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Edward Bellamy - Das Jahr 2000 - Ein Rückblick auf das Jahr 1887 (1888)
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Sechzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen stand ich etwas vor der Frühstückszeit auf. Als ich die Treppe hinabging, trat Edith aus dem Zimmer, welches der Schauplatz unserer Begegnung an jenem Morgen war, der in einem früheren Kapitel beschrieben worden ist, in den Vorsaal.
»Ach«, rief sie mit einem reizenden launigen Ausdruck, »Sie wollten gewiss wieder ungesehen hinausschlüpfen, um einen einsamen Morgengang zu machen, der einen so schönen Eindruck auf Sie gemacht hat. Aber Sie sehen, diesmal bin ich zu früh für Sie auf; ich habe Sie ertappt.«
»Sie legen zu geringen Wert auf die Wirkung Ihrer Heilung«, sagte ich, »wenn Sie glauben, dass so ein Gang jetzt noch schlimme Folgen haben könnte.«
»Es freut mich zu hören«, entgegnete sie. »Ich wollte hier Blumen auf den Frühstückstisch stellen, als ich Sie herunterkommen hörte, und es schien mir etwas Verstohlenes in Ihren Schritten auf der Treppe zu liegen.«
»Sie tun mir unrecht«, erwiderte ich. »Ich hatte nicht im mindesten die Idee, auszugehen.«
Trotz ihrer Bemühung, den Eindruck zu verwischen, als wäre das Zusammentreffen nicht ganz zufällig gewesen, hatte ich einen dunklen Verdacht, der später auch bestätigt wurde, dass dieses süße Geschöpf, infolge ihrer sich angemaßten Vormundschaft über mich, die letzten zwei oder drei Morgen unerhört früh aufgestanden sei, um mir die Möglichkeit abzuschneiden, auf eigene Faust herumzuwandern, wodurch ich wieder so erregt werden könnte, wie voriges Mal. Sie erlaubte mir, ihr bei Anordnung des Frühstücksbouquets zu helfen und ich folgte ihr in das Zimmer, aus dem sie aufgetaucht war.
»Sind Sie Ihrer Sache gewiss«, fragte Sie, »dass Sie diese schrecklichen Gefühle, die Sie an jenem Morgen hatten, ganz überwunden haben?«
»Ich kann nicht sagen, dass nicht Zeiten kämen, in denen ich entschieden sonderbar fühle«, bemerkte ich, »Augenblicke, wo meine persönliche Identität eine offene Frage ist. Nach meiner Erfahrung wäre es zuviel, zu verlangen, dass ich nicht gelegentlich solche Gefühle haben sollte, aber ich denke, die Gefahr ist vorüber, dass ich so ganz den Boden unter meinen Füßen verliere, wie an jenem Morgen.«
»Ich werde nie vergessen, wie verstört Sie damals aussahen«, sagte sie.
»Wenn Sie mir lediglich das Leben gerettet hätten«, fuhr ich fort, »möchte ich vielleicht Worte finden können um meine Dankbarkeit auszudrücken, aber Sie haben mir den Verstand gerettet, und da gibt es keine Worte, die meine Schuld Ihnen gegenüber nicht herabsetzen würden.« Ich sprach erregt und ihre Augen wurden feucht.
»Es ist zu viel alles das zu glauben«, sagte sie, »aber es ist sehr schön, Sie so sprechen zu hören. Ich habe sehr wenig getan; ich weiß nur, dass Sie mir sehr leid taten. Mein Vater glaubt, es dürfte uns nichts in Erstaunen setzen, was wissenschaftlich erklärt werden könnte, wie dieser Ihr langer Schlaf, aber wenn ich mich an Ihre Stelle versetze, schwindelt mir der Kopf; ich weiß, ich hätte es nicht ertragen können.«
»Das würde davon abhängen«, entgegnete ich, »ob Ihnen in Ihrer Lage ein Engel mit seiner Teilnahme zu Hilfe käme, wie mir.« Wenn meine Züge überhaupt die Gefühle ausdrückten, die ich für dieses holde, liebliche Mädchen, das die Rolle eines Engels bei mir gespielt, zu hegen das Recht hatte, so muss der Ausdruck voll höchster Anbetung gewesen sein. Dieser Ausdruck, oder meine Worte, oder beides zusammen, ließen sie mit reizendem Erröten die Augen niederschlagen.
»Es muss für Sie geradezu überwältigend gewesen sein«, sagte ich, »einen Menschen zum Leben erweckt zu sehen, der einem fernen Jahrhundert angehörte und allem Anscheine nach schon hundert Jahre tot war.«
»Es schien allerdings zuerst über alle Beschreibung sonderbar«, sagte sie, »aber als wir uns in Ihre Stelle zu versetzen und uns vorzustellen versuchten, wie viel sonderbarer es Ihnen vorkommen müsse, glaube ich, vergaßen wir unsere eigenen Gefühle; ich weiß wenigstens, dass ich es tat. Es schien dann weniger überraschend als interessant und rührend, mehr als irgend etwas, das man je gehört hatte.«
»Aber kommt es Ihnen nicht wunderbar vor, mit mir bei Tisch zu sitzen, wenn Sie daran denken, wer ich bin?«
»Sie erscheinen uns nicht so fremd, als wir Ihnen erscheinen müssen«, antwortete sie. »Wir gehören einer Zukunft an, von der Sie keinen Begriff haben konnten, einer Generation, von der Sie nichts wussten, bis Sie uns sahen. Aber Sie gehören einer Generation an, zu der unsere Vorfahren gehörten. Wir wissen alles darüber; die Namen von vielen sind uns sehr vertraut. Wir haben Ihre Lebensweise und Ihre Denkweise studiert; nichts was Sie sagen oder tun überrascht uns, während wir nichts sagen und tun können, was Ihnen nicht fremdartig erscheinen muss. Sie sehen also, Mr. West, dass, wenn Sie fühlen, dass Sie mit der Zeit sich an uns gewöhnen können, Sie nicht erstaunt sein dürfen, wenn Sie von Anfang an kaum ein Fremder für uns waren.«
»Von dieser Seite habe ich es nicht betrachtet«, erwiderte ich. »Was Sie sagen, ist sehr wahr. Man kann leichter tausend Jahre zurück als fünfzig Jahre voraus blicken. Ein Jahrhundert bietet keinen sehr langen Rückblick. Ich könnte Ihre Urgroßeltern gekannt haben. Möglicherweise habe ich sie gekannt. Haben sie in Boston gelebt?«
»Ich glaube.«
»Sie wissen es also nicht gewiss?« »Ja«, antwortete sie, »ich glaube sicher.« »Ich habe einen großen Bekanntenkreis in der Stadt gehabt«, sagte ich, »Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass ich sie kannte, oder von ihnen gehört habe. Vielleicht war ich gut mit ihnen bekannt. Würde es nicht interessant sein, wenn ich Ihnen z.B. von Ihrem Urgroßvater erzählen könnte?«
»Sehr interessant.«
»Kennen Sie Ihre Genealogie gut genug, um mir sagen zu können, wer Ihre Voreltern in dem Boston meiner Zeit waren?« »O, ja.«
»Vielleicht nennen Sie mir dann einmal einige Namen.« Sie war beschäftigt, eine widerspenstige grüne Ranke einzureihen und antwortete nicht gleich. Schritte auf der Treppe verkündigten, dass die anderen Familienmitglieder herunter kamen; so sagte sie nur: »Vielleicht später einmal.«
Nach dem Frühstück schlug mir Dr. Leete vor, mir das Zentral-Warenhaus zu zeigen und wie die Waren verteilt werden, was mir Edith schon beschrieben hatte. Als wir das Haus verließen, sagte ich: »Ich lebe nun schon mehrere Tage unter höchst ungewöhnlichen Verhältnissen in Ihrem Hause. Ich habe noch nicht über diesen Umstand gesprochen, weil noch so viele andere, noch ungewöhnlichere Umstände zu berücksichtigen sind. Aber jetzt, da ich anfange wieder etwas Boden unter meinen Füßen zu fühlen und zu empfinden, dass ich nun einmal hier bin und mich nach besten Kräften darein finden muss, will ich mit Ihnen darüber sprechen.«
»Ich bitte Sie«, erwiderte Dr. Leete, »sich nicht darüber Sorge machen zu wollen, dass Sie als Gast in meinem Hause sind, denn ich beabsichtige, Sie noch lange zu behalten. Bei all Ihrer Bescheidenheit müssen Sie doch einsehen, dass ein Gast wie Sie eine Akquisition ist, die man nicht so leicht wieder aufgibt.«
»Sie sind sehr gütig, Herr Doktor«, sagte ich. »Es würde ja töricht von mir sein, wenn ich übertrieben feinfühlig darüber sein wollte, die zeitweilige Gastfreundschaft eines Mannes anzunehmen, dem ich es verdanke, dass ich nicht noch immer das Ende der Welt als lebendig Begrabener erwarte. Aber wenn ich dauernd ein Bürger dieses Landes sein soll, so muss ich eine Stellung haben. Zu meiner Zeit würde ein Mann in der unorganisierten Menschenmenge nicht bemerkt worden sein und hätte sich, wenn er stark genug dazu gewesen wäre, irgendwo eine beliebige Stellung verschaffen können. Aber heutzutage ist jedermann ein Teil eines Systems, mit einer bestimmten Stellung und Tätigkeit. Ich stehe außerhalb des Systems, und sehe nicht, wie ich hineinkommen könnte; es gibt kein Mittel hineinzukommen, außer man ist darin geboren, oder man kommt als Auswanderer aus einem anderen System.«
Dr. Leete brach in ein herzliches Lachen aus und sagte: »Ich gebe zu, unser System ist mangelhaft, da es Fälle wie den Ihrigen nicht vorgesehen hat, aber niemand erwartete einen Zuwachs zu der Welt als auf natürlichem Wege. Sie brauchen übrigens keine Sorge zu haben, dass wir nicht mit der Zeit Ihnen Beschäftigung und Stellung verschaffen könnten. Sie sind bisher nur mit den Gliedern meiner Familie in Berührung gekommen, doch sie dürfen nicht denken, dass ich ein Geheimnis aus Ihrem Hier sein gemacht hätte. Im Gegenteil, Ihr Fall hat schon vor Ihrer Erweckung, und noch mehr seit derselben das tiefste Interesse bei der Nation erregt. Mit Rücksicht auf Ihren Ungewissen nervösen Zustand, hielt man es für das Beste, dass Sie zuerst ausschließlich in meiner Pflege bleiben und durch mich und meine Familie einen allgemeinen Begriff von der Welt erhalten sollten, in die Sie gekommen, ehe Sie die Bekanntschaft ihrer Bewohner machten. Man hatte keinen Zweifel über die Tätigkeit, die Sie in der Gesellschaft einnehmen würden. Nur wenige haben es in ihrer Gewalt, der Nation einen so großen Dienst zu leisten, als Sie, wenn Sie mein Dach verlassen werden, woran Sie aber noch lange nicht denken dürfen.«
»Was kann ich denn tun?« fragte ich. »Sie denken vielleicht, ich verstände ein Geschäft, wäre ein Künstler, oder besäße sonst eine besondere Geschicklichkeit. Ich versichere Sie, nichts von dem allen ist der Fall. Ich habe in meinem Leben nicht einen Dollar verdient und habe nicht eine Stunde gearbeitet. Ich bin stark und kann ein gewöhnlicher Arbeiter werden, weiter nichts.«
»Wenn dies der beste Dienst wäre, den Sie der Nation leisten könnten, so würden Sie finden, dass diese Beschäftigung für so ehrenvoll gilt, als jede andere«, bemerkte Dr. Leete, »aber Sie können etwas anderes noch besser tun. Sie sind natürlich der Meister aller Geschichtsschreiber über die Fragen, welche sich auf das soziale Verhältnis des letzten Teils des 19. Jahrhunderts beziehen, eine für uns ausnehmend interessante Periode der Geschichte; und wenn Sie mit der Zeit sich hinlänglich mit unseren Institutionen werden vertraut gemacht haben und bereit sind, uns über diejenigen Ihrer Zeit zu belehren, werden Sie finden, dass der Lehrstuhl eines Professors an einer unserer Lehranstalten Ihrer harrt.«
»Sehr schön! sehr schön!« sagte ich und fühlte mich durch einen so praktischen Vorschlag über einen Punkt, der mich zu beunruhigen anfing, sehr erleichtert. »Wenn das 19. Jahrhundert die Leute wirklich so anzieht, würde allerdings eine Beschäftigung für mich gefunden sein. Ich glaube, es gibt nichts anderes, womit ich mein Brot verdienen könnte, und für eine solche Stellung darf ich ohne Überhebung besonderer Befähigung mich rühmen.«

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