Fünfundzwanzigstes Kapitel 
   Edith Leete hatte von Anfang an, als ich auf so sonderbare Weise  ein Mitbewohner ihres väterlichen Hauses geworden, einen tiefen  Eindruck auf mich gemacht, und es war zu erwarten, dass, nachdem was  den Abend vorher geschehen war, meine Gedanken sich mehr denn je mit  ihr beschäftigen würden. Mir war schon immer die heitere Offenheit und  Klarheit aufgefallen, welche sie charakterisierte, die ich mehr bei  edlen, unschuldigen Knaben gefunden hatte als bei Mädchen. Ich hätte  gern gewusst, inwiefern diese Eigenschaft ihr eigentümlich, oder  vielleicht das Resultat der Änderungen in der sozialen Stellung der  Frauen wäre, welche seit meiner Zeit stattgefunden haben. Da ich den  selbigen Tag Dr. Leete allein traf, lenkte ich die Unterhaltung auf  diesen Punkt. 
    »Ich vermute«, sagte ich, »dass die Frauen  heutzutage, seit sie von der Bürde des Haushaltes befreit sind, sich  mit nichts beschäftigen, als mit ihrer äußeren Erscheinung.« 
    »Was uns Männer betrifft«, erwiderte Dr. Leete, »so würden wir sie  vollständig dazu berechtigt halten, sich dieser Beschäftigung  ausschließlich zu widmen, aber Sie können sicher sein, dass sie zu  stolz sind, bloße Pfründnerinnen der Gesellschaft zu sein, als Lohn  dafür, dass sie dieselbe schmücken. Sie haben in der Tat ihre Befreiung  von der Hausarbeit mit Freuden begrüßt, weil diese nicht nur überaus  ermüdend war, sondern auch eine außerordentliche Verschwendung von  Kraft im Vergleich mit dem neuen System; aber sie nahmen die Befreiung  von jener Arbeit nur an, um in anderer, sowohl wirksameren als auch  angenehmeren Weise dem allgemeinen Wohle zu dienen. Unsere Frauen sind,  wie die Männer, Glieder der industriellen Armee und verlassen dieselbe  nur, wenn Mutterpflichten es erheischen. Das Resultat ist, dass die  meisten Frauen zu einer oder der anderen Zeit ihres Lebens fünf bis  zehn Jahre industriell tätig waren, während solche, die keine Kinder  haben, den vollen Termin einhalten.« 
    »Eine Frau gibt also notwendigerweise nicht bei ihrer Verheiratung den  industriellen Dienst auf?« fragte ich. 
    »Sowenig wie ein Mann«, erwiderte der Doktor. »Warum sollte sie denn  auch? Die verheirateten Frauen haben jetzt keine Verantwortung für den  Haushalt, wie Sie wissen, und ein Ehemann ist kein Kind, für den  gesorgt werden müsste.« 
    »Wir hielten es für einen recht drückenden Umstand unserer  Zivilisation, dass wir soviel Arbeit von den Frauen forderten«, sagte  ich; »aber es scheint mir, dass Sie mehr von ihnen haben, als wir von  ihnen hatten.« 
    Dr. Leete lachte. »Gewiss, ebensoviel wie von unseren Männern. Dennoch  sind die Frauen dieses Jahrhunderts sehr glücklich, und die des  neunzehnten Jahrhunderts waren, wenn unsere Quellen richtig sind, sehr  unglücklich. Der Grund, dass die Frauen heutzutage soviel mehr zu  Mitarbeitern der Männer geeignet, und zugleich doch so glücklich sind,  liegt darin, dass wir in Betreff ihrer Arbeit als auch der der Männer  dem Grundsatze folgen, jeden mit der Art von Beschäftigung zu versehen,  für welche er oder sie am besten geeignet ist. 
    Da die Frauen den Männern an Kraft nachstehen und zu gewissen  industriellen Arbeiten unfähig sind, so wird die Art der  Beschäftigungen und die Bedingungen, unter denen sie dieselben  verrichten, diesen Umständen angepasst. Die schwerere Arbeit wird immer  den Männern zugewiesen, die leichteren Beschäftigungen den Frauen.  Unter keinen Umständen wird es einer Frau erlaubt, eine Stellung  anzunehmen, die weder bezüglich der Art noch der Schwere der Arbeit  ihrem Geschlecht angemessen ist. Überdies ist die Arbeitszeit für die  Frauen beträchtlich kürzer als die der Männer, auch werden ihnen öfters  Ferien bewilligt und überhaupt für Erholung gesorgt, wenn solche nötig  ist. Die Männer von heute sind sich wohl bewusst, dass sie der  Schönheit und Grazie der Frauen den erhöhten Genus des Lebens und den  Hauptantrieb zur Arbeit verdanken, dass sie ihnen nur zu arbeiten  erlauben, weil man annimmt, dass eine gewisse regelmäßige Tätigkeit,  die ihren Kräften angemessen, in der Zeit ihrer höchsten physischen  Kraft dem Körper und Geiste wohltätig ist. Wir glauben, dass der Grund  dafür, dass unsere Frauen sich einer besseren, Gesundheit erfreuen als  diejenigen zu Ihrer Zeit, welche kränklich gewesen sein sollen,  hauptsächlich darin liegt, dass sie sich jetzt gesund und anregend  beschäftigen.« 
    »Ich verstehe«, sagte ich, »dass die weiblichen Arbeiter zu der  industriellen Armee gehören; aber wie können sie nach demselben System  wie die Männer geschult und befördert werden, wenn die Anforderungen  der Arbeit doch so verschieden sind?« 
    »Sie sind unter ganz verschiedener Disziplin«, erwiderte Dr. Leete,  »und bilden mehr eine vereinte Kraft, als den ergänzenden Teil der  Armee von Männern. Sie haben einen weiblichen General und sind unter  ausschließlichem Frauenregiment. Dieser General, wie auch die höheren  Offiziere, wird von den Frauen gewählt, die ihre Dienstzeit schon  beschlossen haben, in derselben Weise, wie die Häupter der männlichen  Armee und der Präsident der Nation erwählt werden. Der General von der  Frauen-Armee sitzt im Kabinett des Präsidenten und hat ein Veto über  das den Frauen zuerteilte Maß von Arbeit. Als ich vom Gerichtswesen  sprach, hätte ich erwähnen sollen, dass wir auch Frauen als Richter  haben, die vom General der Frauen gewählt werden, ebenso wie die  Männer. Solche Fälle, wo beide Teile Frauen sind, werden durch  Frauenrichter entschieden, wo aber ein Mann und eine Frau die Parteien  bilden, muss ein Richter jeden Geschlechtes dem Ausspruch beistimmen.« 
    »Der Frauenstand scheint nach Ihrem System wie ein imperium in imperio          organisiert zu sein«, sagte ich. 
    »In gewisser Beziehung«, erwiderte Dr. Leete, »aber das innere  Imperium, werden Sie zugestehen, bringt der Nation nicht viel Gefahr.  Dass man die Individualität der Geschlechter nicht anerkannte, war  einer der vielen Mängel Ihrer Gesellschaft. Die zwischen Mann und Frau  bestehende geschlechtliche Anziehungskraft hat zu oft die Einsicht von  dem großen Unterschied verhindert, welcher in vielen Dingen ein  Geschlecht dem andern entfremdet und es nur mit dem eigenen  sympathisieren lässt. Indem man die Eigentümlichkeiten der Geschlechter  zur vollen Geltung kommen lässt und sie nicht zu verwischen sucht, wie  es offenbar einige Reformatoren Ihrer Zeit gewollt haben, erhöht man  die Freude am Sichausleben und den Reiz, welches jedes für das andere  hat. Zu Ihrer Zeit gab es keinen Beruf für die Frauen, wenn sie nicht  mit den Männern rivalisierten. Wir haben ihnen eine eigene Welt mit  Wetteifer, Ehrgeiz und Beruf gegeben und ich versichere Sie, sie fühlen  sich sehr glücklich darin. Nach unserer Anschauung waren die Frauen  mehr als irgend eine Klasse die Opfer Ihrer Zivilisation. Selbst nach  dieser langen Zeit füllt uns das Schauspiel ihres gelangweilten  unentwickelten Lebens, verkümmert durch Heirat, ihr physisch durch die  vier Wände ihres Heims und moralisch durch den engen Kreis persönlicher  Interessen begrenzter Horizont mit tiefem Mitleid. Ich spreche jetzt  nicht von den ärmeren Klassen, die sich zu Tode arbeiteten, sondern  auch von den Wohlhabenden und Reichen. Von den großen, sowie den  kleinen Sorgen des Lebens hatten sie keine Zuflucht in die luftige  Außenwelt, noch andere Interessen als die der Familie. Solch eine  Existenz würde die Männer wahnsinnig gemacht haben. Das ist nun heute  alles anders. Keine Frau wünscht heutzutage ein Mann zu sein, keine  Eltern ersehnen Söhne statt Töchter. Unsere Mädchen sind so ehrgeizig  in ihrem Beruf, wie unsere Knaben. Die Ehe, wenn es dazu kommt,  bedeutet für sie nicht Einkerkerung und schließt sie in keiner Weise  von den Interessen der Gesellschaft, dem geräuschvollen Leben der Welt  aus. Nur wenn Mutterpflichten den Geist der Frau mit neuen Interessen  erfüllen, zieht sie sich eine Zeitlang von der Welt zurück. Nachher  kann sie jederzeit in den Kreis ihrer Genossen zurückkehren und braucht  überhaupt nie Fühlung mit ihnen zu verlieren. Die Frauen sind  heutzutage, im Vergleich mit dem, was sie jemals in der Weltgeschichte  gewesen sind, sehr glücklich und ihre Befähigung, die Männer glücklich  zu machen, hat im Verhältnis auch zugenommen.« 
    »Ich sollte denken«, sagte ich, »dass das Interesse, welches die  Mädchen für ihren Beruf als Glieder der industriellen Armee und als  Kandidaten für Auszeichnung haben, sie vom Heiraten abhalten würde.« 
    Dr. Leete lächelte. »Haben Sie keine Angst davor, Mr. West«, erwiderte  er. »Der Schöpfer hat dafür gesorgt, dass, wie sich auch die  Beziehungen der Männer und Frauen mit der Zeit gestalten mögen, die  gegenseitige Anziehungskraft doch fortbesteht. Die bloße Tatsache, dass  in einem Zeitalter wie dem Ihren auch geheiratet wurde, als der Kampf  um die Existenz den Menschen wenig Zeit für andere Gedanken gelassen  haben muss, und die Zukunft so ungewiss war, dass, elterliche  Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, oft wie ein strafbares Wagnis  erschien, sollte über diese Frage entscheidend sein. Einer unserer  Schriftsteller sagt bezüglich der Liebe, dass im Leben der Männer und  Frauen durch ihre Befreiung von Nahrungssorgen eine Leere entstanden  sei, welche durch zarte Gefühle ausgefüllt werde. Das ist aber etwas  übertrieben. Übrigens beeinträchtigt die Ehe den Beruf der Frau so  wenig, dass die höheren Stellen in der weiblichen Industriearmee nur  solchen gegeben werden, die verheiratet und Mütter sind, da sie allein  ihr Geschlecht vollständig vertreten.« 
    »Werden den Frauen ebenso wie den Männern Kreditkarten ausgestellt?« 
    »Gewiss.« 
    »Der Kredit der Frauen umfasst vermutlich einen geringeren Betrag, da  sie wegen Familienpflichten ihre Arbeit oft unterbrechen müssen.« 
    »Einen geringeren?« rief Dr. Leete, »o nein! Der Unterhalt für alle  unsere Arbeiter ist gleich. Das ist eine Regel ohne Ausnahme, aber wenn  ein Unterschied wegen der Unterbrechung, von der Sie sprechen, gemacht  werden sollte, würde der Kredit der Frau größer und nicht kleiner sein  müssen. Können Sie sich einen Dienst denken, der mehr Anspruch an die  Dankbarkeit der Nation hätte, als die Kinder der Nation zu gebären und  großzuziehen? Nach unserer Ansicht verdient niemand soviel Anerkennung,  als gute Eltern. Keine Aufgabe ist so selbstlos, so ohne jeden  Gegendienst, obwohl das Herz belohnt wird, als das Aufziehen von  Kindern, die, wenn wir tot sein werden, sich gegenseitig die Welt sind.« 
    »Es scheint hieraus zu folgen, dass die Frauen bezüglich ihres  Unterhalts in keiner Weise von ihren Männern abhängig sind.« 
    »Natürlich sind sie das nicht«, erwiderte Dr. Leete, »so wenig wie die  Kinder von ihren Eltern, d.h. nur was ihre Erhaltung betrifft, denn  selbstverständlich können sie sich der Pflichten der kindlichen Liebe  nicht entschlagen. Wenn das Kind aufwächst, vermehrt seine Arbeit das  öffentliche Vermögen, nicht das seiner Eltern, und deshalb wird es, wie  billig, aus dem öffentlichen Vermögen aufgezogen. 
    Die Berechnung jeder Person, Mann, Frau und Kind, 
    geschieht immer direkt mit der Nation und niemals durch einen  Vermittler, außer natürlich, dass Eltern bis zu einem gewissen Punkt  als Vormünder für ihre Kinder handeln. Sie sehen, die Berechtigung zum  Unterhalt beruht auf dem Verhältnis der einzelnen zur Nation, deren  Mitglieder sie sind, und dieses Recht steht in keiner Verbindung mit,  oder ist beeinflusst durch ihre Beziehungen zu anderen Individuen,  welche auch Mitglieder der Nation sind. Es würde das moralische Gefühl  verletzen und durch keine vernünftige soziale Theorie zu rechtfertigen  sein, wenn eine Person wegen, ihres Unterhalts von einer anderen  abhängig wäre. Was würde bei einer solchen Einrichtung aus persönlicher  Freiheit und Würde werden? Ich weiß, Sie haben sich im neunzehnten  Jahrhundert frei genannt. Damals konnte die Bedeutung des Wortes nicht  dieselbe gewesen sein als gegenwärtig, sonst würden Sie es gewiss nicht  bei einer Gesellschaft angewendet haben, deren Mitglieder fast sämtlich  in einer bitteren persönlichen Abhängigkeit von anderen bezüglich ihres  Lebensunterhalts standen, die Armen von den Reichen, die Arbeiter von  den Arbeitgebern, die Frauen von den Männern, die Kinder von den  Eltern. Anstatt die Einnahme der Nation direkt unter ihre Mitglieder zu  verteilen, was die natürlichste und einleuchtendste Weise sein würde,  scheint es, als ob Sie sich besonders Mühe gegeben hätten, einen Plan  zu finden, die Verteilung von Hand zu Hand vorzunehmen, was die höchste  persönliche Demütigung für alle Klassen der Empfänger in sich begriff. 
    Bei einer Liebesheirat mag den Frauen die materielle Abhängigkeit von  den Männern noch erträglich gewesen sein, aber den geistreichen Frauen,  sollte ich denken, muss sie immer eine Demütigung geblieben sein. Was  aber in den unzähligen Fällen, wo die Frauen mit oder ohne Heiratsform  sich den Männern verkaufen mussten, um ihren Lebensunterhalt zu haben?  Sogar Ihre Zeitgenossen, so unempfindlich sie auch für die empörenden  Zustände ihrer Gesellschaft waren, scheinen eine Idee davon gehabt zu  haben, dass dies nicht so war, wie es sein sollte; aber sie hatten doch  nichts als Mitleid für das bedauernswerte Los der Frauen. Es fiel ihnen  nicht ein, dass es sowohl ein Diebstahl als eine Grausamkeit war, wenn  die Männer den ganzen Ertrag der Erde für sich nahmen und die Frauen um  ihren Anteil betteln ließen. Doch - was rede ich da, Mr. West, als ob  es nicht länger als ein Jahrhundert her wäre, dass jene armen Frauen  Sorge und Schande zu erleiden hatten, oder als ob Sie verantwortlich  wären für das, was Sie ohne Zweifel ebenso sehr beklagen, wie ich!« 
    »Ich muss meinen Anteil an der Verantwortlichkeit für die Welt, wie sie  damals war, sicher tragen«, erwiderte ich. »Alles, was ich zur  Beschönigung sagen kann, ist, dass, bevor die Nation für das jetzige  System der Verteilung der Produkte organisiert wurde, auch keine  wirkliche Verbesserung in der Lage der Frau möglich war. Ihre  Unfähigkeit wurzelte in ihrer persönlichen Abhängigkeit von dem Manne  bezüglich ihres Lebensbedarfs und ich kann mir keine andere Weise von  gesellschaftlicher Organisation denken, als die, welche Sie angenommen  haben, welche der Frau dem Manne gegenüber und den Männern unter sich  Freiheit gibt. Ich denke nämlich, dass eine so gänzliche Änderung in  der Stellung der Frauen nicht stattgefunden haben kann, ohne in  bemerkbarer Weise auf die gesellschaftlichen Beziehungen der  Geschlechter einzuwirken. Das wird ein sehr interessantes Studium für  mich werden. « 
    »Die Veränderung, die Ihnen auffällt«, sagte Dr. Leete, »wird, denke  ich, hauptsächlich die Offenheit und Zwanglosigkeit sein, welche diese  Beziehungen jetzt charakterisiert, im Vergleich mit der  Unnatürlichkeit, welche sie zu Ihrer Zeit kennzeichnete. Beide  Geschlechter verkehren jetzt wie Gleichgestellte, und nur dann als  Bewerber, wo es sich um Liebe handelt. Zu Ihrer Zeit machte die  Tatsache, dass die Frauen von den Männern bezüglich des Unterhalts  abhängig waren, die Frau durch die Heirat zur Meistbegünstigten. Dieser  Tatbestand scheint, soweit wir durch die Geschichte wissen, in den  unteren Klassen wenig anerkannt worden zu sein, während er in den  höheren Klassen durch konventionelles System bemäntelt wurde, welches  bewirkte, dass der Mann als hauptsächlich begünstigt galt. Um diese  Konvention aufrechtzuerhalten, war es wesentlich, dass er immer der  Bewerber sein sollte. Nichts verletzte daher den Anstand mehr, als dass  eine Frau ihre Neigung zu einem Manne verraten sollte, bevor er ihr den  Wunsch kundgegeben hatte, sie zu heiraten. Ja, wir haben sogar in  unseren Bibliotheken Bücher von Schriftstellern aus Ihrer Zeit, die zu  keinem anderen Zweck geschrieben waren, als die Frage zu besprechen, ob  unter irgend erdenklichen Umständen eine Frau, ohne ihr Geschlecht zu  entehren, eine unbegehrte Liebe offenbaren dürfe. Das scheint uns  äußerst abgeschmackt und doch wissen wir, dass in Ihren Verhältnissen  das Problem kein leichtes war. Wenn das Liebesgeständnis einer Frau dem  Manne gegenüber die Bedeutung in sich schloss, dass er die Bürde des  Lebens für sie auf sich nehmen müsse, so ist es leicht begreiflich,  dass Stolz und Zartgefühl sich dagegen wehrten. Wenn Sie in unsere  Gesellschaft gehen, Mr. West, so müssen Sie vorbereitet sein, dass Sie  von unserer Jugend oft über diesen Punkt gefragt werden, denn sie  interessiert sich natürlich ungemein über diese altmodische Art und  Weise den Hof zu machen«. 
    »Also so sprechen die Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts von ihrer          Liebe?« 
    »Wenn sie wollen, ja«, erwiderte Dr. Leete. »Sie suchen ebenso wenig  ihre Gefühle zu verbergen als ihre Verehrer. Koketterie würde ebenso  verächtlich an einem Mädchen sein, wie an einem Manne. Erkünstelte  Kälte, die zu Ihrer Zeit selten einen Liebhaber täuschte, würde ihn  jetzt gänzlich täuschen, denn niemand denkt an solche Künste.« 
    »Ein Resultat, das aus der Unabhängigkeit der Frau erwachsen muss, kann  ich mir denken«, sagte ich. »Jetzt kann es nur noch Liebesheiraten  geben.« 
    »Das ist natürlich«, erwiderte Dr. Leete. 
    »Welcher Gedanke! Eine Welt, in der nur Heiraten aus Liebe geschlossen  werden! Ach, Dr. Leete, Sie können unmöglich verstehen, welch  erstaunliche Erscheinung eine solche Welt für einen Mann aus dem  neunzehnten Jahrhundert ist!« 
    »Ich kann es mir doch einigermaßen denken«, entgegnete der Doktor.  »Aber die von Ihnen gerühmte Tatsache, dass es nur Liebesheiraten gibt,  bedeutet vielleicht sogar mehr, als Sie sich wahrscheinlich vorstellen.  Es heißt, dass zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit das  Prinzip der Geschlechtswahl mit dem Streben, die besseren Typen der  Rasse zu erhalten und fortzupflanzen, ungehindert zur Wirkung kommen. 
    Die Frauen werden nicht mehr durch das Bedürfnis nach einem eigenen  Heim dazu getrieben, Männer als Väter ihrer Kinder anzunehmen, die sie  weder lieben noch achten können. Reichtum und Rang stellen nicht mehr  persönliche Eigenschaften in den Hintergrund. Die Begabung einer  Person, Geist, Sinnesart, Schönheit, Witz, Beredsamkeit, Güte, Großmut,  Genialität und Mut werden sicher auf die Nachwelt übertragen. Jede  Generation wird durch ein feineres Sieb gesichtet als die  vorhergehende. Die Eigenschaften, welche die menschliche Natur  bewundert, werden bewahrt, aber die, welche sie abstößt, müssen  untergehen. Es gibt natürlich viele Frauen, die Liebe mit Bewunderung  verbinden und sich gut zu verheiraten suchen, aber diese gehorchen  demselben Gesetze, denn gut zu heiraten heißt nicht mehr Männer mit  Vermögen oder Titel heiraten, sondern die, welche durch Gründlichkeit  oder hervorragende Geisteseigenschaften in dem Dienste der Menschheit  sich unter ihren Mitbrüdern ausgezeichnet haben. Diese bilden  heutzutage die einzige Aristokratie, mit welcher sich zu verbinden eine  Ehre ist. 
    Sie sprachen vor einigen Tagen von der physischen Überlegenheit unseres  Geschlechts im Vergleich mit Ihren Zeitgenossen. Vielleicht wichtiger  als irgend eine der Ursachen, die ich erwähnte, welche eine Reinigung  der Rasse erzielen, ist eine freie Geschlechtswahl, welche die  Beschaffenheit von zwei oder drei darauf folgenden Generationen erhöht  hat. Ich glaube, wenn Sie unser Volk besser kennen, werden Sie in ihm  nicht nur eine physische, sondern auch eine geistige und moralische  Besserung finden. Es würde befremden, wenn es nicht so wäre, denn eines  der größten Naturgesetze, welches das Heil der Rasse befördert, wird  durch ein tief moralisches Gefühl unterstützt. Der Individualismus, der  zu Ihrer Zeit die belebende Idee der Gesellschaft war, musste nicht nur  jedem Gefühl von Brüderlichkeit und allgemeinem Interesse unter  lebenden Menschen gefährlich werden, sondern auch jeder Verwirklichung  der Verantwortlichkeit der Lebenden für die folgende Generation. Heute  ist dies Gefühl der Verantwortlichkeit, das praktisch in unserer  Vorzeit unanerkannt blieb, eine der großen ethischen Ideen der Rasse  geworden, mit einem starken Bewusstsein der Pflicht den natürlichen  Trieb verstärkend, nur das beste und edelste Wesen des anderen  Geschlechts zu freien. Das Resultat ist, dass keine Ermutigung und  Anregung, die wir gegeben haben, um Fleiß, Talent, Geist,  Vortrefflichkeit irgendeiner Art zu entwickeln, eine solche Wirkung auf  unsere jungen Männer hat, wie die Tatsache, dass unsere Frauen über die  Rasse zu Gericht sitzen und sich selbst den Siegern zum Lohn  reservieren. All die Peitschen und Sporen und Preise sind nichts im  Vergleich mit dem Gedanken an die strahlenden Gesichter, die sich von  den Schwächlingen abwenden werden. 
    Ehelos sind jetzt fast nur solche Männer, die verfehlt haben, sich  ihrer Lebensaufgabe mit Ehren zu entledigen. Die Frau muss Mut, eine  falsche Art von Mut haben, die aus Mitleid für diese Unglücklichen sich  verleiten ließe, dem Urteile ihrer Generation zu trotzen - denn frei  ist sie - und einen solchen Mann als Gatten zu nehmen. Vor allem würde  sie das Gefühl ihres eigenen Geschlechts damit beleidigen. Unsere  Frauen haben einen hohen Begriff von ihrer Verantwortung als die  Wächter für die kommende Menschheit, denen die Schlüssel der Zukunft  anvertraut worden sind. Ihr Pflichtgefühl in dieser Beziehung kommt  einer religiösen Weihe gleich. Es ist ein Kultus, in dem sie ihre  Töchter von Kindheit an erziehen.« 
    Nachdem ich jenen Abend in mein Zimmer gegangen war, blieb ich noch  lange auf, um einen Roman von Berrian zu lesen, den mir Dr. Leete  gegeben hatte, dessen Plan auf Verhältnissen beruhte, wie sie seine  letzten Worte angedeutet, die moderne Anschauung von elterlicher  Verantwortung. Ein ähnliches Verhältnis würde von einem Romanschreiber  des 19. Jahrhunderts gewiss so behandelt worden sein, dass es die  krankhafte Sympathie des Lesers mit der sentimentalen Selbstsucht der  Liebenden und seinen Groll gegen das ungeschriebene Gesetz erregt  hätte, das sie beleidigten. Ich brauche nicht zu beschreiben -denn wer  hat nicht »Ruth Elton« gelesen? - wie verschieden behandelt es Berrian  und mit welch furchtbarer Wirkung schärft er das Prinzip ein: »Den  Ungeborenen gegenüber ist unsere Macht eine göttliche, und unsere  Verantwortung dieselbe wie die Gottes gegen uns. Wie wir uns ihrer  entledigen, so möge Gott mit uns verfahren.«  | 
  
    
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