Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
http://nemesis.marxists.org

V.

Drei Wochen liegen wir schon in dem Tanzsaal in dem kleinen Städtchen in Schleswig-Holstein. Drei Wochen haben wir die Augen gerollt, den Kopf bewegt, Kniebeuge und „Rumpf vorwärts beugt" gelernt. Grüßen können wir auch schon und dürfen zum ersten Mal Besuch empfangen und ihn abends zum Bahnhof bringen.
Um vier Uhr — als alle beim Kaffee sitzen, jeder seinen Napf voll vor sich, seine Frau, Mutter oder Liebste daneben — geht der „Unteroffizier vom Dienst" durch den Saal. Jeder springt vorschriftsmäßig auf, klatscht die Hände an die Hosennaht und setzt sich wieder. Alles klappt vorzüglich, bis die Reihe an mich kommt. Ich bleibe sitzen.
Sophie bittet mich, „vernünftig" zu sein und mir nichts „einzubrocken". Ich jedoch bin in meinem Leben noch nie „vernünftig" gewesen. Der Unteroffizier geht auch an mir vorüber, sagt aber nichts. Nachdem bleiben noch andere — fünf oder sechs — sitzen, die scheinbar auch nicht begriffen haben, was sich für einen deutschen Soldaten gehört. Der Unteroffizier geht durch die Mitte und verschwindet.
Sophie ist besorgt. Aber sie weiß eben nicht, dass ich krank bin. Ohne Scherz, ich bin kein normaler Mensch. Nicht nur, dass ich mir lieber die Zunge hätte ausreißen lassen, ehe ich — gerade vor ihr — mich so erniedrigt hätte. Nein, man müsste mir ein anderes Hirn einsetzen, um einen brauchbaren Soldaten aus mir zu machen. Das habe ich schon vom ersten Tage an gemerkt.
Als wir zum Beispiel auf die Kammer gingen. Jeder bekommt eine alte Garnitur. Wie alt? Lassen wir das! Am Hosenschlitz kann man meist einen fleckigen Streifen schimmern sehen. Der Rockkragen ist wie gewichst. Von den übrigen Schönheitsfehlern sei der Einfachheit halber abgesehen.
Jeder ernst zu nehmende Vaterlandsverteidiger nimmt die Hose, die Jacke, die Mütze mit dem Speckrand, passt sich die Sachen an, wichst sich die Quanten dazu und stellt sich vor den Spiegel, um auszuprobieren, wie man mit Daumen und Zeigefinger von der Nase nach der Kokarde balancieren muss, um so auch ohne Spiegel die Vorderfront ausrichten zu können.
Diese einfache Soldatenpflicht — so einfach doch, wie nur denkbar — stößt bei mir schon auf eine Fülle schwerster Hemmungen. Mein Hirn hat keinen Raum für Natürlichkeit und Einfachheit.
Ich beschäftige mich zum Beispiel mit folgenden Fragen: Wieviel Geschlechtskrankheiten durch diese Hosen schon verdeckt oder wie viel Furunkel durch diese Rockkragen durchgescheuert wurden. Dann grübele ich nach, ob ich jemals Menschen antraf, deren kulturelle Bedürfnisse mit denen der hier angetretenen Vaterlands Verteidiger wetteifern konnten. Ich komme zu dem Resultat, dass man hier zurückgehen muss bis zu den verkommensten Pennbrüdern. Aber ich habe noch nicht genug mit dieser völlig überflüssigen Gehirnakrobatik, sondern überlege, ob ich einen Fall kenne, dass ein Penner die dreckigen Hosen eines anderen Penners anzieht, und ich kann trotz angestrengten Nachdenkens mich auf einen solchen Fall nicht besinnen. Bei Betrachtung der Halsbinde mache ich mir Gedanken, wie wohl der Mensch ausgesehen haben mag, der das Modell für diesen Sabberlatz entwarf. Ich komme natürlich zu keinem Ergebnis, später kommt mir so etwas wie eine leise Ahnung, dass er unserem Unteroffizier ähnlich gesehen haben mag.
Ein Mensch, das bekenne ich offen, der sich mit solchen Hirngespinsten plagt, ist eigentlich unwürdig, des Königs Rock zu tragen. Aber ich musste eben diese Ehre auf mich nehmen, wie ein Zuchthäusler nichts gegen die ihm zugefügte Ehre tun kann, Uniform zu tragen.
Ich sitze also in des Königs Rock und höre mir an, wie viel Vaterländer wir haben, wie viel Truppenteile, wie viel Chargen, wie viel verschiedene Ehrenbezeigungen, wie viel Kriegsartikel, wie viel verschiedene Vergehen, Verbrechen mit wie viel verschiedenen Strafen belegt werden können. Ich sitze steif, habe mir den ganzen Körper mit Unterwäsche sorgfältig gepolstert, mich, so gut es geht, gegen die Ehre in dem königlichen Rock isoliert.
Statt nun wenigstens aufmerksam zuzuhören, sehe ich mir die Gesichter an. Es waren doch allerhand feine Leute dabei: Referendar Ehlert, Oberlehrer Weiß, Hotelbesitzer Maslovsky, um nur einige zu nennen. Ich sehe, wie diese feinen Herren sich in den Königsröcken wohlfühlen wie die Made im Speck. Ich überlege wieder: Wo hast du schon einmal einen Menschen getroffen, den der Dreck, selbst der Dreck anderer, so wenig stört, wie diese Herren.
Bei dieser meiner Phantasterei habe ich lange nicht erfasst, dass sich der Soldat nicht mit solchen ästhetischen Schrullen plagen darf, soll er seinen Zweck erfüllen. Es ist eben Krieg. Und kaum, dass sich der Knäuel in meinem Hirn zu entwirren scheint, verschwimmt schon wieder alles.
Besagte Ehrenröcke haben nämlich blanke Knöpfe. Nachdem ich glücklich soweit bin, rein intellektuell die Notwendigkeit zu begreifen, dass ästhetische Gefühle zurückstehen müssen vor dem praktischen Zweck, sehe ich, dass ich mich in einem verhängnisvollen Irrtum befinde. Die ästhetische Seite kommt nämlich zu ihrem Recht.
Die ganze Stube, die ganze Kompanie putzt abends mit fanatischem Eifer die Knöpfe an den Röcken. Morgens beim Antreten werden alle Knöpfe sorgfältig beaugapfelt, und wehe, wenn da irgendwo nicht alles glänzt. „Wir sind doch keine Schweine!" heißt es dann.
Ich frage ein bisschen herum, was die andern so über dies und jenes denken. Sie müssen sich doch etwas denken, woher sollte sonst der Eifer kommen. Einige Proletarier sind darunter, die meinen, „man macht den Stumpfsinn eben mit, weil es keinen Zweck hat, sich dagegen aufzulehnen". Aber das sind ja nicht die eifrigsten. Da sprach ich einmal mit Weiß darüber, Maslovsky stand daneben. Die beiden putzten stets mit Feuereifer, mussten also von einem sachlichen Grund angefeuert, begeistert sein?! Und ein Oberlehrer ist doch eine wichtige Stütze des Geisteslebens!
Weiß guckt mich an — er wichst gerade seine Stiefel —, lässt beide Hände sinken, und sagt: „Was redest du denn für Unsinn, Betsoldt. Wir sind eben Soldat, was gibt's denn da noch zu fragen!" Ganz ernsthaft sagt er das, als hätte er für ein weltbewegendes Problem die lösende Formel gefunden. Maslovsky bearbeitet seinen Stiefel auf der Bank, hält ob unseres Gespräches einen Augenblick inne und sagt, als ich gehe: „Was es doch für komische Käuze gibt!", schüttelt den Kopf und lacht.
Hier kommt es wohl nur auf das Körperliche an, ist die weitere Frage, die ich aufwerfe. Alles ist auf Disziplin eingestellt, alles, auch das Unsinnigste ist nur scheinbar unsinnig, dient einem Zweck, dem des reibungslosesten Einsatzes der Kräfte. Der körperlich am besten durchgebildete Soldat ist das Ziel.
Mir fällt — nebenbei bemerkt — der „Dienst" nicht allzu schwer. Ich schreibe viel an Klaus und Alfred und an die Frauen. Diese Verbindung hält mich aufrecht. In dieser Welt lebe ich. Hier bin ich nur ein Fremdkörper. Den „Dienst" mache ich mechanisch. Ich sehe die landschaftlich schöne Gegend, spüre die Wirkung der frischen Luft, das Essen schmeckt mir, und außerdem ist dieser Aufenthalt ja gefahrlos. Ich mache alles mit, wie ein notwendiges Übel.
Wir laufen um die Wette über den Exerzierplatz nach der Scheune. Weiß pustet wie ein Sauggasmotor und kommt als einer der letzten angeschnauft. Maslovsky fällt über seine eigenen Knochen. Fabian hört mittendrin überhaupt auf zu laufen, guckt nach der Scheune hinüber wie ein kranker Affe. Fabian ist Gefangenenaufseher. An seiner guten Gesinnung ist kaum ein Zweifel.
Die körperlich Tüchtigsten sind die Arbeiter. Man braucht sie nicht — wie Weiß — erst auf das Hinterteil zu treten, wenn sie im Liegen schießen. Man braucht sie nicht mit Wasser zu bespritzen oder gar heimzuschleppen, wenn man uns tagsüber im Gelände herumgejagt hat. Der Unteroffizier braucht, wenn er durch die Front schielt, nicht erst wiederholt zu rufen, dass dort ein Fettwanst vorsteht, dort einer steht, als hätte er einen Stiefelknecht auf der Schulter unterm Rock.
Aber wie kommt es nun, dass diese vermanschten Figuren mit den Unteroffizieren und Feldwebeln so intim werden?
Sie haben Geld! Mitunter auch das „Einjährige". Es dauert nicht lange, dann sind sie selbst Gefreite oder Unteroffiziere und bringen anderen Soldatentugenden bei.
Diese Idealgestalten im Königsrock waren es auch, die, als der „Spinner" zwischen den Betten im Gang sichtbar wurde, fast den Tisch umrissen und ihr „Achtung!" durch den Saal grölten. Sie schämten sich nicht vor ihren Frauen, und ihre Frauen fanden wohl auch nichts Entwürdigendes in dem Verhalten dieses Unteroffiziers. Sie gaffen an ihm hoch wie Hennen.
Sophie ist etwas bedrückt und meint, ich würde wohl nun nichts mehr zu lachen haben. Ich jedoch bin ganz ruhig geworden. Ich kam in den vierzehn Tagen zu dem Resultat: Man macht die Menschen zu solchen Idioten, damit ihnen später das Verbrecherische ihres Tuns nicht zum Bewusstsein kommt.
Ich begleite Sophie zum Bahnhof. Nun erst können wir ungeniert sprechen. Lotte hat einen Jungen und ist sonst gesund. Tetsche hat geschrieben, er liegt in Polen im Lazarett, ist leicht verwundet. Dann packt Sophie die Liebesgaben aus. Von allen ist etwas dabei. Auch eine Aufnahme der Arbeiter und Arbeiterinnen der Granatenfabrik; alle in Arbeitskleidung an den Maschinen. Auf einem Stapel Granaten im Hintergrund ist auf einem Pappschild unschwer zu entziffern: „Gott strafe England!"
„Anna lässt sagen, du sollst schreiben, wenn du Wäsche brauchst. Sie alle hoffen, dich bald auf Urlaub zu sehen. Von Klaus soll ich dir noch diesen Brief geben."
Ich freue mich über alles. Aber diese Freude schmerzt mich.
Sophie fühlt das. „Du bist so gedrückt, Hans, ich glaube, du verschweigst mir etwas."
„Nein, du musst das verstehen. Hier ist alles so neu für mich. Ich kann mich so schlecht daran gewöhnen. Ich fühle mich unfrei. Das wird sich aber legen."
Ich kann sie nicht ansehen, denn ich lüge. Sie kann nicht miterleben, was ich erlebe, und ich kann ihr das nicht mitteilen. Sie hat das „Gott strafe England!" nicht beachtet, nicht erwähnt und kennt nur eine Sorge, dass ich mir den Urlaub in acht Tagen nicht verscherze. Sie ist hilfsbereit, ein wertvoller Mensch, blühte auf vor Freude, als sie mich sah. Aber sie weiß sich rasch mit Tatsachen abzufinden. Sie ist Frau, ganz Frau, selbstlos bis zum äußersten. Aber sie erlebt nicht mit mir die tausend Qualen der Zerfleischung. Sie sieht nicht die Doppelrolle, die ich spiele. Sie spricht mehr zu dem Soldaten als zu dem, der in diesen Lumpen steckt. Mir ist das alles so gleichgültig, so unsagbar banal. Ich denke an keinen Urlaub, ich denke nicht an die Zeit, da wir verladen werden sollen an die Front, mir macht keine Sorgen, was nach der „Achtungsverletzung" am Nachmittag folgen wird. Ich denke an Klaus und Alfred. Ich möchte den Brief lesen, er ist jedoch sehr lang; ich kann es an der Einleitung sehen. Es ist politisches Material. Die Uhr ist nach sieben. Um halb acht Uhr fährt Sophie. „Wollen wir gehen?" fragt sie nun.
Ich fühle, dass eine Welt zwischen uns steht und fühle doch den Hunger nach ihr. Ich fühle, dass ich ihr alles zerstört habe, die Freude, mir Freude zu bereiten. Ich möchte sie nicht so gehen lassen und kann doch nicht das erlösende Wort finden. „Wir müssen umkehren", mahnt sie. Wir gehen nebeneinander. Ich weiß, dass wir in zehn Minuten die Straße erreichen, unter den Menschen verschwinden, „Vorgesetzte" auf den Gruß warten, dass wir zum Bahnhof kommen werden und Sophie abfahren muss. Ich werde das Letzte verlieren: das Weib, das für mich lebt, für mich denkt, sich für mich sorgt, wie ich für sie.
„Kann ich dir noch etwas helfen, Hans?" Ein letzter Versuch ist das, die Wand zwischen uns niederzureißen. Eine verzweifelte Bitte.
Ich bleibe stehen und sehe ihr ins Gesicht. Ihr Mund ist so fest geschlossen. Ich höre ihren Atem. Die Nasenflügel arbeiten. Ihre Arme hängen herab.
„Ich möchte dich nicht verlieren, Sophie. Ich bin dir so dankbar, dass du gekommen bist. Ich bin nur so übervoll, dass ich mit dir noch nicht darüber sprechen kann. Versuche zu begreifen. Ich werde dir schreiben."
Sie hört mich regungslos an, aber ihr ernstes Gesicht beginnt zu zerfließen. „Ja, schreib mir, schreib mir alles, was du denkst, Lütting", sagt sie.
Als der Zug die Halle verlässt, ist es bereits zehn Minuten vor acht Uhr. Ich muss mich beeilen, habe nur bis acht Uhr Urlaub. Ich will mit einem Male nicht „auffallen". Mir ist es nicht mehr gleichgültig, ob ich in acht Tagen auf Urlaub fahren kann.
Aber ich hatte mir bereits etwas „eingebrockt". Der beleidigte Unteroffizier achtet fanatisch darauf, dass die Disziplin nicht vor die Hunde geht, und unser Feldwebel wartet gerade darauf, dass solch grüne Rekruten den Vorgesetzten auf der Nase herumtanzen. Mittags, als die anderen auf ihren Pritschen liegen, Briefe schreiben, oder lesen, oder ihre Lumpen flicken, treten wir mit sechs Mann zum Strafexerzieren an.
In meinem Hirn wälzt sich die Frage, wie es auf Festung sein muss oder im Zuchthaus. Wie lange der Krieg dauern kann und ob es ratsam ist, hier den Plunder in den Dreck zu schmeißen und mit einer nicht mißzuverstehenden Bemerkung meine wirkliche Meinung zu äußern.
Der Gefreite führt uns auf den Kasernenhof, lässt uns an der Mauer antreten und sagt: „Hört mal zu! Wir werden die Stunde schon rumkriegen. Wenn ich euch mal gehörig anbrülle, so deswegen, weil der Alte kommen kann. Seid also vernünftig!"
Mein Vorsatz liegt wieder im Dreck. Der Ton des Gefreiten übt eine eigenartige Wirkung aus, so etwas wie Solidarität mit ihm.
Wir kloppen die Stunde ab, am nächsten Tag die zweite, und glauben, die Sache ist erledigt.
Wir sind jedoch nicht zum Vergnügen da. Eine Woche später belegt neuer Ersatz unsere Quartiere. Wir sind schon „alte Leute" und ziehen in die Kaserne. Als der erste Urlaub gegeben wird, ziehen wir „Verbrecher" auf Wache. Ich lehne es ab, Einspruch zu erheben. Ich weiß, dass ich in diesem Falle zu dem Schaden nur noch mehr Schaden und den Spott noch obendrein haben würde.
Als Sophie den Brief erhält, stehe ich schon an der Eisenbahnbrücke und passe auf, dass sie nicht in die Luft fliegt.
Wir haben scharfe Munition, aber sie wird uns zugezählt. Ich kann mir die Situation gar nicht vorstellen, dass ich hier auf einen Menschen schießen soll; noch weniger aber, dass irgend jemand auf den Gedanken kommen könnte, diese Brücke in die Luft zu sprengen. Über sie geht starker Verkehr. Auf den Telefondrähten landet gelegentlich ein Vogel. Rechts bringen Arbeiter die Ernte aus ihren Laubengärten ein; einige Hühner suchen die Böschung ab. Sie müssen durch ein Loch aus den Gärten gekommen sein. Einige Enten liegen gelangweilt vor dem Wehr, das sicher nur ihretwegen angelegt ist an den Lauben; ein anderer Zweck, das winzige Wässerlein dort abzustauen, ist nicht denkbar.
Wenn diese Enten den Kopf aus dem Wasser nehmen, schauen sie gelegentlich auch einmal zu mir herüber, als wollten sie fragen: was bist du denn für eine komische Figur?
Ich drehe mich wieder um, gehe durch die Brücke hindurch, und sehe in den Strom der Spaziergänger hinein. Ein Soldat grüßt, innerhalb zirka hundert Meter, siebenmal. Ich rechne aus, wie viel Ehrenbezeigungen täglich in Deutschland gemacht werden.
Dann stelle ich Betrachtungen darüber an, was wohl der Feldwebel sagen würde, wenn ich meine sechs Schuss auf die Enten verwenden würde, oder auf die Hühner, oder auf die Vögel, die oben auf dem Draht sitzen. Das wäre doch gar keine schlechte Idee! Ich glaube aber selbst nicht daran, das zu tun. Nicht aus Angst vor den Folgen, ein geistig gesunder Mensch ist unfähig, einen Widersinn durch einen noch ausgewachseneren Widersinn zu übertrumpfen.
An Sophie habe ich geschrieben, dass ich nächsten Sonntag bestimmt kommen werde. Bestimmt! Wenn nicht mit, dann eben ohne Urlaubsschein... und dass sie, falls wieder etwas „dazwischen" kommt, mir Zivilkleidung bringen soll.
Was dann?
— Gleichgültig, was dann! — Einmal will ich noch bei
Sophie sein, ohne Angst vor den Aufpassern mit ihr reden, vielleicht auch Abschied nehmen.
Diese Gedanken an Sophie erhalten mich aufrecht, geben mir die Kraft, die blanken Knöpfe an den blauen Lumpen zu putzen, den Affentanz auf dem Kasernenhof scheinbar ernst zu nehmen. Es wäre sonst unerträglich.
Auch unerträglich trotz des Materials von Klaus über die „Ursachen des Weltkrieges". Ich bin enttäuscht und erschüttert zugleich. Was nützt es, wenn der eine und der andere die Wahrheit über diesen Krieg erfährt und zum Schweigen gezwungen wird? Was nützt es? In spätestens vier Wochen sind wir draußen, neue kommen — und gehen wieder, und wieder kommen neue. Wo bleibt die Tat! Irgend etwas, ein Signal, ein erlösender Schrei!
Ich weiß, was du meinst, Klaus. Oh, man hat noch soviel Zeit zum Denken! Die Zahlen werden in meinem Hirn zum Bild. Die Welt zum Kampfobjekt von Räubern, die Menschen zu Knechten dieser Räuber.
Ich sehe, wie die Kapitalmassen der Großkapitalisten und Bankkonzerne in fremde Länder wandern. Ich sehe aus diesem Geld Eisenbahnen, Straßen, Bewässerungsanlagen, Goldminen, Bergwerke wachsen. Ich sehe, wie die Intelligenz dieser Länder durch dieses Geld korrumpiert wird, wie Armeen entstehen, um den ergaunerten Reichtum zu schützen und um die Proletarier niederzuhalten und auszubeuten. Ich sehe, dass der Kapitalismus diese verbrecherische Politik auf die Spitze treiben musste, weil die Gier nach Profit ihn über den ganzen Erdball jagt, und jetzt der Kampf der Räuber untereinander entbrannt ist. Ich sehe, dass Sarajewo nur Anlass, nicht Ursache war. Ich sehe, dass die „heiligsten Güter der Nation" überall die gleichen sind. Ich sehe, wie die Menschen verblendet sind; Menschen, die nichts dafür können, dass sie als Deutsche, als Engländer, als Franzosen, als Russen geboren sind, stürzen sich aufeinander, Väter auf andere Väter, Söhne auf andere Söhne, Mütter beten für ihre Söhne um den Segen Gottes und um den Fluch Gottes für die anderen. Ich sehe, dass nur das internationale Proletariat diese Hydra vernichten kann, dass allein auf der internationalen Solidarität der Proletarier die Menschheit sich emporheben kann aus der Schande des verbrecherischen Blutrausches. Ich sehe die Opfer dieses Hexensabbats vor mir: 36531 Tote, 159165 Verwundete, 55522 „Vermisste" in eineinhalb Monaten. Fünfundzwanzig bis dreißig Millionen Menschen warten darauf, übereinander herzufallen. Ich sehe das, Klaus. Aber ich sehe, wie die Menschen die Wahrheit meiden wie die Pest.
„Was fragst du noch, wir sind Soldat!"
„Lass das niemand hören, sonst geht es dir dreckig", sagt ein Arbeiter zu mir, der mir ein Bild von seinen Kindern zeigte.
„Wache raus!"
„Was machst du für ein Gesicht, Betzoldt", sagt Wetzlaff. „Denkst wohl an deine Magda, musst schon noch acht Tage warten."
„Wird ja bald vorbei sein, die ganze Schose", meint Blumer. „Wenn sie erst Antwerpen haben, ist der Husten bald aus, die Engländer sind mit unseren Zeppelinen bald ausgeräuchert. Wir werden wohl gerade noch zurechtkommen, um den Einzug in Paris mitzumachen!"
Sophie wohnt nicht mehr bei Annas Schwester — auch daran bin ich nicht unschuldig. Ihr „Kutt!" ist Schneider und erscheint regelmäßig sonnabends auf Urlaub. Er gedenkt in der Garnison — in Stade — den Krieg abzuwarten und bläht sich in seiner schön sitzenden Uniform wie ein Kater. Mögen die andern grammweise in die Luft fliegen, wenn nur ihr Karl warm sitzt. Sie sagt das nicht, aber sie steht dem herzzerreißenden Jammer kühl gegenüber. Sie hat nur Angst, dass ihr Karl von einem andern im Katzbuckeln übertroffen werden und abschwimmen könnte.
Ihr Karl glaubt, dass ihn so leicht keiner „ausstechen" kann. Gefreiter ist er schon geworden. Seine langen Haare trägt er seitdem noch länger. Sie fallen ihm wie eine verwaschene Perücke über seinen ausdruckslosen Schädel. Seine glattrasierte Fratze unter dem schmutziggelben Haargarten verrät nur zu deutlich, dass ihn an Hinterlist und Verschlagenheit so leicht keiner übertrumpfen kann. Auf allen Schränken und Tischen stehen Bilder von diesem Germanen. Ich bin sein Freund nicht mehr, und Lieschen hasst mich, weil ich ihnen ins Gesicht sagte, dass sie die Erbärmlichkeit in Person sind.
Sophie bewohnt eine separate Stube. Die Einrichtung besteht aus einer alten Chaiselongue, einem Tisch, vier Stühlen und einem gebrauchten Schrank. An der kahlen Vorderwand erhebt sich ein altarähnliches Postament. Über diesem liegt ein großer Schal.
„Ich hatte die ganze Woche keine Ruhe", sagt Sophie, „ich dachte immer daran, dass du vielleicht wieder keinen Urlaub bekommen könntest."
„Wir haben alle Urlaub bekommen." Ich sage das absichtlich mit Nachdruck. Warum soll ich verschweigen, dass dies der Generalurlaub vor der Abfahrt an die Front ist?
Sophie deckt den Tisch, während ich mich anziehe. Wir setzen uns gegenüber — wie Mann und Frau — und essen. Wir wollen noch zu Anna und Martha gehen. Ich will noch mit Klaus und Alfred sprechen.
Wir machen uns fertig und mustern uns gegenseitig. Ihre Augen liegen so tief. Ihre hohe Gestalt bewegt sich — scheint mir — unsicherer als sonst. Sie hat noch dies und das zurechtzulegen, ist so zerstreut.
Ich stehe an der Tür und warte, bis sie fertig, ist und sage: „So, jetzt können wir gehen. Hast du auch nichts vergessen?"
Sie lacht schmerzlich und abwehrend und dennoch so verlangend, dass mir scheint, als sei ein Kuss auf diesen Mund allein ein Leben wert.
So blieben wir noch. Als wir nach einer Weile gehen, wissen wir: diese Nacht ist unsere Hochzeitsnacht.
Wir werden von Anna und Klaus mit neckenden Bemerkungen empfangen und lassen uns alles gern gefallen. Anna scheint mir so gealtert; an ihren Schläfen schimmern graue Strähnen durch, aber sie freut sich. Marthahat Nachtschicht und kommt erst nachts um zwei Uhr. Sie will uns morgen besuchen.
Klaus ist wenig redselig, wie immer. Ich weiß sein Schweigen zu deuten. Ich habe ihm einen vier Seiten langen Brief geschrieben. Ich weiß, es ist Unsinn, was dort steht. Ich weiß, dass ich noch manchen Sturm ertragen muss, ehe ich so ruhig werde wie er. Aber lasst mich doch auch einmal aufschreien, ich muss schreien, sonst gehe ich zugrunde!
Als ich nach Alfred frage, sehen sich Klaus und Anna an. Dann sagt Klaus: „Alfred muss nächste Woche Mittwoch auch fort. Er hat schon Bescheid. Sie konnten ihn nicht mehr halten, sagte man ihm, weil er aktiv ist."
Ich weiß nicht, warum ich von dieser Mitteilung so erschüttert bin. Nicht nur seine junge tapfere Frau sehe ich vor mir, wie sie von der Folter der Angst von neuem gehetzt wird. Nicht der Schmerz Alfreds allein teilt sich mir mit. Ich sehe in ihm den ruhigen, unermüdlichen, nüchternen und umsichtigen Organisator der letzten Reste der Bewegung, und in Klaus die zuverlässige rechte Hand. Klaus allein wird nicht verzweifeln, aber er wird unter der Vereinzelung schwer zu tragen haben. Der Mittelpunkt der Bewegung ist Alfred. Ich sage nichts, aber Klaus scheint meine Gedanken zu erraten. „Sie wissen, wo sie hinpacken", sagt er, „ich bin überzeugt, dass sie ihn denunziert haben, aber es ist besser, Lotte bleibt in dem Glauben, dass sie ihn nicht halten konnten. Eine Frau erträgt das nicht."
Sophie sitzt wieder so gedrückt auf dem Sofa. Anna steht auf und sagt: „Wat dat woll mol förn End nimmt." Die Stimmung ist wieder da; fehlt bloß noch die Frage, wann ich fort muss.
Ich ertrage das nicht. „Lasst uns fortgehen", schlage ich vor.
Anna schaut mich etwas spöttisch an, als wollte sie sagen: Das änderst du doch nicht. Aber als ich sie bitte, mitzukommen, ihren Mantel hole und ihr mitten auf den Mund einen Kuss gebe, kann sie sich nur dadurch wehren, dass sie mir eine Ohrfeige gibt.
Wir klopfen bei Alfred, begrüßen uns. „Kommst morgen noch mal ran", sagt er. Lotte badet den Kleinen; sie ist so schlank, so überschlank.
„Wirst du noch einmal wiederkommen?" Die Wirklichkeit schüttelt uns wieder wach, die wir uns eine Nacht gefunden haben.
Wieder beginnt die Jagd nach dem rettenden Ausweg, und wieder sind alle Türen hinter mir zu. Mag sein, dass die durch Zufall erworbene ungünstige Erfahrung das Blickfeld vernebelt. Ich fühle jedoch kein Bedürfnis, noch einmal allein durch die graue Ungewissheit zu irren. Ich weiß, ich kann nicht mit Sophie zusammen sein, sonst lade ich sofort die Spitzel auf meine Spur. Und ohnedem, ich mag nicht darüber nachdenken, es ist mir zuwider. Vierzehn Tage vielleicht noch, höchstens drei Wochen ist noch Zeit zum Überlegen, zum endlosen Überlegen, zum Selbstbetrug. Es ist Anfang Oktober, Antwerpen ist gefallen, der Siegestaumel wird immer lauter, Extrablätter steigern die „Stimmung" bis zur völligen Bewusstlosigkeit.
Martha kommt gegen Mittag und isst bei uns. Dann gehen wir zusammen zu Anna. Alfred kommt herauf. „Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen", sagt er, „es geht langsam. Aber unter diesen Verhältnissen ist es schon eine ungeheure Leistung, die Propaganda zu organisieren. Wenn erst der Winter kommt, wird auch die Begeisterung für den verfluchten Krieg verfliegen."
„Wird!" meint Klaus. „Du hast doch selbst gesagt, dass der Krieg lange dauern wird. Was redest du mit einemmal? Willst dir wohl selbst blauen Dunst vormachen, Alfred?"
„Wir können es nicht wissen, und was ist überhaupt lange? Wenn ein Krieg heute vier Monate dauert, hat er soviel Menschen verschlungen wie der Siebenjährige Krieg. Wir stecken mitten drin, und können nur, so gut es geht, dagegen anrennen, oder uns aufhängen."
„Aufhängen?" Daran habe ich noch nicht gedacht. Wohl schon darüber, dass das sich an die Front abschieben lassen ebenfalls Selbstmord ist. Ich behalte aber meine Weisheit für mich.
Anna hört schweigsam zu und sagt dann: „Di hew ick ok schon anders reden hörn, Klaus, oder is dat din Ernst nich west?" Sie sieht ihn kampflustig an. Er dreht den Kopf zu ihr hin und lacht wie ein ertappter Spitzbube.
„Hast recht, Anna", sagt er, als freue er sich, dass die ruhige Sicherheit, die über Anna gekommen ist, ein Teil seiner Arbeit ist. Alfred wühlt in seinen Taschen. Dann gibt er jedem einige mit Schreibmaschine geschriebene Flugblätter, dasselbe, das Klaus mir zusandte. „Ihr müsst versuchen, das Material an den Mann zu bringen. Das wird mehr nützen als unser Rätselraten. Die Frauen müssen einspringen, wenn die Männer nicht mehr da sind." Er reicht auch Martha und Sophie einige Exemplare. Er sagt das in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschließt. Er hat den Gestellungsbefehl in der Tasche, und unten sitzt seine Frau bei dem Säugling und wartet auf ihn. Dann steht er auf, steckt sich eine Zigarette an, gibt jedem die Hand, als ginge er zu einer Sitzung oder sonst irgendwohin. „Mach's gut, Hans", sagt er zu mir zum Abschied, „wir sind ja keine Kinder mehr, wir wissen, was uns blühen kann, aber solange wir noch da sind, muss von uns auch etwas zu merken sein."
Ich wünsche mir einen Kameraden wie Alfred oder Klaus. Aber es ist keiner dabei. Nach dem Generalurlaub wird die Stimmung nüchterner. Wir werden zwei Wochen später eingekleidet. Der Urlaub ist gesperrt. Es wird viel geschrieben, mehr als sonst. Von weit her kommt noch Besuch. Ich bin ruhig geworden. Ich werde mitgehen, wenn ich noch einmal Urlaub bekomme. Ich muss diesen Urlaub bekommen, sonst nehme ich Urlaub.
Sophie ist schwanger. Kriegstrauung ist ein „dringender" Fall.
Und ich bekam Urlaub, und durch ihn wurden die letzten Wünsche von Sophie Erfüllung. „Wenn dir etwas passieren sollte, Hans", sagt sie, „dann habe ich etwas von dir, was mir niemand nehmen kann. Kriegsunterstützung müssen sie mir auch geben. Ich werde es schon durchbringen."
Anna kocht unser Hochzeitsmahl: Schmorfleisch und Rotkohl. Klaus und Martha sind Zeugen. Martha weint, als ich, endgültig zum letzten Male, gehe. Sophie steht hochaufgerichtet, als dürfe sie durch keine Schwäche den Tag entweihen. Klaus dreht sich kurz um, als er mir die Hand gibt, er spricht so heiser, ich verstehe ihn nicht recht — der große starke Klaus! Anna gibt mir den Kuss zurück, anders, als sie ihn von mir empfangen. Wie eine Mutter, die sonst nichts mehr sagen kann. Sophie hält mich mit beiden Händen fest, um mich, wie zum letzten Male, anzusehen, und sagt als letztes Wort: „Hab Dank!"

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur