Zwanzigstes Kapitel
An diesem Nachmittage fragte mich Edith beiläufig, ob ich das unterirdische Gemach im Garten, wo man mich gefunden, einmal wieder besucht hätte.
»Noch nicht«, erwiderte ich. »Offen gestanden, ich habe mich bisher gescheut, es zu tun, weil ich fürchtete, der Besuch möchte alte Gedankenverbindungen erneuern und mein geistiges Gleichgewicht stören.«
»O ja«, sagte sie, »ich glaube, Sie haben wohl daran getan. Ich hätte mir das denken sollen.«
»Nein«, sagte ich, »es freut mich, dass Sie davon gesprochen haben. Die Gefahr, wenn es eine solche gab, bestand nur in den ersten paar Tagen. Ihnen danke ich es hauptsächlich, dass ich in dieser neuen Welt so festen Fuß gefasst habe, dass, wenn Sie mich begleiten und die Geister abwehren wollen, ich gerne heute Nachmittag den Ort besuchen würde.«
Edith hatte erst Skrupel, als sie aber sah, dass es mir ernstlich darum zu tun war, willigte sie ein, mich zu begleiten. Man sah vom Haus aus durch die Bäume den Erdwall, welcher bei der Ausgrabung ausgeworfen war, und ein paar Schritte brachten uns zur Stelle. Alles war geblieben, wie es zu der Zeit war, als die Arbeit durch Auffinden des Bewohners des Raumes unterbrochen worden war, nur dass die Türe offen und die Steinplatte vom Dach entfernt war. Wir stiegen die Böschung hinab und traten durch die Türe in das dämmerige Zimmer.
Alles war noch gerade so, wie ich es zuletzt vor 113 Jahren gesehen hatte, als ich die Augen zu dem langen Schlaf schloss. Ich stand eine Zeitlang schweigend und sah mich um. Meine Begleiterin betrachtete mich heimlich mit einem ängstlichen, teilnehmenden Ausdruck. Ich streckte meine Hand aus und sie legte die ihrige hinein, ihre weichen Finger erwiderten mit ruhigem Drucke meinen Griff. Endlich flüsterte sie: »Sollten wir nicht lieber wieder hinausgehen? Sie dürfen sich nicht zuviel zumuten. Wie sonderbar muss es Ihnen sein.«
»Im Gegenteil«, erwiderte ich, »es scheint mir gar nicht sonderbar, und das ist das Auffallendste dabei.«
»Nicht sonderbar?« wiederholte sie.
»Nein, gar nicht«, entgegnete ich. »Ich fühle keine Erregung, die Sie mir zutrauen und die ich bei diesem Besuch zu fühlen erwartete. Ich verstehe alles, was diese Umgebung mir zuruft, aber ohne die erwartete Aufregung. Sie können sich darüber nicht mehr wundern, als ich selbst. Seit jenem schrecklichen Morgen, da Sie mir zu Hilfe kamen, habe ich vermieden, an mein früheres Leben zu denken, sowie ich vermieden habe, hierher zu kommen, aus Furcht vor den aufregenden Folgen. Ich bin fürwahr wie ein Mann, der ein verletztes Glied unter dem Eindruck, dass es äußerst empfindlich sei, bewegungslos hat liegen lassen und beim Versuch, es zu bewegen, findet, dass es gelähmt ist.«
»Meinen Sie, die Erinnerung hat Sie verlassen?«
»Durchaus nicht. Ich erinnere mich auf alles, was mit meinem früheren Leben zusammenhängt, aber ohne alle lebhafte Empfindung. Ich erinnere mich klar, als wenn es gestern gewesen wäre, aber meine Gefühle sind so schwach, als wenn mein Bewusstsein hundert Jahre älter geworden wäre. Vielleicht ist es möglich, auch das zu erklären. Die Wirkung einer Veränderung in unserer Umgebung ist ähnlich der eines zurückgelegten Zeitraums, die Vergangenheit scheint in weiter Ferne zu liegen. Als ich zuerst aus meinem Schlaf erwachte, erschien mir mein früheres Leben wie gestern, aber nun, da ich mit meiner neuen Umgebung bekannt geworden bin und gelernt habe, mir die wunderbaren Veränderungen, welche die Welt umgestaltet haben, klarzumachen, finde ich es nicht mehr schwer, sondern sehr leicht, mir bewusst zu werden, dass ich ein Jahrhundert geschlafen habe. Können Sie sich so etwas denken, in vier Tagen hundert Jahre gelebt zu haben? Es scheint mir wirklich so, als hätte ich das getan, und als ob diese Erfahrung mein früheres Leben so fern und unwirklich erscheinen ließe. Können Sie sich denken, wie das möglich ist?«
»Ich kann es verstehen«, erwiderte Edith gedankenvoll, »und ich denke, wir müssen alle dankbar sein, dass es so ist, denn gewiss wird es Ihnen viele Schmerzen ersparen.«
»Denken Sie sich«, sagte ich in dem Bemühen, mir ebenso wie ihr das Sonderbare meines geistigen Zustandes zu erklären, »denken Sie sich, dass ein Mann viele, viele Jahre, ein halbes Leben vielleicht, nachdem das Ereignis sich zugetragen, von einem Verlust hört. Ich glaube, sein Gefühl wird dem meinen ähneln. Wenn ich an meine Freunde in der vorigen Welt denke und den Schmerz, den sie um mich empfunden, so geschieht es mehr mit einem ernsten Mitleid, als mit scharfem Schmerz, wie an eine Trauer, die lange, lange vorbei ist.«
»Sie haben uns noch nichts von Ihren Freunden erzählt«, sagte Edith. »Hatten Sie viele, die Sie betrauerten?«
»Ich hatte, gottlob, nur sehr wenige Verwandte, keine näheren als Geschwisterkinder«, erwiderte ich. »Aber es gab Eine, keine Verwandte, doch mir teurer als irgend ein Blutsverwandter. Sie hieß wie Sie. Sie sollte bald mein Weib werden.«
»O weh!« seufzte Edith neben mir. »Denken Sie, wie muss ihr das Herz wehgetan haben.«
Das tiefe Gefühl dieses lieblichen Mädchens schlug eine Saite in meinem erstarrten Herzen an. Meine bisher so trockenen Augen flossen von Tränen über, die bis jetzt nicht geflossen waren. Als ich meine Fassung wiedergewann, bemerkte ich, dass auch sie ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte.
»Gott segne Ihr weiches Herz«, sagte ich. »Möchten Sie wohl ihr Bild sehen?«
Ein kleines Medaillon mit Edith Bartletts Bild hing an goldener Kette um meinen Hals und hatte während meines langen Schlafes an meinem Herzen gelegen; ich öffnete es und gab es meiner Begleiterin. Sie nahm es mit Ungestüm und sah das süße Gesicht lange an, dann berührte sie es mit ihren Lippen.
»Ich weiß, sie war gut und lieblich und verdient wohl Ihre Tränen«, sagte sie, »aber bedenken Sie, ihr Herzweh ist schon lange vorüber und sie ist schon fast ein Jahrhundert im Himmel.«
Ja, so war es wirklich. Wie groß auch ihr Schmerz einst gewesen, sie hat nun seit fast einem Jahrhundert aufgehört zu weinen, und meine plötzliche Bewegung beruhigte sich und meine Tränen versiegten. Sie war mir sehr teuer gewesen in meinem anderen Leben, aber das war vor hundert Jahren! In diesem Bekenntnis könnte man vielleicht einen Mangel an Gefühl finden, aber ich denke, niemand, der nicht dasselbe erlebt hat als ich, kann darüber urteilen. Als wir das Zimmer verlassen wollten, fiel mein Blick auf den großen feuerfesten Geldschrank, der in einer Ecke stand. Ich machte meine Begleiterin darauf aufmerksam und sagte:
»Dies war nicht nur mein Schlafzimmer, sondern auch meine feste Schatzkammer. In dem Schrank dort liegen mehrere tausend Dollar in Gold und ein großer Betrag in Wertpapieren. Hätte ich, als ich mich in jener Nacht niederlegte, gewusst, wie lange mein Schläfchen dauern würde, so würde ich geglaubt haben, dass das Gold in jedem Lande und jedem Jahrhundert meine Bedürfnisse gedeckt haben würde. Dass je eine Zeit kommen sollte, da es seine Kraft zum Kaufen verlieren würde, hätte ich für die wildeste Phantasie gehalten. Und doch, hier wache ich auf und finde mich unter einem Volke, von dem ich für einen Wagen voll Gold keinen Laib Brot kaufen kann.«
Wie zu erwarten war, machte dies auf Edith durchaus nicht den Eindruck von etwas Ungewöhnlichem. Sie fragte nur: »Warum in aller Welt sollte es anders sein?« |
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