Vierzehntes Kapitel
Im Laufe des Tages regnete es stark, und ich hatte vermutet, dass der Zustand der Straßen meine Wirte veranlassen würde, den Plan, zum Mittagessen auszugehen, fallenzulassen, obgleich das Speisehaus, wie ich gehört hatte, ganz nahe war. Ich war daher sehr erstaunt, als zur bestimmten Stunde die Damen, fertig zum Ausgehen, erschienen, aber ohne Überschuhe und Regenschirme.
Als wir auf der Straße waren, klärte sich das Geheimnis auf, denn eine fortlaufende wasserdichte Decke streckte sich über das Trottoir und verwandelte es in einen hellen, trockenen Korridor, in dem sich ein Strom von Damen und Herren im Dineranzug bewegte. An den Ecken führten leichte, ähnlich bedeckte Brücken über die Straßen. Edith Leete, an deren Seite ich ging, schien sehr interessiert, zu erfahren, dass bei schlechtem Wetter die Straßen von dem Boston meiner Tage ungangbar waren, wenn man nicht Regenschirme, dicke Stiefel und schwere Kleider trug.
»Waren denn Trottoirschirme gar nicht gebräuchlich?« fragte sie.
»Sie wurden gebraucht«, erklärte ich, »aber nur vereinzelt und in ganz unsystematischer Weise; es waren Privatunternehmungen. «
Sie erzählte mir, dass jetzt alle Straßen bei ungünstigem Wetter in der Weise, wie ich es hier sähe, geschützt seien, die Vorrichtung würde aufgerollt, wenn sie nicht nötig sei. Sie gab mir zu verstehen, dass es als große Einfalt angesehen werde, wenn man dem Wetter Einfluss auf die Bewegungen des Volkes einräumen wollte.
Dr. Leete ging vor uns her und hörte etwas von unserem Gespräch; er drehte sich um und sagte, dass der Unterschied zwischen dem Zeitalter des Individualismus und dem der Allgemeinheit sich deutlich an dem Umstand erkennen lasse, dass im 19. Jahrhunderte, wenn es regnete, die Leute in Boston dreimalhunderttausend Regenschirme über ebenso viele Köpfe aufspannten, und im 20. nur einen Schirm über alle Köpfe.
Im Weitergehen sagte Edith: »Der Regenschirm ist Papas Lieblingsbild, damit die alte Lebensweise zu illustrieren, als jedermann für sich und seine Familie lebte. In der Gemäldegalerie gibt es ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das eine Menge Leute darstellt, von dem jeder einzelne seinen Regenschirm über sich und seine Frau hält und den Nebenmännern die Traufe zuwendet; mein Vater behauptet, der Künstler habe damit eine Satire auf seine Zeit beabsichtigt.«
Wir betraten nun ein großes Gebäude, in das viele Leute strömten. Wegen des Schirmdaches konnte ich die Vorderseite nicht sehen, aber wenn sie dem Innern entsprach, das noch schöner als das Magazin war, welches ich am Tag zuvor besucht hatte, so musste sie großartig sein. Meine Begleiterin sagte mir, dass die in Stein gehauene Gruppe über dem Eingang besonders bewundert werde. Wir stiegen eine mächtige Treppe empor und gingen einen breiten Korridor mit vielen Türen entlang. In eine derselben, an der der Name meines Wirtes stand, traten wir ein und ich befand mich in einem eleganten Speisezimmer, wo ein Tisch für vier Personen gedeckt stand. Die Fenster gingen in einen Hof, wo eine Fontaine ihren Wasserstrahl in bedeutende Höhe warf, und Musik schwirrte durch die Luft. »Sie scheinen hier zu Hause zu sein«, sagte ich, als wir uns an den Tisch gesetzt hatten und Dr. Leete die Glocke
berührte.
»Dies ist allerdings ein Teil unseres Hauses, nur wenig getrennt von dem übrigen«, erwiderte er. »Jede Familie im Bezirk hat in diesem Gebäude ein besonderes Zimmer zu ihrem beständigen und ausschließlichen Gebrauch gegen eine kleine jährliche Miete. Für vorübergehende Gäste und einzelne Personen sind Einrichtungen in einem anderen Stockwerk. Wenn wir essen wollen, bestellen wir es am Abend vorher und treffen unsere Wahl in Gemäßheit der in den Tagesblättern ersichtlichen Berichte. Das Mahl kann so kostbar oder einfach sein, wie wir wünschen, jedoch ist alles bei weitem billiger und besser, als es zu Hause sein würde. Es gibt kaum etwas, an dem unser Volk mehr Anteil nimmt, als an der Verproviantierung und der Küche, und ich gestehe, dass wir auf den Erfolg, welchen dieser Zweig des - allgemeinen Dienstes erzielt hat, uns etwas einbilden. O, mein lieber Mr. West, obwohl andere Seiten Ihrer Zivilisation mehr Tragik hatten, so kann ich mir doch nichts Demütigenderes denken, als die schlechten Mahlzeiten, die Sie alle essen mussten, mit Ausnahme der sehr Reichen.«
»Niemand von uns würde dem widersprochen haben«, sagte ich.
Nun erschien der Aufwärter, ein hübscher junger Bursche in einer Art unauffälliger Uniform. Ich betrachtete ihn genau, da es das erste Mal war, dass ich die Haltung eines Mitglieds der industriellen Armee beobachten konnte. Dieser junge Mann musste, nach dem, was ich gehört hatte, gut gebildet sein und in sozialer und jeder anderen Beziehung mit denen, die er bediente, auf gleicher Stufe stehen. Aber es war offenbar, dass die Lage für keinen Teil im geringsten verlegen war. Dr. Leete sprach mit dem jungen Mann, wie jeder Gentleman tun würde, ohne alle Überhebung, aber auch ohne in einen bittenden Ton zu fallen, und das Benehmen des jungen Mannes war einfach das einer Person, welche sich befleißigt, die Aufgabe, mit der sie beschäftigt ist, gut zu lösen, ohne Familiarität oder Unterwürfigkeit. Es war das Benehmen eines Soldaten im Dienste, aber ohne die militärische Steifheit. Als der Jüngling das Zimmer verlassen hatte, sagte ich: »Ich kann mich nicht genug wundern, dass ein junger Mann in Gesinde-Stellung seinen Dienst so zufrieden verrichtet.«
»Was heißt das, »Gesinde-Stellung«? Ich habe das nie gehört«, sagte Edith.
»Es ist jetzt außer Gebrauch«, bemerkte ihr Vater. »Wenn ich es recht verstehe, so bezieht es sich auf Personen, welche eine besonders unangenehme und unerfreuliche Arbeit für andere verrichten und hatte eine verächtliche Nebenbedeutung. Nicht wahr, Mr. West?«
»Ja, so ist es ungefähr«, sagte ich. »Persönliche Dienstleistungen, wie Aufwarten bei Tisch, wurden als Gesinde-Stellung angesehen und zu meiner Zeit für so verächtlich gehalten, dass Leute von feiner Bildung lieber Elend ertragen, als sich dazu hergegeben hätten.«
»Was für ein sonderbarer, gesuchter Einfall«, rief Frau Leete voll Verwunderung.
»Und diese Dienste mussten doch auch geleistet werden«, sagte Edith.
»Natürlich«, sagte ich, »aber wir schoben sie den Armen zu und denen, die keine Wahl hatten, als zu verhungern.«
»Und so vergrößerten Sie die Last, die Sie ihnen auferlegten, durch Hinzufügung Ihrer Verachtung«, bemerkte Dr. Leete.
»Ich verstehe das nicht recht«, sagte Edith. »Meinen Sie, dass Sie Leuten erlaubten, etwas zu tun, wofür Sie dieselben verachteten, oder dass Sie Dienste von ihnen annahmen, die Sie ihnen nicht wiedergeleistet hätten? Sie können das doch nicht meinen, Herr West?«
Ich musste ihr sagen, dass es allerdings so sei, wie sie gesagt, aber Dr. Leete kam mir zu Hilfe.
»Um den Grund von Ediths Erstaunen zu verstehen«, sagte er, »muss ich Ihnen sagen, dass wir einen Grundsatz der Ethik haben, wonach die Annahme eines Dienstes von einem anderen, den wir nicht im Notfall mit demselben Dienst zu erwidern bereit wären, dem Borgen von Geld gleich geachtet wird, in der Absicht, es nicht zurückzuzahlen, und einen solchen Dienst zu erzwingen, indem man die Armut oder Notlage eines Menschen sich zum Vorteil macht, wäre eine Schmach so gut wie Raub. Bei jedem System, welches die Menschen in Klassen und Kasten teilt, ist das Schlimmste, dass es den Sinn für eine gemeinsame Menschheit schwächt. Die ungleiche Verteilung des Reichtums und noch mehr die ungleiche Gelegenheit zur Bildung teilten in Ihren Tagen die Gesellschaft in Klassen, welche sich in vieler Beziehung als verschiedene Menschen ansahen. Trotz alledem ist kein so großer Unterschied, als es scheint, zwischen unserer Auffassung der Dienstfrage. Zu Ihrer Zeit ließen Damen und Herren der gebildeten Klasse sich von ihresgleichen, sowenig als wir, einen Dienst erweisen, den zu erwidern sie sich geschämt hätten. Die Armen und Ungebildeten sahen sie aber wie andere Menschen an. Der gleiche Reichtum und die gleiche Gelegenheit zur Bildung haben uns jetzt alle zu Gliedern einer und derselben Klasse gemacht, welche Ihrer begünstigtsten Klasse entspricht. Die Idee von der Einheit des Menschengeschlechts, der Bruderschaft aller Menschen, konnte nie wirkliche Überzeugung und praktischer Grundsatz bei unseren Handlungen werden, ehe die Gleichheit der Lebenslage Tatsache geworden war. Zu Ihrer Zeit waren dieselben Phrasen im Brauch, aber es waren auch nur Phrasen.«
»Sind die Aufwärter auch Freiwillige?«
»Nein«, versetzte Dr. Leete, »die Aufwärter gehören der industriellen Armee an, sind noch in keine Klasse eingereiht und können daher mit den verschiedensten Beschäftigungen betraut werden, die keine besondere Geschicklichkeit verlangen. Bei Tisch aufzuwarten ist eine solche, und jeder junge Rekrut muss sie üben. Ich habe selbst vor einigen vierzig Jahren mehrere Monate lang hier in diesem Speisehause aufgewartet. Ich wiederhole, dass keinerlei Arbeit, welche die Nation verlangt, mehr oder weniger würdevoll ist. Das Individuum wird niemals als Diener derjenigen betrachtet, die es bedient, betrachtet sich auch selbst nicht als solchen und ist in keiner Weise abhängig von ihnen. Immer nur dient er der Nation. Es besteht kein Unterschied zwischen einem Aufwärter und einem anderen Arbeiter. Der Umstand, dass er persönliche Dienste verrichtet, beeinflusst unsere Anschauung nicht. Dasselbe tut ein Arzt. Der Aufwärter könnte gradesogut auf mich herabsehen, wenn ich ihm als Arzt diente, als ich auf ihn, wenn er mich als Aufwärter bedient.«
Nach Tische führten mich meine Wirte durch das Gebäude, dessen Ausdehnung, bauliche Pracht und reiche Verzierung ich anstaunte. Es schien nicht nur ein Speisehaus, sondern auch ein Haus für Vergnügungen und gesellige Zusammenkünfte für den Bezirk zu sein, und es fehlte keine Einrichtung für Unterhaltung oder Erholung.
Als ich meiner Bewunderung Ausdruck gegeben hatte, sagte Dr. Leete: »Was ich Ihnen in unserem ersten Gespräch, als ich Ihnen einen Blick auf die Stadt zeigte, über den Glanz unseres öffentlichen Lebens im Vergleich mit unserem häuslichen Privatleben sagte und über den Kontrast, welcher in dieser Beziehung zwischen dem zwanzigsten und dem neunzehnten Jahrhundert besteht, finden Sie hier illustriert. Um uns nutzlose Lasten zu ersparen, umgeben wir uns mit so wenig Hausrat, als mit unserem Komfort verträglich ist, aber unser soziales Leben richten wir mit einem Luxus ein, wie ihn die Welt nie zuvor gesehen hat. Alle industriellen und professionellen Zünfte haben so geräumige Clubhäuser wie dieses, sowie Lusthäuser auf dem Lande, im Gebirge und an der Seeküste für Sport und Ruhe in den Ferien.« |
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