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Fjodor Gladkow - Zement (1925)
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XI. Die Bourgeoisie wird geschröpft

In neue Hände

Gleb ging bis zum Morgengrauen in der Stadt umher und kontrollierte persönlich die Arbeit des Trupps. Auf den Straßen standen mit dem Gewehr über der Schulter stumme, wachsame Arbeiter. Hin und wieder gingen Patrouillen vorbei. Der Himmel war mit Sternen besät, und sie zitterten wie Tautropfen.
Auch Shuk stand auf Wache. Er war nicht mehr der untätige Zuhörer, nicht mehr der Schreihals und Quengler — er war ein disziplinierter Soldat. Als Gleb zu ihm trat, hielt er sein Gewehr fest in der Hand. Durch die offene Tür einer Villa drangen hysterische Frauenschreie.
„Wer arbeitet hier, Shuk?"
„Deine Frau zusammen mit Sawtschuk, dem Genossen Iwagin und zwei Tschekaleuten. Geh rein, sieh dir an, wie die Bourgeoisie hochgenommen wird. Eine Stoßarbeit!"
„Wie steht's eigentlich mit deinen Erfolgen im Volkswirtschaftsrat, Shuk?"
„Oho, Freundchen! Besuch doch mal Tschibis. Ich würde sie alle lieber heute als morgen an die Wand stellen. Alle durch die Bank Hundesöhne und Schinderknechte! Und diesen Schramm kriege ich auch noch klein — oder ich will nicht Shuk heißen."
Die Diele war fast ganz aus Glas, im aufdämmernden Frühlicht stand ein bewaffneter Rotarmist, und durch die offene Tür sah man, wie sich eine zerzauste Frau auf dem Sofa krümmte und schluchzend die Hände rang.
Gleb ging nach Soldatenart mit festem Schritt hinein. Mit prüfendem Blick überflog er Wände, Dinge und Menschen im Raum: Hatte sich auch keiner zu Grobheiten gegen die Hausbewohner hinreißen lassen? Hatten die Jungs auch nichts Wichtiges in diesem verdächtigen reichen Hause übersehen? „Nun, Genossen, keine Ausschreitungen vorgefallen? Verfahrt so, dass die Herrschaften sich über euer Benehmen nicht beklagen können."
Entsetzt starrte die Frau im Morgenrock die Männer mit den Gewehren und die Leute an, die Kommoden, Schränke und Truhen aufrissen. Ein langbeiniges kleines Mädchen schmiegte sich an die Knie der Mutter und betrachtete neugierig die fremden Onkel, die da so plötzlich und so geräuschvoll aus der Nacht hereingeschneit waren.
Ein Mann in Pantoffeln und mit Hosenträgern, einen goldenen Zwicker auf der Nase, mit langem gekräuseltem Bart, stand verloren, doch mit der Würde des Einsamen vor dem großen Schreibtisch und zuckte krampfhaft lächelnd die Schultern.
Dascha suchte mit den geschickten Händen einer Hausfrau die brauchbaren Sachen heraus und legte sie auf ausgebreitete Laken und in Reisekörbe.
„Für die Kinderheime, für die Kleinen, für die Mütterheime. Sieh doch, Gleb, wie viel Stoff! Hundert Kinder kann man damit einkleiden."
Sawtschuk räumte Schränke und Kommoden aus und brummte: „Was die alles zusammengescharrt haben, die Heidenhunde! Unsere Kerls haben Feuerzeuge gebastelt und sich an Säcken wund gebuckelt, und andere Leute sind in solchen Gemächern hier fett geworden wie die Truthähne. Oho, das ist aber ein Ding — keine Balalaika, ein wahrer Lastkahn ist das!" Er rückte aus unerfindlichem Grunde den Flügel beiseite.
Sergej stand mit seinem Gewehr dabei und wusste nicht, was er machen sollte. Er hatte als junger Mann in diesem Hause verkehrt. Sein Vater war früher mit Rechtsanwalt
Tschirski, dem Sozialisten, dem Mitglied der Reichsduma, befreundet gewesen.
Sergej sah ihn nicht an: er hatte Angst, Tschirski könne plötzlich auf ihn zutreten und ihn wie einen guten Bekannten ansprechen. Sergej tat, als erkenne er ihn nicht, biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte, und bemühte sich, hart zu sein — wie die anderen Genossen. Doch er spürte, wie ihm die Beine im Vorgefühl eines unvermeidlichen Skandals zitterten.
Aber was ihm als etwas so Schreckliches und nicht Wiedergutzumachendes vorkam, geschah dann ganz einfach und unauffällig: Tschirski fixierte ihn und verzog den Mund zu einem angewiderten Lächeln.
„Sergej Iwanowitsch, in meiner und in Ihrer Sprache hat man so etwas früher Raub genannt. Von hier aus werden Sie wahrscheinlich zu Ihrem Vater Iwan Arsenjitsch gehen, um dort eine ähnliche Operation vorzunehmen. Aber bei Ihrem alten Herrn werden Sie wohl ein wenig mehr übriglassen als hier. Uns reißen Sie ja die letzten Unterhosen vom Leibe. Wie wär's, wenn Sie aus alter Freundschaft auch bei mir etwas Nachsicht übten?"
Die Frau streckte die Arme nach ihm aus, und über ihre schlaffen Wangen krochen funkelnde Tränen.
„Sergej Iwanowitsch, Teuerster! Sie waren doch einmal unser Freund. Was tun Sie? Sind Sie das wirklich, Sergej Iwanowitsch?"
Bemüht, ungerührt und streng zu erscheinen, presste Sergej das Gewehr in den Händen, bis die Gelenke knackten; er blickte an Tschirski vorbei, und die eigenen Worte dröhnten ihm im Schädel, als er schroff entgegnete: „Ja, meinen Vater erwartet das gleiche Los. Er wird wie Sie ausquartiert und darf nie mehr in sein Haus zurück."
Als er diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm plötzlich leicht ums Herz, und der Mann, der da am Schreibtisch stand, erschien ihm lächerlich in seinem überlebten Hochmut und seiner Wichtigtuerei.
„Soso. Sie haben gelernt, grausam zu sein. Gratuliere!"
Dascha hatte eine große, dicke Puppe mit Eulenaugen und gelber Wolle auf dem Kopf gefunden; sie lächelte und ging auf das kleine Mädchen zu.
„Ach, was für eine wunderschöne Puppe! Sieh mal, Kleine, sie läuft zu dir, sie hat Sehnsucht nach dir gehabt. Wie artig ihr beide seid!"
Sie stellte die Puppe auf den Fußboden und führte sie wie ein Kind zu dem Mädchen. Die Kleine freute sich und nahm ihre Puppe in die Arme.
Die Frau schrie wütend: „Nina! Untersteh dich! Du siehst, sie schämen sich nicht, dir dein letztes Hemd wegzunehmen. Lass ihnen diesen Dreck!"
Das Mädchen aber drückte die Puppe fest an sich, warf sich auf das Sofa und bedeckte sie mit ihrem kleinen Körper. „Meine Puppe, meine! Ich gebe sie nicht her!"
Dascha runzelte die Brauen: „Schämen Sie sich, Madame!"
Sawtschuk schnaufte und brummte. Er wischte sich den Schweiß ab und schielte wie ein Wolf auf Menschen und Dinge.
„Solche Heidenhunde — was die sich alles zusammengeklaubt haben! Das ist 'ne schlimmere Arbeit als Fässer machen. Verflucht noch mal, da ist mir die Arbeit am Bremsberg lieber."
Dascha trat zu Gleb und berichtete sachlich: „Alles wird registriert, Gleb. Wir haben genommen, was wir brauchen. Jeder behält zwei Garnituren Wäsche und zweimal Kleidung zum Wechseln. Bilder und Bücher werde ich beschlagnahmen (die vielen Bücher - wie Ziegel auf dem Dach!). Die Bücher werden morgen von der Abteilung Volksbildung erfasst und abgestempelt."
„Gut. Alles andere bleibt an Ort und Stelle. Zwei Mann Bewachung. Macht Schluss!" „Wir sind ja schon fertig. Wir warten auf die Wagen."
Dascha ging mit dem Gesicht einer gestrengen Hausfrau.
Gleb nahm Sergej beiseite.
„Wo ist das Haus deines Alten? Ich will ihn mal besuchen."
Sergej wusste nicht, ob Gleb scherzte oder über ihn spottete. Verlegen hängte er sich das Gewehr über die Schulter. „Ich werde mitkommen, Genosse Tschumalow: es ist nicht weit."
„Nein, das geht nicht, Genosse Iwagin. Das wird zu schwer für den Alten."
Sergej drückte Gleb fest die Hand und wandte sich ab.
Noch waren die Sterne in der Dämmerung nicht verblichen, und die Häuser erschienen blau. Von den Bergen wälzte sich der Nebel in Lawinen herab, und über der Bucht braute violetter Dunst. Sperlinge schilpten bereits. Und durch die stahlgraue Dunkelheit der Berge geisterten, bald weit entfernt und bald ganz nahe, geheimnisvolle Fackeln, erloschen und flammten wieder auf.
Auf der Straße oben zogen in gleichmäßigem Schritt, in Marschordnung, mit aufgepflanztem Bajonett, dichte Reihen Rotarmisten. Es waren wohl viele Kolonnen: ein unbestimmbares dumpfes Brausen lag über allem — über der Stadt wie zwischen den Häuserreihen—, und auf dem Steinpflaster rasselten Wagen mit kristallenem Klirren. Die Rote Armee! Märsche! Kampfesmühe!
Wie nahe lag das noch! Geliebte Kolonnen! Glebs Helm war noch warm von Feuer und Märschen. Bajonette klirrten im Takt. Warum stand er, der Regimentskommissar, hier, wenn doch sein Platz in den Reihen dort war?
Mit großen Schritten, keuchend vor Aufregung, hastete er den bajonettblitzenden Reihen nach, um noch einmal mit diesem fließenden, wohlgeordneten Strom in Berührung zu kommen und ihm den Gruß eines roten Soldaten zu entbieten. Doch der Strom riss ab und versiegte hinter der nächsten Ecke; nur zwei Rotarmisten liefen gewehrschwenkend nacheinander an Gleb vorbei, um ihre Kameraden einzuholen.

Der Mensch auf der Weide

Als Gleb durch die offene Gartenpforte trat, bot sich ihm ein Bild, wie er es noch in keinem anderen Haus gesehen hatte. Die Mechowa stand lächelnd vor einem Haufen Kleider und Lumpen. Gromada und Loschak liefen umschichtig ins Haus und kamen mit Sachen und Büchern beladen wieder heraus. Am offenen Fenster stand ein fröhlicher Alter und redete ihnen lebhaft zu.
„Alles, alles! Ich bitte euch sehr, Freunde! All dieses Gerümpel rafft der Mensch doch nur zusammen, um einem Punkt im Leben zuzustreben. Dieses Zusammenraffen hält denn auch an bis zu dem Moment, da der Tod eintritt, das heißt jener Zustand, der alle drei Dimensionen negiert. Dies eben ist das Ideal, das mit der absoluten Norm, der Null, ausgedrückt wird. Nicht wahr, meine Freunde, das ist doch sehr interessant, sehr unterhaltsam und lustig?"
Die Mechowa starrte Gleb von weitem mit merkwürdig großen Augen an. „Sieh dir diesen komischen Kauz an, Gleb! Das ist der Vater von unserem Sergej. Ein Mensch, der mehr zu sagen hat als andere Leute. Du hättest sehen sollen, mit welcher Begeisterung er uns empfing!"
Dabei zitterte sie in der Morgenkühle und liebkoste Gleb herausfordernd mit den Augen.
An Gleb ging in soldatischer Haltung ein einarmiger Mann mit Adlernase und unverhältnismäßig kurzer Oberlippe vorbei. Ohne anzuhalten, musterte er ihn und ging zur Pforte. „Bürger, kommen Sie zurück."
Der Einarmige drehte sich rasch um. „Wer sind Sie?"
Der Einarmige stand sprungbereit vor Gleb. „Dmitri Iwagin, ehemaliger Oberst, nunmehr aber Bürger der Sowjetrepublik. Der älteste Sohn dieses Greises und der einzige Bruder des KPR-Mitgliedes Sergej Iwagin. Wollen Sie meine Papiere sehen?"
„Behalten Sie Ihre Papiere. Ihr Zimmer wird durchsucht. Bitte, bleiben Sie hier."
„Ich habe nur einen Winkel in der väterlichen Wohnung. Dort ist schon alles leergefegt. Aber meine Taschen sind unberührt geblieben. Wollen Sie nachsehen?"
In seinen kalten Augen funkelte feiner Spott. „Sie können gehen."
Gleb sah ihm beunruhigt nach, bis er an der Pforte war; zweimal wollte er ihn zurückrufen, unterließ es aber — er wusste selbst nicht, warum.
Der Alte, dessen Bart im rechten Winkel vom Kinn abstand, trippelte behände im Zimmer umher und glühte vor Begeisterung.
„Die wahre Freiheit, meine Freunde, besteht in der absoluten Verneinung der geometrischen Figuren und ihrer dringlichen Verkörperungen. Macht und Weisheit der Kommunisten beruhen darin, dass sie die ganze Euklidische Geometrie umgeworfen haben. Ich erkenne sie an, und ich liebe sie wegen ihrer fröhlichen Revolution gegen die Starrheit aller fetischisierten Formen. Lasst nichts zurück, meine Freunde: das wäre inkonsequent und für mich grässlich. Auch nur mit einem Stückchen verfaulten Fadens an die Wände des Kubus, des Prismas und des Dreiecks gebunden sein wäre ebenso furchtbar, wie unter Bergen von Gerümpel begraben liegen."
Loschak hastete hin und her und ließ sich nicht in seiner Arbeit stören. Er glotzte den Alten an und grübelte finster. Dann trat er zu ihm und sagte gutmütig: „Geht in Ordnung, Alter! Wir treiben dich auf die Weide ... und lassen dich frei." Er lächelte trübe und tippte dem Alten unbeholfen mit dem Finger gegen die Brust. „Dort kannst du dann auch ... das alles wiederkäuen."
Der Alte lachte und fuchtelte entzückt mit den Armen.
„Ja, ja! Eure Grausamkeit, meine Freunde, ist unbewusste
Menschlichkeit. Ein Mensch auf der Weide. Was kann es
Vollkommeneres geben als diesen Zustand! Erde, Himmel,
Unendlichkeit. Ja! Ja! Aber warum, meine Freunde, ist mein Sohn Sergej nicht mit euch gekommen? Ich hätte ihn so gern in der Rolle meines feierlichen Liktors gesehen."
Gromada holte aus Schränken, Truhen und Ecken Bücher und Teppiche und schüttelte den Kopf; er hatte es über, das Geschwätz des Alten zu hören.
„Papachen, diskutirieren Sie nicht und so weiter... Schlage vor, Sie reihen sich in die Front der Arbeit ein, und durch Ihre vielen Mobilien da müssen wir uns eben durchfressen, Loschak und ich."
So war nun einmal Gromada, der kleine Mann mit dem großen Namen und den großen Worten.
Gleb trat zu dem Alten und streckte ihm die Hand hin.
„Na, Iwan Arsenjitsch, hat man Sie tüchtig gerupft? Ihr Sohn kommandiert in der gleichen Richtung."
„Gut! Sehr gut! Schade, dass Sergej nicht mitgekommen ist, schade. Ich hätte ihn gern dabei gesehen, gar zu gerne."
„Seien Sie unbesorgt, Iwan Arsenjitsch, wir nehmen Ihnen nichts weg. Sie gehören ja zu unseren Kulturschaffenden."
Der Alte sah Gleb erschrocken an und zupfte nervös an seinem Bart.
„Nein, nein! Alles, alles! Das ist sehr gut, das ist prachtvoll!"
Gromada schüttelte den Kopf und blickte mit verächtlichem Mitleid auf diesen quecksilbrigen, verzückten Weisen.
„Man wird ganz verrückt von seiner Ideologie, Genosse Tschumalow. Papachen diskutiert völlig umsonst... und so weiter..." Gleb musterte den Alten verwundert und neugierig.
„Gut, Iwan Arsenjitsch: Sie können leben, wie es Ihnen beliebt. Ich wusste gar nicht, dass Sergej einen so interessanten alten Herrn hat. Lasst alles hier, Jungs, und zieht ab." Er drückte Iwan Arsenjitsch noch einmal die Hand und ging rasch zur Tür.
Hinaus in die Vorstadt
Auf der anderen Seite der Bucht, oberhalb des Werkes, wurden die Berge graubraun, und schwarz gähnten die Schluchten. Der Himmel war im Zenit blau und hoch und über den Bergen feuerrot; ihre Zacken hoben sich als blendende Linie scharf ab. Nur in den Sätteln der Gebirgspässe ballten sich Nebel wie von Wasserfällen und wälzten sich gleich Schneelawinen über die Gipfel.
Das Werk unten an der Bucht glich einem Märchenschloss. Die schlanken Schlote strebten anmutig den herabkriechenden Dunstschwaden entgegen. Das Meer am Fuß der Berge war blau wie der Himmel, und auf seiner Oberfläche tanzten helle und dunkle Flecke.
Auf der Hauptstraße, die in der ganzen Breite mit Kopfsteinen gepflastert war, brodelte zwischen den Häuserblocks eine dichtgedrängte Menge. Frauen kreischten und weinten hysterisch. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen Männer schwieg finster oder lächelte blass und verwirrt. Frauen mit Bündeln und Schachteln, Kinder an der Hand, ganz kleine auf den Armen, standen herum oder saßen verlorenen Blicks auf ihren Habseligkeiten. Manche wanden sich in Krämpfen, und die Leute beugten sich besorgt über sie.
Tschirski stand barhäuptig, in Unterhemd, Hosenträgern und Pantoffeln in einer der ersten Reihen und betrachtete zerstreut die Häuser, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine Frau saß halb angezogen mit zerrauftem Haar auf einem Bündel und starrte vor sich hin. Das kleine Mädchen tanzte zwischen Vater und Mutter hin und her, stieß im Takt zu ihren Bewegungen kleine Schreie aus und drückte mit beiden Händen die große Puppe an sich.
Fuhrwerke, hoch mit weißen Bündeln beladen, krochen nach vorn; sie sammelten sich an der Stelle, wo die Straße anzusteigen begann, um später dann in langer Reihe hinaufzuschwanken.
Auf einer Fuhre saß ein Komsomolze mit entblößter Brust und borstigem Kopf und spielte aus Leibeskräften eine Polka auf der Gitarre. Ganz weit vorn winselte eine Harmonika.
Gewehr bei Fuß standen auf den Bürgersteigen, in Abständen von zwei Metern, die Genossen der Partei. Übermüdet von der schlaflosen Nacht und der schweren Arbeit, schauten sie finster auf die Menschen, ohne sie zu sehen. In den Nebenstraßen stampfte und lärmte ein anderer Haufen — Spießer, herbeigerannt, um sich das ungewöhnliche Schauspiel zu betrachten.
Spießerinnen sind nicht auf fremdes Lachen erpicht: Spießerinnen haben ein empfindsames Herz — es zieht sie zu Begräbnissen und Tränen, und bei einer Hochzeit lockt sie nicht der Tanz, sondern das Trauern und Weinen der Braut. So sind sie nun einmal, die Spießerinnen: fremde Tränen sind ihnen verständlicher und willkommener als Lachen.
Sie hatten denn auch hier gewittert, dass Tränen reichlich fließen würden, und waren aus ihren armseligen Häuschen und ihren Wohnungen in den verstaatlichten Häusern herbeigelaufen, um sich angesichts des Stöhnens und Jammerns angesehener, ehrbarer Familien genießerisch der Wehmut hinzugeben. Gierig schauten sie mit dunkel gewordenen Augen nach schluchzenden Frauen aus und lösten sich in Tränen auf.
Aus der Ferne kam ein Kommando. Die Begleitmannschaft schulterte die Gewehre. Die Leute fuhren erschrocken auf, ein Wogen ging durch die Menge.
Die Fuhren vorn ratterten los, und der Menschenstrom begann sich auf die Straße zu wälzen.
Sergej ging hinter Dascha, dahinter Shuk. Auf der anderen Straßenseite (sie konnten sich durch die Menge hindurch sehen) schritten der kleine Gromada, Loschak und die Mechowa.
Ein dumpfer Schmerz bohrte in Sergejs Brust. Was hier vorging, war abscheulich und roh. Das konnte die Partei nicht gutheißen. Was sollte diese Herde Menschen? Was sollte das widerliche Gewinsel? Die Partei konnte das nicht gutheißen, und für ihn jedenfalls war es eine gar zu harte Prüfung.
Da — das kleine Mädchen mit der Puppe: es klammerte sich an die Hand der Mutter und hielt selbst die Puppe an der Hand.
Mit hocherhobenem Kopf ging Tschirski, ruhig, mit der Würde des Märtyrers. Eine uralte Frau in Häubchen und Pelerine stützte sich schwer auf ihren Stock, und es sah aus, als ginge sie in einer Prozession. Ein junges Mädchen, ganz in Weiß, führte sie am Arm. Sie weinten nicht und hatten beide Gesichter wie Nonnen.
Etwas weiter vorn erblickte Sergej seinen Vater. Er ging allein, betrachtete die Menge und lächelte. Er ging auffällig; bald trippelte er eilig und überholte die anderen, bald blieb er stehen, bald wieder wandelte er ganz langsam dahin, tief in Gedanken versunken. Als er Sergej entdeckte, hob er erfreut die Hand und kam auf ihn zu.
„Du bist mein Wachmann, Serjosha, und ich bin ein Weiser, der in die Verbannung geht. Das ist doch interessant, nicht wahr? Dir geziemt es nicht, mit mir Umgang zu pflegen, solange ich dein Gefangener bin. Lass dir nur sagen, die Waffe, mit der du die Festung eurer revolutionären Diktatur beschützen sollst, ist lächerlich und albern: wie eine Rohrpfeife tanzt sie auf den Schultern eines so grimmigen Bolschewiken, wie du einer bist. Mich aber beneide: mir kommt in diesem Augenblick die Welt so unendlich vor wie nicht einmal dem Spinoza, wenngleich Marc Aurel in nächtlichen Visionen bereits ähnliches erlebt hat."
Seit Sergej ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war der Vater noch mehr heruntergekommen: der Tod der Mutter hatte ihm den letzten Schlag versetzt. In seinen Lumpen wirkte er wie ein Bettler: er war schmutzig und ungekämmt, die Füße bluteten und eiterten. Er tat Sergej bis zu Tränen leid.
„Du weißt nicht, wohin, Papa. Komm bitte zu mir, wir werden zusammen wohnen. Lass das doch, Vater. Wohin willst du denn? Du richtest dich zugrunde, verstehst du das denn nicht?"
Der Alte hob verwundert die Brauen und lachte wie ein Kind.
„O nein, Serjosha! Ich kenne den Wert meiner Freiheit zu gut. Ich bin ein Mensch, und ein Mensch hat nirgends Platz für sich, denn kein Raum kann das Menschenhirn fassen. Erleben ist immer unser bester Lehrmeister: sieh doch, wie unerträglich den Sklaven die Freiheit ist, welch Fluch für die Hühner ihre Flügel sind!"
Lautlos trat Werotschka an Sergej heran. Sie hatte sich unter den Neugierigen auf dem Bürgersteig befunden. Das gewohnte Staunen in den Augen, am ganzen Körper zitternd, stammelte sie Sergej unverständliche Worte ins Ohr, er hörte in ihrer Stimme nur die Tränen und das flehentliche Bitten.
Der Vater lachte und gestikulierte, und in seinen Augen blitzte Freude.
„Ah, ah. Werotschka! Unversiegbarer Quell der Liebe! Was fühlst du angesichts meines Golgatha, Mädchen? Na, komm, komm her!"
„Iwan Arsenjitsch! Iwan Arsenjitsch! Ich bin so froh! Sergej Iwanowitsch! Ich bin so froh!"
Sie lief leichtfüßig zu dem Alten, fasste ihn unter und ging mit tränenblankem Gesicht wie eine Tochter neben ihm her.
„Papa!"
Sergej wollte seinem Vater noch etwas sagen (was, hatte er vergessen) und streckte die Hand nach ihm aus. Sie griff jedoch ins Leere und fiel herab. Der Vater und Werotschka entfernten sich, um sich wieder unter die Menge zu mischen.
Der Alte wandte sich noch einmal um; wie ein Fremder sah er Sergej an, eine Querfurche auf der Stirn. „Schau, Serjosha, wie wenig originell die Geschichte ist: ein blinder Ödipus und seine Antigone."
Er lachte; er war schon ganz in der anderen, fernen, für Sergej unbegreiflichen Welt. Sergej schob sein Gewehr auf der Schulter zurecht und biss schmerzhaft die Zähne aufeinander. Im Innern riss eine letzte Saite.
Auf einem unbebauten Platz voll grauem Unkraut, unweit vom Kai, saß die Menge wieder auf Bündeln oder Grasbüscheln. Die Fuhren waren bereits verschwunden — sie waren zu den Lagerräumen des Exekutivkomitees gefahren.
Auch der Kai wimmelte von Menschen: die Spießerinnen, die dem Zug nachgelaufen waren.
Kein hysterisches Gekreisch, kein Schluchzen, kein lautes Stimmengewirr mehr. War denn nicht einerlei, was noch geschehen sollte? Die Kinder schrieen, sprangen umher und konnten einfach nicht anders als miteinander spielen. Es war ja so schön, durch das grüne Gras zu laufen, die Sonne im Morgendunst hinter den Bergen hervorsteigen und das blaue Meer sich bis zum Horizont golden färben zu sehen. Nur Hunger hatten sie ...
Der Hafen war nahe, aber es fehlten die Schiffe. Auf den Landungsbrücken wucherte Gras. Die Sehnsucht der erschöpften Menschen war wie ein Hoffen: Gleich mussten rauchende Schiffsessen über den glitzernden Wellen auftauchen, Winden kreischen, und es würde Leben in die Menschen kommen, geschäftig werden sie am Kai auf und ab laufen, trunken von der Atmosphäre der Abreise.
Gleb sah missmutig bald auf das Meer, bald in die Richtung, aus der Luchawas Trupp und die Fuhren mit den Arbeiterfamilien und ihren Habseligkeiten kommen mussten.
Nacht für Nacht verwandelten sich die Berge in glühende Girlanden aus zahllosen Lichtern, die wie brennende Vögel hin und her flogen. Vor wenigen Stunden erst war ein Regiment Rotarmisten in laut widerhallendem Gleichschritt durch die Straßen marschiert — in die Berge hinauf, den Unheil verkündenden feindlichen Fackeln entgegen.
Dieser Haufen Menschen war im Augenblick völlig überflüssig. Erst die schlaflose Nacht und dann dieses blöde Durcheinander. Lohnte es sich denn, Kräfte zu vergeuden, um dieser Bande wieder einmal Angst einzujagen und sie wie Abfall auf den Hinterhof zu werfen? Wozu hatte man das unnötige Kindergeschrei und diese ganze irrsinnige Panik der lebenden Leichname heraufbeschworen? Dieser Haufen stank nach Schlafzimmerschweiß, und ihre dumpfe Angst war zum Erbrechen ekelerregend. Man hätte ihre Nester auf andere Art ausheben müssen. Die Kinder hier werden die heutige Angst in die Zukunft mitnehmen, denn Angst vergessen Kinder nie.
Das Regiment hatte Glebs begeisterten Schwung mitgenommen. Und diese Nacht — dieser Hexensabbat von Unterhosen, Unterröcken und stinkender Bettwäsche — erfüllte ihn mit Wut und Bitterkeit.
Das war ja alles so nebensächlich. Es ging doch um etwas ganz anderes: Das Werk musste um jeden Preis wiederauferstehen. Schiffe mussten die Piere beleben und Tausende von Arbeitern in den Werkhallen, am Hafen und auf den Bremsbergen schaffen. Statt dessen standen Kolonnen in den Bergen und hinter den Bergen, und Rotarmisten entsicherten in Schützengräben ihre Gewehre. Auf dem flachen Land — wüste Felder, Räuberhorden, Hunger und nackte Menschen, die auf der zu Unfruchtbarkeit verdammten Schwarzerde starben.
Mit geschultertem Gewehr trat die Mechowa zu Sergej. Obwohl sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, leuchteten ihre Augen morgendlich hell.
„Wie lange schon habe ich nicht so aufregende Minuten erlebt, Sergej! Genau wie im Krieg oder in den Oktobertagen. Schön ist das, wundervoll! Na, und du? Warum bist du so griesgrämig?"
Ihre Worte, in denen freudige Erregung mitschwang, kamen von weit her: er hörte sie und hörte sie auch nicht.
Undeutlich, wie im Traum antwortete er: „Ich habe Kopfschmerzen."
„Was ist mit dir los? Wie kann man jetzt Kopfschmerzen haben, wo das Blut siedet und schäumt? Gleich morgen jagen wir dieses ganze Geschmeiß zur Zwangsarbeit. Hörst du, Sergej?" „Ich weiß nicht." „Was heißt das — du weißt nicht? Was redest du da?"
Sergej stand da, mit dem Gewehr in der Hand, und schaute fremd und verschlossen in die Menge.
Die Mechowa ließ ihn stehen und hastete stolpernd durch das Unkraut. War das alles Wirklichkeit? Hat Polja mit ihm gesprochen oder sonst wer? Vielleicht ist auch niemand dagewesen — vielleicht ist es ihm nur so vorgekommen ...
Fuhren polterten über die Chaussee. Hausrat, auf dem Hausrat Kinder und neben den Wagen Arbeiter und ihre Frauen. Luchawa mähte mit Riesenschritten das Unkraut nieder, und seine Haare flatterten vom schnellen Gehen.
Polja lief mit glühendem Gesicht zu Gleb.
Er hob den Arm. „Genossen! Antreten!"
Die Kommunisten rannten, einander überholend, zu Gleb.
„Und ihr, Bürger, nehmt eure Siebensachen! Geht in eure neuen Wohnungen! Ihr habt in Palästen gelebt — nun haust auch mal in Hütten. Dort in der Vorstadt wird man euch zeigen, wo Türen offen stehen."
Die Leute saßen entkräftet im Gras und auf ihren Bündeln und waren schlaff, blind und taub. Iwan Arsenjitsch löste sich als erster aus der Menge. Er und Werotschka schritten Seite an Seite gemächlich über das Gras, als machten sie ihren gewohnten Morgenspaziergang. Der Alte lächelte, gestikulierte und unterhielt sich angeregt und gutgelaunt mit Werotschka. Nach ihm erhoben sich noch einige Leute und machten sich mit Bündeln und Körben auf den Weg, ihnen folgten immer mehr ... Plötzlich hatten es alle sehr eilig, fortzukommen, und liefen in alle Richtungen auseinander: die Chaussee hinauf, über den Platz voller Unkraut und zurück in die Stadt.
Luchawa rannte, keuchend vor Übermüdung, auf Gleb zu und stieß wütend hervor: „Sofort mit dem ganzen Trupp zum Parteikomitee! Heute nacht verhängen wir den Ausnahmezustand. Hinter den Bergen wird gekämpft. Die vereinigten Kräfte der Weiß-Grünen. Die Stadt ist bedroht. Der Bremsberg ist zerstört. Die letzten Arbeiter sind aus dem Wald geflohen. Bei den Rotarmisten am Bremsberg hat es Verluste gegeben."
„Was redest du da, zum Teufel? Bremsberg? Der von uns?"
„Jawohl, der von euch. Beeil dich! Sammelplatz vorm Bezirkskomitee."
Gleb starrte ihn erschrocken an, wehrte einen plötzlich aufsteigenden Gedanken ab und lief zu seinem Trupp.

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