtschaft und Außenhandel reger Betrieb herrschte.
Vor seiner Abreise ging Gleb oft ins Exekutivkomitee, in den Volkswirtschaftsrat und ins Parteikomitee — er sammelte Unterlagen, Informationen, Pläne und Anordnungen. Badjin gab ihm einen Brief an einen Freund mit, der dem Büro des Gebietskomitees angehörte, Shidki an einen Freund in der Gebietskontrollkommission.
Eines Tages schlenderte Gleb die Straße hinunter zum Kai, wo ein werkseigenes Motorboot auf ihn wartete. Er ließ sich Zeit, er wollte sich etwas verschnaufen nach all der Hetzerei durch die Dienststellen. Unterwegs staunte er: die Straße war nicht wieder zu erkennen. Früher hatten
die Läden mit den Scheiben doch leer gestanden oder allen möglichen Institutionen als Lagerräume gedient, und die Fenster waren verstaubt und verschmutzt gewesen. Jetzt, gewiss, es gab auch noch Lagerräume, dazwischen aber —
IN KÜRZE WIRD EIN DELIKATESSENGESCHÄFT ... CAFE MIT STÄNDIGER KAPELLE ... HANDELSGENOSSENSCHAFT ...
GENOSSEN, STÄRKT DAS BÜNDNIS ZWISCHEN STADT UND LAND!
IN KÜRZE ...
WER NICHT ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
In dieser Losung, die mit ellenlangen Buchstaben an die Wand des Stadthauses gemalt war, hatte eine mutwillige Hand das erste NICHT verschmiert; die Vorübergehenden konnten sich an dieser neuen Wortkombination nicht satt sehen und lachten.
WER ... ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
Gleb blieb betroffen stehen. Ja, die Neue Ökonomische Politik — Märkte, Naturalsteuer, Genossenschaften.
Cafe mit ständiger Kapelle. Und das halbe Pfund Brotration? Und die Sonderzuteilung der Gewerkschaft — dreiviertel Meter Stoff pro Person, Schnurrbartbinden und Damenstrumpfhalter? Warum konnten sich die Auslagen so rasch füllen? Und warum war es einem so schwer ums Herz?
Vor dem Fenster eines Kaffeehauses auf der anderen Straßenseite entdeckte er Polja. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, sah zum Fenster hinein und konnte sich nicht losreißen. Ein Mann in neuer Uniform und mit Aktentasche (wer trug jetzt keine Aktentasche!) lief eilig hinter ihr vorbei, rempelte sie mit der Schulter an und stieß sie vom Fenster fort. Sie bemerkte das gar nicht und trat an ihren alten Platz.
Gleb überquerte den Fahrdamm und stellte sich neben
sie. Sie bemerkte auch ihn nicht. Dort, in der verqualmten dämmrigen Tiefe, saßen an kleinen Tischen paarweise und in Gruppen aus der Vergangenheit auferstandene Schatten. Durch das Fenster drangen geisterhaft-ferne Geigenklänge.
Hinter ihrem Rücken, auf dem Bürgersteig, wurden Stimmen laut.
„... feste Währung ... nur in fester Währung..." „Ganz frische ausländische Ware, soeben eingetroffen... franko ... Feluken ... Prozent Reingewinn ..." „In Kommission nehmen — so verdient man am besten." „Es wird ein Posten Tabak angeboten, aus Suchum." „Am vorteilhaftesten manipuliert man mit Mehl. Sie verstehen doch — Hunger..."
Gleb sah sich um und erblickte den Rechtsanwalt Tschirski und zwei Subjekte in Panamahüten: der eine war ein seinerzeit an der ganzen Küste bekannter Weingroßhändler, der andere ein ehemaliger Zigarettenfabrikant.
Verflucht! Im Werk riecht es noch nach Oktober, der Kopf ist noch benommen vom Bürgerkrieg. Sobald man aber in die Stadt kommt, scheint alles sich ganz merkwürdig zu verschieben und die Welt ein anderes Gesicht anzunehmen...
Gleb zog scherzend Polja die Aktentasche unterm Arm weg. Sie zuckte zusammen und erwachte. Erschrocken blickte sie zu ihm auf, und in ihren Augen sah Gleb einen unterdrückten Schrei.
„Sag mir bloß, Gleb ... verstehst du das alles? Ich laufe hier auf der Straße rum und gucke mir wie dumm die Fenster an. Was ist nur mit mir los? Ich gucke und gucke, bis mir der Kopf schmerzt, bis mir die Zähne knirschen, und ich verstehe nichts, nichts verstehe ich, Gleb."
„Geh in deinen Frauenausschuss. Überlass das Gucken den Dummköpfen und den Lumpen."
Er nahm ihren Arm und führte sie die Straße entlang, sie aber schaute verstört nach allen Seiten, sah in Türen
und Fenster der Geschäfte, und ihr Blick flatterte unsicher wie Tropfen im Winde.
„Ich geh heute nicht in den Frauenausschuss. Dascha ist dort. Deine Frau ist ein seltener Mensch. Sie bringt es noch weit, du wirst sehen. Freilich, was kann man schon über andere sagen, wenn man sich selbst nicht mal kennt. Gestern war ich so, heute bin ich anders."
„Schäm dich, Genossin Vorsitzende des Frauenausschusses, wie kann man nur so in Panik geraten. Kämpfen muss man, nicht weinen und sich rumdrücken."
Er sprach barsch, presste aber zärtlich und bewegt ihren Arm.
„Was geht in mir vor, Gleb? Vielleicht bist nur du imstande, dich in diesem Durcheinander zurechtzufinden? Ich bin wie betäubt. Ich fühle, wie der Boden unter mir schwankt. Dabei bin ich an der Front gewesen, habe wirkliches Grauen erlebt. Zweimal habe ich gedacht, es sei mit mir aus, und habe alle Todesängste ausgestanden. Ich habe an den Moskauer Kämpfen teilgenommen. Aber wie jetzt war mir noch nie zumute. Als ob mich jemand verhöhnt und ich mich schäme, weil ich mich nicht verteidigen kann. Muss das so sein? Ist das unvermeidlich? Ist dies das notwendige Ergebnis unserer Leiden und Opfer? Ist es wirklich so, Gleb? Vielleicht hast auch du den Kopf verloren? Sag es mir aufrichtig, Gleb: Tust du nicht nur aus alter Gewohnheit so zuversichtlich?"
Sie langten beim Haus der Sowjets an, und Polja blieb stehen, machte sich jedoch von Gleb nicht los. Es war ihr anzumerken, dass es ihr schwer wurde, allein zu bleiben oder unter fremde Menschen zu gehen. Gleb war erregt. Was erregte ihn nun mehr: Poljas aufwühlende Worte oder dass sie ihn anzog, diese Frau, die erst durch Dascha zu ihm gekommen war?
Das Werk in Konzession geben. Gleb ist damals vor diesem neuen, Unheil verkündenden Wort zurückgeschreckt. Niemand hat gewusst, wer dieses Wort in den Wind geworfen hatte, und er hat damals nicht klug daraus werden können. Es ist ein vages Gerücht gewesen, das sich aber bald wieder in Nebel aufgelöst hat. Nun aber liegen die Dinge anders: die schreienden Auslagen in den Straßen, das geschäftige Hin und Her der Schieber und Krämer — das sind schon drohende Anzeichen. Kein Rauch ohne Feuer! Das Gerücht von der Konzession hat unweigerlich entstehen müssen. Zweifellos wird im Volkswirtschaftsrat schon einer Aktiengesellschaft, mit den früheren Eigentümern als Teilhabern, der Boden bereitet.
Polja... Da stand sie neben ihm, ganz nahe, aus ihren Worten hatte so viel herzliche Freundschaft geklungen, und sie brauchte jetzt so notwendig seine Kraft. Er fühlte, wie verwirrt sie war, vermochte es aber nicht, zart und behutsam auf sie einzugehen. Er hätte ihr doch so gern ein liebes Wort sagen, ihr gleichsam einen Mantel umlegen wollen, um sie vor Kälte zu schützen. „Ich gehe nicht in den Frauenausschuss, Gleb. Komm lieber mit zu mir hinauf und bleib ein wenig bei mir. Wenn du da bist, werde ich mich besser fühlen. Du kannst bald wieder gehen — nur dass ich jetzt nicht allein bin. Vielleicht sagst du mir auch ein nüchternes Wort, und ich sehe dann alles mit anderen Augen." Sie schob ihn sanft zu der spiegelnden Glastür des Haupteinganges.
Den ganzen Weg zu ihrem Zimmer — auf der Marmortreppe, im engen Korridor — ließ sie seinen Arm nicht los und wiederholte: „Es muss wohl so sein, ja? Muss so sein?" Ihr Zimmerchen war hell und fast leer. An der Wand ein Eisenbett; auf dem Bett eine graue Decke und ein weißes Kissen. Über dem Bett Lenin. Vor dem Fenster ein Tischchen, darauf ein Wust Bücher und Papiere.
Wenn Gleb zufällig in dieses Zimmer gekommen wäre, ohne zu wissen, dass Polja hier wohnte — er hätte es an dem Duft erraten.
Sie warf die Aktentasche auf den Tisch, setzte sich aber nicht, sondern lehnte sich neben dem Tisch an die Wand.
Gleb ging im Zimmer auf und ab und blieb vor der Tür in der linken Wand stehen.
„Wer wohnt dort?"
„Das ist Sergejs Zimmer."
Er schlug mit der Faust an die Tür. Das Echo erstarb in der Leere dahinter. Er ging zur Tür in der rechten Wand.
„Und hier?"
„Vor dieser Tür habe ich Angst. Dort wohnt Badjin. Ich mag ihn nicht, er hat so etwas Schweres an sich, und ich habe immer das Gefühl: Jetzt geht die Tür auf — und es geschieht etwas, vielleicht etwas Grässliches."
„Er ist ein Schürzenjäger, dieser Badjin."
„Warum? Wie kommst du darauf?" Polja lachte, ihr Blick jedoch kehrte sich nach innen, als lausche sie dem Schmerz in ihrem Herzen.
„Er ist ein Schürzenjäger. Ich werde bei Gelegenheit noch mit ihm zu tun kriegen."
„Was bist du noch für ein Sklave, Gleb! Wir müssten doch endlich einmal auch in uns Revolution machen. In uns selber einen unerbittlichen Bürgerkrieg führen. Es gibt nichts Festeres und Zäheres als unsere Gewohnheiten, Gefühle und Vorurteile. In dir rumort die Eifersucht — ich weiß es ... Das ist schlimmer als Despotismus. Das ist eine Art der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, das ist Menschenfresserei. Ich sage dir eins, Gleb: Bei Dascha erreichst du damit nichts — das gibt eine Niederlage."
„Die habe ich sowieso schon eingesteckt."
„Na also. Recht geschieht dir. Hast es nicht besser verdient."
„Sicherlich. Die Liebe hat stets einen Haken. Man muss diese Nuss mit Verstand aufknacken. Ich kann mich damit nicht abfinden. Hier drinnen sitzt es wie ein Geschwür. Es will nicht klappen mit Dascha und mir. Sie zieht an ihrem Strang und ich an meinem. Ich kann nicht vergessen, was
mit ihr gewesen ist. Ich sehe sie an, und ich fühle — es geht über meine Kräfte, sie so hinzunehmen, wie sie ist. Sie hat etwas, das nur ihr allein gehört, und das macht mich zum Tier. Manchmal denke ich an sie — und es überkommt mich eine solche Wut, dass ich sie zum Krüppel schlagen möchte. Eifersucht — ja! Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Und sie fühlt das, und so liegt gewissermaßen ein blankes Messer zwischen uns. Einmal muss diese verfluchte Nuss geknackt werden."
Polja blickte wieder nervös und zerstreut um sich. Sie grub die Hände in ihre Locken und verzog das Gesicht, als habe sie Kopfschmerzen.
„Ja, Gleb, eine harte Nuss. Aber man muss sie knacken ... Der Kern drin — glaube ich — ist bitter. Hol ihn der Teufel. Man muss eben ... Wir haben uns mit Blut vergiftet, aber im Blut fanden wir auch das Gegengift. Doch wo ist das Gegengift gegen den Alltag, der aus der verfluchten Vergangenheit herüberkommt? Das ist das Schreckliche. Mit sich selber kämpfen ist immer am schwersten, denn im Alltag ist die Seele immer zur Einsamkeit verdammt."
Sie stand vor Gleb so schlicht und offen, so verloren in ihrer Verwirrung, so vertrauensvoll und nahe, dass er glaubte, er kenne sie bereits seit langem, sie sei immer schon so gewesen — so ruhelos und rebellisch. Er brauche sie nur zu umfassen, sie in die Arme zu nehmen, und sie werde sich wie ein Kind an ihn anschmiegen und ihm ganz vertrauen und unter seinen Liebkosungen sich beruhigen und wieder lachen können wie früher.
In stiller Zärtlichkeit zog er sie an sich und streichelte mit der Wange ihre Locken. Sie erschrak zuerst und duckte sich in seinen Armen. Dann legte sie bebend die Arme um seinen Hals und sah ihn durch Tränen an.
„Gleb! Lieber! Wenn du wüsstest, wie schwer mir ums Herz ist! Versteh mich, Gleb, und verachte mich nicht. Du bist mir der nächste Mensch, und ich hab dich sehr lieb. Lass mich dich fühlen, Lieber, ganz."
Er schwieg und presste seine Wange in ihre Locken. Als er sie vor dem Bett auf die Arme nahm, trommelte jemand an die Tür. „Genossin Mechowa, darf ich?"
Und die Tür quietschte. Es war Dascha. Ihr rotes Kopftuch loderte, und ihr Gesicht war wie immer — klar, mit unbefangenen Augen und jungem, zähneblitzendem Lächeln.
„Donnerwetter! Auch du hier, Gleb? Bist du aber ein unsteter Geist!"
Sie lachte fröhlich. „Na schön. Ich bleibe ein paar Minuten."
Lediglich im ersten Moment war Schreck in ihren Augen aufgezuckt und noch etwas, das wie ein Schleier hinter den Wimpern vorüberhuschte. Vielleicht war es Gleb auch nur so vorgekommen, weil er selbst erschrocken war und sich nicht gleich fassen konnte.
Polja trat zu ihr und legte den Arm um sie. „Bist du eifersüchtig, Dascha? Dein Gleb ist ein großes Kind. Ein prächtiger Kerl zwar, aber über alle Maßen dumm... Man weiß nie bei ihm, wo der Wilde aufhört und der Mann mit Vernunft anfängt."
Gleb stellte sich zwischen die Frauen und legte jeder eine Hand auf die Schulter.
„Hol's der Teufel! Diese Nuss muss geknackt werden. Und wenn ich mir die Zähne dabei ausbeiße. Für Dascha ist die härteste Nuss, was ein Floh für den Hundezahn ist, alles ist ihr ein Kinderspiel."
Dascha schmunzelte und ging zum Tisch. „Auch ich habe verschiedene Nüsse knacken müssen und mir manchen Zahn dabei ausgebissen." Sie begann eifrig in ihrer Aktentasche zu kramen. „Ich komme vom Bezirkskomitee, Genossin Mechowa. Die Frauenkonferenz steht doch vor der Tür. Hast du auch nicht vergessen? Heute um fünf Uhr ist Sitzung im Gewerkschaftskomitee. Du musst berichten."
„Ich weiß, Dascha. Aber besser wäre es, du würdest den Bericht geben, ich bin heute ganz durcheinander."
„In Ordnung, Genossin Mechowa, mache ich." Sie sah Polja forschend an und sagte mit milder Strenge: „Nicht doch, Polja. Nicht weich werden! Weinen ist nicht schwer. Du musst lernen, das Herz an die Kandare zu nehmen und scharfe Augen zu behalten."
Spöttisch musterte sie Gleb. „Du kannst deine Unterhaltung mit Polja fortsetzen, mein Guter. Ich gehe."
Polja sah zum Fenster hinaus und lachte krankhaft. „Nein, danke. Löst eure Probleme nur selbst, ich verschwinde. Keine Zeit." Und Gleb ging, rot vor Verlegenheit. Auf dem Korridor traf er Tschibis. Der reichte ihm wie gewöhnlich weder die Hand, noch begrüßte er ihn. Er hatte einen elastischen, wenn auch etwas harten Gang und sah Gleb wie einen Fremden an.
„Also, hör mal zu. Die Forstverwaltung hatte sich, wie du weißt, in ein gemütliches Loch verkrochen. Dort hatte sie sich gleich mit Staub bedeckt. Wolkenweise ist er in allen Abteilungen aufgewirbelt, die nun einem Irrenhaus gleichen. Shuk hat sich als kein übler Dummkopf erwiesen. Ich habe heute nicht geschlafen. Nachts schlafe ich nie, nur morgens und nachmittags. Ich werde mich jetzt für eine halbe Stunde hinlegen. Ach, dieser Einarmige, weißt du, ist ein prachtvolles Menschenexemplar. Es ist ein wahres Vergnügen, sich mit ihm nächtelang zu unterhalten. Die Bourgeoisie hat es verstanden, ihrer Jugend eine hohe Kultur zu vermitteln. Wir müssen noch sehr viel und sehr vieles lernen. Wer sich die Kultur aneignen will, muss sie auch zu nutzen wissen, und das ist nicht so einfach, mein Lieber."
„Ich habe mich schon gewundert, dass Shuk seit ein paar Tagen nicht mehr durch die Gegend läuft und Brandreden hält."
„Er ist gar kein schlechter Spürhund. Er muss nur in festen Händen sein. Von den zwei Dutzend werden wir gut die Hälfte erschießen. Ich übergebe die Sache dem Revolutionstribunal. Aber wegen unserer Enteignungstour damals werden wir doch noch eins aufs Dach kriegen. Unbesonnenheit. Und das während des Parteitages. Wo Unbesonnenheit herrscht, da gedeihen auch Intrigen. Was glaubst du, wer frisst wen?"
„Ich glaube, dass Badjin mit bloßen Händen nicht zu packen sein wird. Er ist ein guter Arbeiter, aber ein Bürokrat und ... ein Schürzenjäger."
„Tja. Was ist der Alltag? Nur Zank und Intrige! Intrige aber ist der Heroismus des Spießbürgers. Meine schönste Zeit ist die Nacht. Komm zu mir, wir werden die Zeit sehr unterhaltsam verbringen. Nachts sieht man mehr als am Tage."
„Genosse Tschibis, ich habe gehört, dass auch Lenin nachts nicht schläft."
„Ich weiß nicht."
„Nun sag mal, Genosse Tschibis, wie ist das möglich, was draußen vorgeht... Cafes mit ständiger Kapelle? Stinkt's wieder vom Hinterhof?"
„Das macht dir angst? Fahr zurück zur Armee, lass dich noch ein bisschen schleifen und lerne das politische Abc. Mich beunruhigt das absolut nicht. Ob Sonnenschein, ob Blut — alles muss man sehen können, ohne mit der Wimper zu zucken. Man darf nicht fürchten, die Sonne mache blind und Blut vergifte die Seele."
Er zog die Wimpern hoch und lächelte spöttisch. Gleb bemerkte die kindliche Klarheit seiner Augen und den strahlenden Lichtfleck, der voll ewiger Unrast darin zuckte. Tschibis ging weiter, den Korridor hinunter, und ließ schwer die rechte Schulter hängen — Gleb begriff zum ersten Mal, dass der Mann zu Tode erschöpft war, dass er in seiner Übermüdung das Schlafen längst verlernt hatte und keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht kannte.
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