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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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VIII.

Meine Plattfüße haben mir die Ehre erspart, aktiver Soldat zu werden; sie scheinen auch jetzt gegen die Ehre zu rebellieren, vor Verdun oder Reims oder an der Somme von den Ratten gefressen zu werden.
Das Regiment lag bis jetzt in „ruhiger Stellung". So ruhig, dass sogar die arg ramponierte Pietät wieder notdürftig zu ihrem Recht kommen kann. Die schon halb verwesten Toten werden wieder ausgegraben und — Freund und Feind fein säuberlich geschieden — in Massengräbern beigesetzt. Keine angenehme Beschäftigung. Öfter bleiben trotz größter Vorsicht die Hacke oder der Spaten in ihnen hängen. Oft läuft die schon blutleere Brühe durch die dünnen Bretter. Der bestialische Gestank ist wie ein Protest der Toten. Aber was sein muss, muss sein, vor allen Dingen Ordnung, und in erster Linie beim Militär. Es fallen noch genügend, hüben und drüben, die zwischen den Gräben liegen bleiben und denen trotz tagelangem Wimmern und Schreien keine Hilfe werden kann.
Jeder sinnt, wie er sich vor der großen Ehre, diesem Heldentod, drücken kann.
Ein bekanntes Rezept ist die Geschlechtskrankheit. Viele grübeln, wo sie einmal eine kranke Frau erwischen können.
Auch beim Gewehrreinigen passiert öfter etwas. Die Dinger gehen so leicht los; aber die Sache riecht schon verdächtig. Und eine verkrüppelte Hand? Man möchte doch möglichst billig davonkommen.
Um den Nahschuss zu verschleiern, ist ein Kommissbrot gut, das man vorhält, damit sich der Pulverdampf in ihm fängt. Eine Handgranate, hinter einem Baum oder einer Wand abgezogen, dass die Splitter nur das hingehaltene verlängerte Rückgrat erreichen können, soll auch nicht schlecht sein.
Ich wäre also dumm, wenn ich jetzt die Gelegenheit nicht beim Schopf nehmen würde, die Sache mit meinen Plattfüßen.
Der Herr Stabsarzt, dem ich vorgestellt werde, ermuntert mich: „Werden wir bald kuriert haben. Sie bekommen Einlagen." Dann werden mir die Füße bis zu den Oberschenkeln einbandagiert. Die Fersensehnen sind stark entzündet. Ich muss ins Bett.
Bayern liegen hier; doch ich hüte mich, mich als Landsmann vorzustellen. Sie sind mir zu urwüchsig in ihrer Naivität und Brutalität.
Wenn morgens die französische Arbeiterfrau kommt, um den Saal reinzumachen, ist die ganze Gesellschaft wie aus dem Häuschen. Hilflos steht die Frau mit dem blassen Gesicht unter den erregten Bauernsöhnen, die wohl ihre Sprache nicht verstehen, aber auch nicht verstehen wollen, sondern in ihren Gebärden und Gesten zu erkennen geben, dass sie in jeder Frau nur ein Geschlechtsobjekt sehen. Doch sie bleibt kühl und schweigsam, seufzt nur gelegentlich und schaut über alles hin, als suche sie durch Wände und Ferne ihren Mann, der auch sein Vaterland verteidigt.
Man spricht über die Schuld am Kriege. „Die Russen, die Engländer, die Franzosen sind schuld", sagen die Bayern.
Da geschieht, was ich nie vergesse: Die kleine Frau lässt ihren Scheuerlappen in den Eimer fallen, richtet sich an ihrem Besen hoch, macht mit der Hand eine bittende Bewegung, und sagt in gebrochenem Deutsch: „Internationaler Kapitalismus ist schuld! Internationale der Arbeiter kaputt. Alle verraten, nur einer nicht in Allemagne: Liebknecht!" Sie arbeitet dann ruhig weiter, aber sie kann ihre Tränen nicht verbergen.
Ich auch nicht.
Ich stelze auf sie zu und gebe ihr die Hand. Wir sehen uns nur an, sagen nichts zueinander. Wir hätten wohl auch nicht sprechen können, wenn wir dieselbe Sprache gesprochen hätten. Dann nimmt sie ihren Eimer und verschwindet. Sie darf ja nicht in den Verdacht kommen, ihr Vaterland zu verraten. Auch ich muss mich hüten.
Anderntags ist das provozierende „Wui, wui" der Bayern verstummt.
Jetzt komme ich dazu, mich zu sammeln, zu schreiben und zu lesen.
Das ist nicht leicht. Beim Lesen überwältigt mich der Eindruck. Beim Schreiben wächst mir der Stoff ins Uferlose; ich finde kein Ende. Und sammeln?
Warum verrosten all jene wertvollen Maschinen hier im Hof, die früher in dieser Fabrik, einer Weberei, die jetzt als Lazarett dient, gestanden haben? Warum dürfen die französischen Kinder ihre schönen Äpfel nicht an uns verkaufen? Warum müssen sich Schwerverwundete aufrichten oder zumindest, wenn sie noch bei Bewusstsein sind, „Haltung" im Liegen einnehmen, wenn der Stabsarzt zur Visite kommt? Warum müssen die Betten nach der Schnur ausgerichtet werden? Warum müssen die Pantoffeln genau drei Zentimeter vor dem Bett stehen? Warum stehen auf jede „Übertretung" vierzehn Tage Arrest?
Für Schwindsüchtige soll die frische Luft an der Front gut sein. Mein Nachbar hat ein steifes Handgelenk. Der Arzt schreibt ihn k. v. Verwundete kommen, massenweise; es muss immer wieder Platz gemacht werden.
Am Abend sitzen wir im Leseraum im Erdgeschoß. Drei Hamburger tragen unpolitische Zoten vor. Die Vaterlandsverteidiger vertreiben sich auf ihre Art die Langeweile.
Eines Abends erscheinen drei Offiziere und bleiben während der Vorträge. Aber sie gehen enttäuscht wieder. Der Schlussrefrain des Couplets lautet:
„Und weiter können wir nichts sagen, Es sind drei Maulaffen im Saal."
Das scheint den Offizieren nicht zu gefallen. Einige Tage später beginnt so eine Art vaterländischer Unterricht. Aber die gemeinen Soldaten haben kein Interesse an dieser Wissenschaft. Von dreihundert, die am Anfang abends zusammenkamen, kamen nach drei Tagen nur noch zehn.
Zeitungen ekeln mich an. Ich weiß schon so, dass wir dauernd an allen Fronten siegen. Je mehr wir siegen, desto ferner ist das Ende.
Mir graut, wenn ich sie so liegen sehe, mit zerfetzten Gesichtern, verstümmelten Gliedern. In der schweren Station liegt einer im Wasser, dem das Rückgrat tropfenweise ausläuft. Ein zweiter singt ununterbrochen das Deutschlandlied, ein dritter betet, ein vierter kommandiert in einem fort.
Da ist es schon besser, der Schädel wird durch einen Querschläger gleich abgedeckt.
Ich selber liege in einem weiß überzogenen Bett, bin meine Läuse los und kann doch nicht liegen. Abgesehen von dem unerträglichen Jucken unter der Bandage — ich verzweifle vor Langeweile, denn ich denke nur an Sophie und dann an Anna und die Genossen.
Die Geschwulst an meinen Füßen geht aber rasch zurück. Ich darf sogar ausgehen. Was sie wohl für Augen machen würden, wenn ich unverhofft käme?
Das ist jedoch nicht leicht, und das haben vor mir schon andere versucht.
Walter von den Gardegrenadieren hat eine Knieverletzung, die er hegt und pflegt, als hinge davon sein Leben ab.
Mein Knie", erzählt er mir, „wäre vielleicht längst wieder in Ordnung, wenn ich es nicht so gut behandeln würde. Vor jeder Visite wird es ,massiert': mit den Handballen bearbeitet. Ich wäre längst in Deutschland, wenn der Kerl nicht darauf versessen wäre, mich zu operieren. Seh dich bloß vor, der Schinder sucht sich unter den Soldaten seine Versuchskarnickel für seinen Privatfimmel."
„Bei mir gibt es doch nichts zu operieren."
„Das denkst du", klärt mich Walter auf. „Dem mit den Krücken, im zweiten Bett vor dem Fenster, hat er schon vor Monaten die Beine gebrochen, und bis heute kann er mit keinem Fuß auftreten. Nun sollen sie ihm zum zweiten Male gebrochen werden."
„Bei mir wird er kein Schwein haben."
„Dann wirst du bald k. v. sein!"
Wir gehen an Gärten vorbei, auf die Landstraße zu. Ein Bataillon Infanterie kommt vom Ausmarsch zurück. Die Musik spielt den Fridericus-Marsch und fällt in „Deutschland, Deutschland" über. Die Zivilbevölkerung steht stumm an der Straße und weicht schüchtern den Offizieren aus. Ein alter Mann behält seine Mütze auf dem Kopf. Der junge Oberleutnant bleibt vor ihm stehen und schaut ihn an.
Der Alte rührt sich nicht, ist ganz verblüfft, weiß nicht, was der Offizier von ihm will.
Da schlägt ihm der junge Held mit der Reitpeitsche links und rechts und mit aller Kraft ins Gesicht. Der Alte taumelt, greift aber immer noch nicht nach seiner Mütze, sondern sucht sein Gesicht mit den Armen zu schützen.
Einige weitere Hiebe über den Kopf, und die Mütze fliegt herunter.
„Gesindel!" knirscht der junge Held mit dem E. K. erster und zweiter Klasse.
„Deutschland, Deutschland über alles" endet die Kapelle.
Keinen Laut hat der alte Mann von sich gegeben. Er hebt zitternd seine Mütze wieder auf. Auf seinem Gesicht brennen die frischen Striemen und die Scham der Erniedrigung. Seine Landsleute blicken lauernd zu ihm hin, aber keiner darf offen seine Solidarität mit ihm zeigen, wenn er nicht selbst unter die Reitpeitsche geraten will.
„Wenn diese Menschen einmal Luft bekommen", sagt Walter nach einer Weile nachdenklich vor sich hin, „dann Gnade Gott dieser Bande. Man muss sich schämen, ein Deutscher zu sein. Man darf sich nirgends wieder sehen lassen. Ich habe den Vormarsch in Belgien mitgemacht. Von dort ist mir ein ähnliches Erlebnis in Erinnerung.
Die Leute in Charleroi hatten jeden Tag Einquartierung und waren schon immer auf das Schlimmste gefasst. Wir bezogen Quartier bei einer älteren Frau und ihren zwei erwachsenen Töchtern. Sie empfingen auch uns mit ängstlichen Mienen, waren aber dann froh, dass wir sie als Menschen behandelten. Mutter und Töchter mussten abends durch unser Zimmer, das einzige, das sie hatten, um in der kleinen Kabine eine halbe Treppe tiefer in dem verbauten Häuschen an der Erde zu schlafen. Wir überließen ihnen ihre Stube wieder, besorgten frisches Stroh, richteten uns unten ein und saßen abends zusammen. Die Männer der beiden Töchter standen im belgischen Heer. Ich habe mit diesen Leuten die schönsten Abende im ,Feindesland' erlebt. Sie gaben alles, was sie hatten, und wir ebenfalls. Wir konnten uns auf flämisch auch ganz gut verständigen, weil ich Platt spreche.
Bis der Offizier vom Ortsdienst kontrollierte. Wir mussten auf Befehl die gute Stube beziehen, und die drei Frauen wurden hinuntergejagt in die Kabine. Wir machten uns dann ein Lager auf dem Fußboden zurecht und brachten die Betten auf den Boden. Eine Kontrolle erinnerte uns am anderen Tage an unsere Soldatenpflicht, die Betten auf jeden Fall zu verlausen. Ehe es aber soweit kam, wurde uns ein anderes Quartier — in einem zugigen Schuppen — angewiesen. Zwei Tage später flogen wir in Stellung."
Als ich Walter frage, ob an den Berichten von den Gräueltaten der belgischen Franktireure etwas Wahres sei, erklärt er sonderbar lächelnd: „Ja, etwas Wahres ist dran. Sieh, wenn dieser alte Mann, der ganz harmlos steht und vergisst, seine Mütze vor uns Helden abzunehmen, dem Hund auch nur einen Schlag zurückgegeben hätte, und von seinen Landsleuten wären ihm einige beigesprungen, dann wäre der Überfall durch Franktireure fertig gewesen, und die ,Rädelsführer' hätten vielleicht innerhalb vierundzwanzig Stunden an irgendeiner Mauer oder auf einem Sandhaufen gelegen. Vielleicht hat der eine oder der andere, dem man die Vaterlandsliebe auch mit dem Stock schon in der Schule beigebracht hat, sogar geschossen; aber das ist nur ganz vereinzelt vorgekommen. Und wenn die Einbrecher — denn Belgien wurde doch einfach überrumpelt — mit Waffen empfangen werden, dann ist es meiner Ansicht nach immerhin ein eigenartiger Rechtsbegriff, dass die Einbrecher sich noch moralisch entrüsten und in der ,Notwehr' wahllos Greise, Frauen und Kinder, sogar Säuglinge ermorden. Der deutsche Geist wird uns noch teuer zu stehen kommen!"
Vor dem Herrn Stabsarzt geht ein etwa vierzigjähriger Mann, vielleicht das zehnte Mal, hin und her.
„Gehen Sie noch einmal auf und ab. — Noch einmal, etwas rascher!"
Der Mann ist nackend. Er hinkt mit dem linken Fuß, den er nicht durchdrücken kann, offenbar infolge einer Verwundung, die über der Kniekehle eine starke Narbe hinterließ.
Ich stehe schon zehn Minuten und wundere mich, warum die hübsche Schwester so schmunzelt und warum sie den Stabsarzt öfter verstehend anlächelt. Da sehe ich, wie sich beide an einem gemeinsamen Objekt ergötzen.
Die Geschlechtsteile des nackten Frontsoldaten reagieren in ihrer Bewegung auf den hinkenden Gang. Wer weiter keine Sorgen hat, der kann sich an der Bewegung der Geschlechtsteile dieser abgemagerten „Frontochsen" ergötzen. Die Schwester scheint weiter keine Sorgen zu haben, und der Herr Stabsarzt scheint ihr gern jeden Wunsch zu erfüllen.
Nun stehe ich vor dem Stabsarzt, drehe die Füße nach außen, nach innen, zeige ihm die Fußsohlen und lasse mir die Fesseln und Waden betasten, um zuletzt zu vernehmen: „Wir werden Ihre Füße in Ordnung bringen, aber Sie müssen sich einer Operation unterziehen." Er schaut mich durch seine goldene Brille lauernd an und ermuntert mich: „Die Sache ist völlig gefahrlos. Sind Sie damit einverstanden?"
Ich wende ein, dass meine Füße von Geburt an ohne Wölbung sind, ich jedoch in elastischen Schuhen ohne Beschwerde gehen, sogar sehr gut gehen kann, nur die steifen harten Stiefel nicht tragen könne.
„Wollen Sie also den Krieg in Filzlatschen mitmachen?"
Ich schweige. Ich würde zehn Jahre meines Lebens darum
geben, könnte ich dieser Schwester mit den gepflegten Fingern
und den hübschen Zähnen eine Ohrfeige geben. Nur eine
Ohrfeigel
„Seien Sie doch vernünftig, Sie sind doch kein Kind, es ist auf jeden Fall zu Ihrem Vorteil", fährt der Herr Stabsarzt fort. Die Schwester macht auf Zureden des Arztes Notizen. Ich befürchte, dass schon Zeit und Umstände festgelegt werden für das Experiment, zu dem ich das Karnickel sein soll, und antworte: „Ich kann meine Einwilligung zu einer Operation nicht geben, Herr Stabsarzt."
Der schien darauf gar nicht gefasst zu sein. Er dreht sich langsam um und blinzelt mich bösartig an. „Sie glauben wohl, wir haben hier einen Luftkurort", zischt er bissig. „Sie sind hier, um geheilt zu werden, nicht zum Spazierengehen.“ Du kannst mich — denke ich.
„Ü berlegen Sie sich's noch mal", entlässt er mich. „Sie sind doch keine Memme?" Ich bin aber doch eine Memme und habe mir vorgenommen, eine solche zu bleiben, trotz neuer Bandagen und trotz Entziehung des Spazierganges.
Unter denen, die klopfenden Herzens die deutsche Grenze grüßen, bin auch ich. Mir ist, als sei ich der Hölle entronnen; und nicht nur mir allein. Klopfenden Herzens fahren alle der Heimat entgegen.
Der Kriegsrausch ist ja auch längst verflogen, die Lüge vom „Verteidigungskrieg" brutal entlarvt. Deutschlands Grenzen sind frei, und doch bleibt die Faust in der Tasche!
Sie tappen im Dunkeln, die Millionen Frontsoldaten. Sie sind weiter Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über sie hat.
Wie lange noch?

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