Fünfundzwanzigstes Kapitel
Edith Leete hatte von Anfang an, als ich auf so sonderbare Weise ein Mitbewohner ihres väterlichen Hauses geworden, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und es war zu erwarten, dass, nachdem was den Abend vorher geschehen war, meine Gedanken sich mehr denn je mit ihr beschäftigen würden. Mir war schon immer die heitere Offenheit und Klarheit aufgefallen, welche sie charakterisierte, die ich mehr bei edlen, unschuldigen Knaben gefunden hatte als bei Mädchen. Ich hätte gern gewusst, inwiefern diese Eigenschaft ihr eigentümlich, oder vielleicht das Resultat der Änderungen in der sozialen Stellung der Frauen wäre, welche seit meiner Zeit stattgefunden haben. Da ich den selbigen Tag Dr. Leete allein traf, lenkte ich die Unterhaltung auf diesen Punkt.
»Ich vermute«, sagte ich, »dass die Frauen heutzutage, seit sie von der Bürde des Haushaltes befreit sind, sich mit nichts beschäftigen, als mit ihrer äußeren Erscheinung.«
»Was uns Männer betrifft«, erwiderte Dr. Leete, »so würden wir sie vollständig dazu berechtigt halten, sich dieser Beschäftigung ausschließlich zu widmen, aber Sie können sicher sein, dass sie zu stolz sind, bloße Pfründnerinnen der Gesellschaft zu sein, als Lohn dafür, dass sie dieselbe schmücken. Sie haben in der Tat ihre Befreiung von der Hausarbeit mit Freuden begrüßt, weil diese nicht nur überaus ermüdend war, sondern auch eine außerordentliche Verschwendung von Kraft im Vergleich mit dem neuen System; aber sie nahmen die Befreiung von jener Arbeit nur an, um in anderer, sowohl wirksameren als auch angenehmeren Weise dem allgemeinen Wohle zu dienen. Unsere Frauen sind, wie die Männer, Glieder der industriellen Armee und verlassen dieselbe nur, wenn Mutterpflichten es erheischen. Das Resultat ist, dass die meisten Frauen zu einer oder der anderen Zeit ihres Lebens fünf bis zehn Jahre industriell tätig waren, während solche, die keine Kinder haben, den vollen Termin einhalten.«
»Eine Frau gibt also notwendigerweise nicht bei ihrer Verheiratung den industriellen Dienst auf?« fragte ich.
»Sowenig wie ein Mann«, erwiderte der Doktor. »Warum sollte sie denn auch? Die verheirateten Frauen haben jetzt keine Verantwortung für den Haushalt, wie Sie wissen, und ein Ehemann ist kein Kind, für den gesorgt werden müsste.«
»Wir hielten es für einen recht drückenden Umstand unserer Zivilisation, dass wir soviel Arbeit von den Frauen forderten«, sagte ich; »aber es scheint mir, dass Sie mehr von ihnen haben, als wir von ihnen hatten.«
Dr. Leete lachte. »Gewiss, ebensoviel wie von unseren Männern. Dennoch sind die Frauen dieses Jahrhunderts sehr glücklich, und die des neunzehnten Jahrhunderts waren, wenn unsere Quellen richtig sind, sehr unglücklich. Der Grund, dass die Frauen heutzutage soviel mehr zu Mitarbeitern der Männer geeignet, und zugleich doch so glücklich sind, liegt darin, dass wir in Betreff ihrer Arbeit als auch der der Männer dem Grundsatze folgen, jeden mit der Art von Beschäftigung zu versehen, für welche er oder sie am besten geeignet ist.
Da die Frauen den Männern an Kraft nachstehen und zu gewissen industriellen Arbeiten unfähig sind, so wird die Art der Beschäftigungen und die Bedingungen, unter denen sie dieselben verrichten, diesen Umständen angepasst. Die schwerere Arbeit wird immer den Männern zugewiesen, die leichteren Beschäftigungen den Frauen. Unter keinen Umständen wird es einer Frau erlaubt, eine Stellung anzunehmen, die weder bezüglich der Art noch der Schwere der Arbeit ihrem Geschlecht angemessen ist. Überdies ist die Arbeitszeit für die Frauen beträchtlich kürzer als die der Männer, auch werden ihnen öfters Ferien bewilligt und überhaupt für Erholung gesorgt, wenn solche nötig ist. Die Männer von heute sind sich wohl bewusst, dass sie der Schönheit und Grazie der Frauen den erhöhten Genus des Lebens und den Hauptantrieb zur Arbeit verdanken, dass sie ihnen nur zu arbeiten erlauben, weil man annimmt, dass eine gewisse regelmäßige Tätigkeit, die ihren Kräften angemessen, in der Zeit ihrer höchsten physischen Kraft dem Körper und Geiste wohltätig ist. Wir glauben, dass der Grund dafür, dass unsere Frauen sich einer besseren, Gesundheit erfreuen als diejenigen zu Ihrer Zeit, welche kränklich gewesen sein sollen, hauptsächlich darin liegt, dass sie sich jetzt gesund und anregend beschäftigen.«
»Ich verstehe«, sagte ich, »dass die weiblichen Arbeiter zu der industriellen Armee gehören; aber wie können sie nach demselben System wie die Männer geschult und befördert werden, wenn die Anforderungen der Arbeit doch so verschieden sind?«
»Sie sind unter ganz verschiedener Disziplin«, erwiderte Dr. Leete, »und bilden mehr eine vereinte Kraft, als den ergänzenden Teil der Armee von Männern. Sie haben einen weiblichen General und sind unter ausschließlichem Frauenregiment. Dieser General, wie auch die höheren Offiziere, wird von den Frauen gewählt, die ihre Dienstzeit schon beschlossen haben, in derselben Weise, wie die Häupter der männlichen Armee und der Präsident der Nation erwählt werden. Der General von der Frauen-Armee sitzt im Kabinett des Präsidenten und hat ein Veto über das den Frauen zuerteilte Maß von Arbeit. Als ich vom Gerichtswesen sprach, hätte ich erwähnen sollen, dass wir auch Frauen als Richter haben, die vom General der Frauen gewählt werden, ebenso wie die Männer. Solche Fälle, wo beide Teile Frauen sind, werden durch Frauenrichter entschieden, wo aber ein Mann und eine Frau die Parteien bilden, muss ein Richter jeden Geschlechtes dem Ausspruch beistimmen.«
»Der Frauenstand scheint nach Ihrem System wie ein imperium in imperio organisiert zu sein«, sagte ich.
»In gewisser Beziehung«, erwiderte Dr. Leete, »aber das innere Imperium, werden Sie zugestehen, bringt der Nation nicht viel Gefahr. Dass man die Individualität der Geschlechter nicht anerkannte, war einer der vielen Mängel Ihrer Gesellschaft. Die zwischen Mann und Frau bestehende geschlechtliche Anziehungskraft hat zu oft die Einsicht von dem großen Unterschied verhindert, welcher in vielen Dingen ein Geschlecht dem andern entfremdet und es nur mit dem eigenen sympathisieren lässt. Indem man die Eigentümlichkeiten der Geschlechter zur vollen Geltung kommen lässt und sie nicht zu verwischen sucht, wie es offenbar einige Reformatoren Ihrer Zeit gewollt haben, erhöht man die Freude am Sichausleben und den Reiz, welches jedes für das andere hat. Zu Ihrer Zeit gab es keinen Beruf für die Frauen, wenn sie nicht mit den Männern rivalisierten. Wir haben ihnen eine eigene Welt mit Wetteifer, Ehrgeiz und Beruf gegeben und ich versichere Sie, sie fühlen sich sehr glücklich darin. Nach unserer Anschauung waren die Frauen mehr als irgend eine Klasse die Opfer Ihrer Zivilisation. Selbst nach dieser langen Zeit füllt uns das Schauspiel ihres gelangweilten unentwickelten Lebens, verkümmert durch Heirat, ihr physisch durch die vier Wände ihres Heims und moralisch durch den engen Kreis persönlicher Interessen begrenzter Horizont mit tiefem Mitleid. Ich spreche jetzt nicht von den ärmeren Klassen, die sich zu Tode arbeiteten, sondern auch von den Wohlhabenden und Reichen. Von den großen, sowie den kleinen Sorgen des Lebens hatten sie keine Zuflucht in die luftige Außenwelt, noch andere Interessen als die der Familie. Solch eine Existenz würde die Männer wahnsinnig gemacht haben. Das ist nun heute alles anders. Keine Frau wünscht heutzutage ein Mann zu sein, keine Eltern ersehnen Söhne statt Töchter. Unsere Mädchen sind so ehrgeizig in ihrem Beruf, wie unsere Knaben. Die Ehe, wenn es dazu kommt, bedeutet für sie nicht Einkerkerung und schließt sie in keiner Weise von den Interessen der Gesellschaft, dem geräuschvollen Leben der Welt aus. Nur wenn Mutterpflichten den Geist der Frau mit neuen Interessen erfüllen, zieht sie sich eine Zeitlang von der Welt zurück. Nachher kann sie jederzeit in den Kreis ihrer Genossen zurückkehren und braucht überhaupt nie Fühlung mit ihnen zu verlieren. Die Frauen sind heutzutage, im Vergleich mit dem, was sie jemals in der Weltgeschichte gewesen sind, sehr glücklich und ihre Befähigung, die Männer glücklich zu machen, hat im Verhältnis auch zugenommen.«
»Ich sollte denken«, sagte ich, »dass das Interesse, welches die Mädchen für ihren Beruf als Glieder der industriellen Armee und als Kandidaten für Auszeichnung haben, sie vom Heiraten abhalten würde.«
Dr. Leete lächelte. »Haben Sie keine Angst davor, Mr. West«, erwiderte er. »Der Schöpfer hat dafür gesorgt, dass, wie sich auch die Beziehungen der Männer und Frauen mit der Zeit gestalten mögen, die gegenseitige Anziehungskraft doch fortbesteht. Die bloße Tatsache, dass in einem Zeitalter wie dem Ihren auch geheiratet wurde, als der Kampf um die Existenz den Menschen wenig Zeit für andere Gedanken gelassen haben muss, und die Zukunft so ungewiss war, dass, elterliche Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, oft wie ein strafbares Wagnis erschien, sollte über diese Frage entscheidend sein. Einer unserer Schriftsteller sagt bezüglich der Liebe, dass im Leben der Männer und Frauen durch ihre Befreiung von Nahrungssorgen eine Leere entstanden sei, welche durch zarte Gefühle ausgefüllt werde. Das ist aber etwas übertrieben. Übrigens beeinträchtigt die Ehe den Beruf der Frau so wenig, dass die höheren Stellen in der weiblichen Industriearmee nur solchen gegeben werden, die verheiratet und Mütter sind, da sie allein ihr Geschlecht vollständig vertreten.«
»Werden den Frauen ebenso wie den Männern Kreditkarten ausgestellt?«
»Gewiss.«
»Der Kredit der Frauen umfasst vermutlich einen geringeren Betrag, da sie wegen Familienpflichten ihre Arbeit oft unterbrechen müssen.«
»Einen geringeren?« rief Dr. Leete, »o nein! Der Unterhalt für alle unsere Arbeiter ist gleich. Das ist eine Regel ohne Ausnahme, aber wenn ein Unterschied wegen der Unterbrechung, von der Sie sprechen, gemacht werden sollte, würde der Kredit der Frau größer und nicht kleiner sein müssen. Können Sie sich einen Dienst denken, der mehr Anspruch an die Dankbarkeit der Nation hätte, als die Kinder der Nation zu gebären und großzuziehen? Nach unserer Ansicht verdient niemand soviel Anerkennung, als gute Eltern. Keine Aufgabe ist so selbstlos, so ohne jeden Gegendienst, obwohl das Herz belohnt wird, als das Aufziehen von Kindern, die, wenn wir tot sein werden, sich gegenseitig die Welt sind.«
»Es scheint hieraus zu folgen, dass die Frauen bezüglich ihres Unterhalts in keiner Weise von ihren Männern abhängig sind.«
»Natürlich sind sie das nicht«, erwiderte Dr. Leete, »so wenig wie die Kinder von ihren Eltern, d.h. nur was ihre Erhaltung betrifft, denn selbstverständlich können sie sich der Pflichten der kindlichen Liebe nicht entschlagen. Wenn das Kind aufwächst, vermehrt seine Arbeit das öffentliche Vermögen, nicht das seiner Eltern, und deshalb wird es, wie billig, aus dem öffentlichen Vermögen aufgezogen.
Die Berechnung jeder Person, Mann, Frau und Kind,
geschieht immer direkt mit der Nation und niemals durch einen Vermittler, außer natürlich, dass Eltern bis zu einem gewissen Punkt als Vormünder für ihre Kinder handeln. Sie sehen, die Berechtigung zum Unterhalt beruht auf dem Verhältnis der einzelnen zur Nation, deren Mitglieder sie sind, und dieses Recht steht in keiner Verbindung mit, oder ist beeinflusst durch ihre Beziehungen zu anderen Individuen, welche auch Mitglieder der Nation sind. Es würde das moralische Gefühl verletzen und durch keine vernünftige soziale Theorie zu rechtfertigen sein, wenn eine Person wegen, ihres Unterhalts von einer anderen abhängig wäre. Was würde bei einer solchen Einrichtung aus persönlicher Freiheit und Würde werden? Ich weiß, Sie haben sich im neunzehnten Jahrhundert frei genannt. Damals konnte die Bedeutung des Wortes nicht dieselbe gewesen sein als gegenwärtig, sonst würden Sie es gewiss nicht bei einer Gesellschaft angewendet haben, deren Mitglieder fast sämtlich in einer bitteren persönlichen Abhängigkeit von anderen bezüglich ihres Lebensunterhalts standen, die Armen von den Reichen, die Arbeiter von den Arbeitgebern, die Frauen von den Männern, die Kinder von den Eltern. Anstatt die Einnahme der Nation direkt unter ihre Mitglieder zu verteilen, was die natürlichste und einleuchtendste Weise sein würde, scheint es, als ob Sie sich besonders Mühe gegeben hätten, einen Plan zu finden, die Verteilung von Hand zu Hand vorzunehmen, was die höchste persönliche Demütigung für alle Klassen der Empfänger in sich begriff.
Bei einer Liebesheirat mag den Frauen die materielle Abhängigkeit von den Männern noch erträglich gewesen sein, aber den geistreichen Frauen, sollte ich denken, muss sie immer eine Demütigung geblieben sein. Was aber in den unzähligen Fällen, wo die Frauen mit oder ohne Heiratsform sich den Männern verkaufen mussten, um ihren Lebensunterhalt zu haben? Sogar Ihre Zeitgenossen, so unempfindlich sie auch für die empörenden Zustände ihrer Gesellschaft waren, scheinen eine Idee davon gehabt zu haben, dass dies nicht so war, wie es sein sollte; aber sie hatten doch nichts als Mitleid für das bedauernswerte Los der Frauen. Es fiel ihnen nicht ein, dass es sowohl ein Diebstahl als eine Grausamkeit war, wenn die Männer den ganzen Ertrag der Erde für sich nahmen und die Frauen um ihren Anteil betteln ließen. Doch - was rede ich da, Mr. West, als ob es nicht länger als ein Jahrhundert her wäre, dass jene armen Frauen Sorge und Schande zu erleiden hatten, oder als ob Sie verantwortlich wären für das, was Sie ohne Zweifel ebenso sehr beklagen, wie ich!«
»Ich muss meinen Anteil an der Verantwortlichkeit für die Welt, wie sie damals war, sicher tragen«, erwiderte ich. »Alles, was ich zur Beschönigung sagen kann, ist, dass, bevor die Nation für das jetzige System der Verteilung der Produkte organisiert wurde, auch keine wirkliche Verbesserung in der Lage der Frau möglich war. Ihre Unfähigkeit wurzelte in ihrer persönlichen Abhängigkeit von dem Manne bezüglich ihres Lebensbedarfs und ich kann mir keine andere Weise von gesellschaftlicher Organisation denken, als die, welche Sie angenommen haben, welche der Frau dem Manne gegenüber und den Männern unter sich Freiheit gibt. Ich denke nämlich, dass eine so gänzliche Änderung in der Stellung der Frauen nicht stattgefunden haben kann, ohne in bemerkbarer Weise auf die gesellschaftlichen Beziehungen der Geschlechter einzuwirken. Das wird ein sehr interessantes Studium für mich werden. «
»Die Veränderung, die Ihnen auffällt«, sagte Dr. Leete, »wird, denke ich, hauptsächlich die Offenheit und Zwanglosigkeit sein, welche diese Beziehungen jetzt charakterisiert, im Vergleich mit der Unnatürlichkeit, welche sie zu Ihrer Zeit kennzeichnete. Beide Geschlechter verkehren jetzt wie Gleichgestellte, und nur dann als Bewerber, wo es sich um Liebe handelt. Zu Ihrer Zeit machte die Tatsache, dass die Frauen von den Männern bezüglich des Unterhalts abhängig waren, die Frau durch die Heirat zur Meistbegünstigten. Dieser Tatbestand scheint, soweit wir durch die Geschichte wissen, in den unteren Klassen wenig anerkannt worden zu sein, während er in den höheren Klassen durch konventionelles System bemäntelt wurde, welches bewirkte, dass der Mann als hauptsächlich begünstigt galt. Um diese Konvention aufrechtzuerhalten, war es wesentlich, dass er immer der Bewerber sein sollte. Nichts verletzte daher den Anstand mehr, als dass eine Frau ihre Neigung zu einem Manne verraten sollte, bevor er ihr den Wunsch kundgegeben hatte, sie zu heiraten. Ja, wir haben sogar in unseren Bibliotheken Bücher von Schriftstellern aus Ihrer Zeit, die zu keinem anderen Zweck geschrieben waren, als die Frage zu besprechen, ob unter irgend erdenklichen Umständen eine Frau, ohne ihr Geschlecht zu entehren, eine unbegehrte Liebe offenbaren dürfe. Das scheint uns äußerst abgeschmackt und doch wissen wir, dass in Ihren Verhältnissen das Problem kein leichtes war. Wenn das Liebesgeständnis einer Frau dem Manne gegenüber die Bedeutung in sich schloss, dass er die Bürde des Lebens für sie auf sich nehmen müsse, so ist es leicht begreiflich, dass Stolz und Zartgefühl sich dagegen wehrten. Wenn Sie in unsere Gesellschaft gehen, Mr. West, so müssen Sie vorbereitet sein, dass Sie von unserer Jugend oft über diesen Punkt gefragt werden, denn sie interessiert sich natürlich ungemein über diese altmodische Art und Weise den Hof zu machen«.
»Also so sprechen die Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts von ihrer Liebe?«
»Wenn sie wollen, ja«, erwiderte Dr. Leete. »Sie suchen ebenso wenig ihre Gefühle zu verbergen als ihre Verehrer. Koketterie würde ebenso verächtlich an einem Mädchen sein, wie an einem Manne. Erkünstelte Kälte, die zu Ihrer Zeit selten einen Liebhaber täuschte, würde ihn jetzt gänzlich täuschen, denn niemand denkt an solche Künste.«
»Ein Resultat, das aus der Unabhängigkeit der Frau erwachsen muss, kann ich mir denken«, sagte ich. »Jetzt kann es nur noch Liebesheiraten geben.«
»Das ist natürlich«, erwiderte Dr. Leete.
»Welcher Gedanke! Eine Welt, in der nur Heiraten aus Liebe geschlossen werden! Ach, Dr. Leete, Sie können unmöglich verstehen, welch erstaunliche Erscheinung eine solche Welt für einen Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert ist!«
»Ich kann es mir doch einigermaßen denken«, entgegnete der Doktor. »Aber die von Ihnen gerühmte Tatsache, dass es nur Liebesheiraten gibt, bedeutet vielleicht sogar mehr, als Sie sich wahrscheinlich vorstellen. Es heißt, dass zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit das Prinzip der Geschlechtswahl mit dem Streben, die besseren Typen der Rasse zu erhalten und fortzupflanzen, ungehindert zur Wirkung kommen.
Die Frauen werden nicht mehr durch das Bedürfnis nach einem eigenen Heim dazu getrieben, Männer als Väter ihrer Kinder anzunehmen, die sie weder lieben noch achten können. Reichtum und Rang stellen nicht mehr persönliche Eigenschaften in den Hintergrund. Die Begabung einer Person, Geist, Sinnesart, Schönheit, Witz, Beredsamkeit, Güte, Großmut, Genialität und Mut werden sicher auf die Nachwelt übertragen. Jede Generation wird durch ein feineres Sieb gesichtet als die vorhergehende. Die Eigenschaften, welche die menschliche Natur bewundert, werden bewahrt, aber die, welche sie abstößt, müssen untergehen. Es gibt natürlich viele Frauen, die Liebe mit Bewunderung verbinden und sich gut zu verheiraten suchen, aber diese gehorchen demselben Gesetze, denn gut zu heiraten heißt nicht mehr Männer mit Vermögen oder Titel heiraten, sondern die, welche durch Gründlichkeit oder hervorragende Geisteseigenschaften in dem Dienste der Menschheit sich unter ihren Mitbrüdern ausgezeichnet haben. Diese bilden heutzutage die einzige Aristokratie, mit welcher sich zu verbinden eine Ehre ist.
Sie sprachen vor einigen Tagen von der physischen Überlegenheit unseres Geschlechts im Vergleich mit Ihren Zeitgenossen. Vielleicht wichtiger als irgend eine der Ursachen, die ich erwähnte, welche eine Reinigung der Rasse erzielen, ist eine freie Geschlechtswahl, welche die Beschaffenheit von zwei oder drei darauf folgenden Generationen erhöht hat. Ich glaube, wenn Sie unser Volk besser kennen, werden Sie in ihm nicht nur eine physische, sondern auch eine geistige und moralische Besserung finden. Es würde befremden, wenn es nicht so wäre, denn eines der größten Naturgesetze, welches das Heil der Rasse befördert, wird durch ein tief moralisches Gefühl unterstützt. Der Individualismus, der zu Ihrer Zeit die belebende Idee der Gesellschaft war, musste nicht nur jedem Gefühl von Brüderlichkeit und allgemeinem Interesse unter lebenden Menschen gefährlich werden, sondern auch jeder Verwirklichung der Verantwortlichkeit der Lebenden für die folgende Generation. Heute ist dies Gefühl der Verantwortlichkeit, das praktisch in unserer Vorzeit unanerkannt blieb, eine der großen ethischen Ideen der Rasse geworden, mit einem starken Bewusstsein der Pflicht den natürlichen Trieb verstärkend, nur das beste und edelste Wesen des anderen Geschlechts zu freien. Das Resultat ist, dass keine Ermutigung und Anregung, die wir gegeben haben, um Fleiß, Talent, Geist, Vortrefflichkeit irgendeiner Art zu entwickeln, eine solche Wirkung auf unsere jungen Männer hat, wie die Tatsache, dass unsere Frauen über die Rasse zu Gericht sitzen und sich selbst den Siegern zum Lohn reservieren. All die Peitschen und Sporen und Preise sind nichts im Vergleich mit dem Gedanken an die strahlenden Gesichter, die sich von den Schwächlingen abwenden werden.
Ehelos sind jetzt fast nur solche Männer, die verfehlt haben, sich ihrer Lebensaufgabe mit Ehren zu entledigen. Die Frau muss Mut, eine falsche Art von Mut haben, die aus Mitleid für diese Unglücklichen sich verleiten ließe, dem Urteile ihrer Generation zu trotzen - denn frei ist sie - und einen solchen Mann als Gatten zu nehmen. Vor allem würde sie das Gefühl ihres eigenen Geschlechts damit beleidigen. Unsere Frauen haben einen hohen Begriff von ihrer Verantwortung als die Wächter für die kommende Menschheit, denen die Schlüssel der Zukunft anvertraut worden sind. Ihr Pflichtgefühl in dieser Beziehung kommt einer religiösen Weihe gleich. Es ist ein Kultus, in dem sie ihre Töchter von Kindheit an erziehen.«
Nachdem ich jenen Abend in mein Zimmer gegangen war, blieb ich noch lange auf, um einen Roman von Berrian zu lesen, den mir Dr. Leete gegeben hatte, dessen Plan auf Verhältnissen beruhte, wie sie seine letzten Worte angedeutet, die moderne Anschauung von elterlicher Verantwortung. Ein ähnliches Verhältnis würde von einem Romanschreiber des 19. Jahrhunderts gewiss so behandelt worden sein, dass es die krankhafte Sympathie des Lesers mit der sentimentalen Selbstsucht der Liebenden und seinen Groll gegen das ungeschriebene Gesetz erregt hätte, das sie beleidigten. Ich brauche nicht zu beschreiben -denn wer hat nicht »Ruth Elton« gelesen? - wie verschieden behandelt es Berrian und mit welch furchtbarer Wirkung schärft er das Prinzip ein: »Den Ungeborenen gegenüber ist unsere Macht eine göttliche, und unsere Verantwortung dieselbe wie die Gottes gegen uns. Wie wir uns ihrer entledigen, so möge Gott mit uns verfahren.« |
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