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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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II.

Ich gehe ans Fenster, sehe in die beflaggten Straßen, in ein Meer von Fahnen. In den Anlagen greift alles nach den Extrablättern. Am Bahnhof stauen sich die Menschen. Ich ziehe mich rasch an, eile hinunter in die Fremdenstube, erobere eine Zeitung.
„Lüttich im Sturm genommen!" Der fette Text der Meldung füllt fast die ganze Seite.
Walzen sie wirklich alles widerstandslos nieder? Ist es wirklich Weihnachten zu Ende? Ich käme ja nicht sofort ins Feld, müsste erst ausgebildet werden, könnte immer noch verschwinden, wenn ich an die Front abgeschoben werden soll.
Zivilisten mit ihren Pappkartons ziehen singend nach dem Bahnhof. Kirchenglocken läuten. Der Bahnhof selbst ist abgesperrt. Von der Straße aus winken die Massen den Feldgrauen zu, die Zug um Zug die Halle verlassen. „Nach Paris I" „Jeder Schuss ein Russ'." „Jeder Stoß ein Franzos'." Unzählige Aufschriften verkünden, dass die jungen Soldaten nicht wissen, was ihnen bevorsteht — oder es nicht wissen wollen.
Ich gehe zurück ins Gewerkschaftshaus, um Kaffee zu trinken. Dann mache ich mich auf den Weg zu meiner früheren Wirtin. Vielleicht weiß einer der Genossen oder sie selbst Rat. Wenn nicht, werde ich Abschied nehmen, soweit ich sie noch treffe. Fünf bis sechs wohnten immer dort. Auch Seeleute.
Anna Fidel öffnet. „Mensch, wo kommst du her?"
„Von Eilbeck."
„Keen Arbeit mehr oder is'd bi di ok so wiet? Fidel is all wech! Tetsche ok."
Tetsche? Das ist der junge Maler mit dem Mädchengesicht.
„Is ganz fein, dat du kommst, Hans! Kannst hierblieben, wenn du wüllst."
„Lang wird das wohl nicht mehr dauern", beginne ich zu erzählen. Ihr Gesicht wird immer trauriger. Sie macht die Küchentür zu, als wollte sie Lauscher fernhalten. „Wenn du hierblieben wüllst, musst du anner Papieren hebben, süs holen sie di. Tetsche haben sie auch von hier geholt. Und arbeiten kannst du ja auch nich auf deinen Namen, süs hebben sie di gliks am Flicken. Wi möt uns dat öberlegen!"
Ich spreche kurz davon, was draußen los ist. Sie steht auf, macht sich an dem Herd zu schaffen und sagt wie nebenbei: „De arm Minschen!"
Dann nimmt sie den Kaffee vom Herd, verlässt die Küche. „Klaus ist auch wieder da. Er hat Nachtschicht. Ich will ihn zum Kaffee rufen", setzt sie erklärend hinzu.
Klaus? Das ist der Steinträger mit der gedrungenen Figur, der als aktiver Soldat einem Unteroffizier mit der Faust ins Gesicht schlug, dass man ihn vom Platz tragen musste, und dem sie deswegen zwei Jahre Zuchthaus aufbrummten.
„Ist Klaus wach?" frage ich, als Anna wiederkommt.
„He treckt sich an."
Klaus kommt angeschlürft. „Morgen, Hans! Wüllst du ok wech?"
„Himmelkreuzdonnerwetter! Wisst ihr denn weiter nichts mehr als dieses ewige Wegmüssen?!"
„Brüll mi man nich so an, Hans, ick kann doch woll fragen?"
Er setzt sich auf einen Stuhl, überkreuzt die Arme. Ein Hemd mit kurzen Ärmeln lässt seine Arme bis über die Oberarmmuskeln frei; Arme wie die eines Herkules. Ein Weib stemmt auf dem Muskel des rechten Armes eine Hantel. Über seiner behaarten Brust durchbohrt ein blau eintätowierter Dolch ein rotes Herz. Er sitzt so ruhig, so sicher, so ausgeruht auf dem Küchenstuhl.
„Kannst lachen, Klaus!"
Anna zieht sich an, sie hat eine Aufwartung von zehn bis zwölf Uhr. „Kannst ja hier bleiben, Hans", sagt sie im Fortgehen. „Ich bin bald wieder zurück."
Klaus steckt sich eine Zigarette an, horcht aufmerksam zu, als ich erzähle, und antwortet: „Überall dasselbe. Auch die besten Genossen müssen in den sauren Apfel beißen. Wo sollen sie hin. Das ist es ja, man hat sich das so einfach vorgestellt. Aber nun stellt sich heraus, dass man mit den einfachsten Dingen nicht gerechnet hat. Hier war es genau so. Ich musste mich zurückziehen, die Weiber waren wie verrückt. Ich soll ihre Männer ,ins Unglück stürzen', hätte leicht reden, säße trocken. Dann kam die Haussuchung. Alles haben sie durchgeschnüffelt. Tetsche haben sie geholt, hatten ihn wohl schon auf dem Visier. Und Fidel steckte der preußische Kommiss, wie den meisten, zu tief in den Knochen. Und dass ,oben' alle umgeschwenkt sind, das hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Alfred versuchte alles, unsere Gruppe zusammenzuhalten, aber allein kann er nichts machen. Seine Frau kommt bald zu liegen. Wo soll er hin und was soll sie machen? Er muss dieser Tage auch weg." Klaus pustet den Qualm seiner Zigarette in die Ecke der Küche und sagt zum Schluss: „Dass die dummen Proleten sich auf die Führer verlassen haben, das war der Fehler. Sie sind alle feige. Für die Geldsäcke lassen sie sich umbringen, für sich haben sie keine Courage. Ich hätte gar nicht nötig, mich in die Nesseln zu setzen. Ich sitze warm mit meinen zwei Jahren Z. Aber ich meine doch, es geht um die Sache. Das haben sie nicht begriffen. Vorderhand ist alles aus, die Bande ist ja rein verrückt.
— Aber das dicke Ende kommt nach."
Ich schaue mir Klaus von der Seite an. Sein kräftiges Kinn sitzt auf dem muskulösen Hals wie aus Marmor gemeißelt. Die eine Seite seines schwarzen Schnurrbartes steht etwas nach oben, die andere kaum merklich nach unten. Seine massive Stirn ist in der Mitte durch eine große Falte geteilt. Die braunen Augen schauen traurig und scheinbar teilnahmslos an die Küchentür. Ein Bild urwüchsiger Kraft und Selbstlosigkeit.
— Wenn mir jemand helfen kann, so ist es Klaus!
Anna meint: „Jensen ist auf großer Fahrt, er ist Däne. Er hat seine Papiere hier gelassen, hat nur das Seemannsbuch mit. Jensen kommt vorderhand nicht zurück."
Klaus winkt ab. „Da fällt er gleich auf den ersten Hieb rein. Hans kann nicht dänisch, kann nicht einmal aus sprechen, wann er geboren ist. Das einzig mögliche sind andere Papiere mit einem Schein mit ,Z'. Der Schein mit ,Z'" — meint Klaus — „ist das sicherste. Er muss aber neuen Datums sein. Wenn er den vorzeigt, winken alle ab. Ich weiß das aus der Praxis. Und der Einfachheit halber muss Hans eben Hans bleiben, damit sich keiner verquatscht."
So war ich innerhalb einer Woche im Besitze der Bescheinigung, dass ich mit Schimpf und Schande aus dem Heer ausgestoßen bin. Der Schein war echt. Die ursprüngliche Schrift sachverständig ausgewaschen, die neue kräftig draufgemalt. Der frühere Inhaber desselben bekam von Klaus eine Bescheinigung, dass er während der besagten zwei Jahre als treuer, ehrlicher, zuverlässiger Arbeiter bei der Firma Piwket & Söhne gearbeitet und jedermann zu empfehlen sei. Das neue Datum des Scheines behob die Schwierigkeit der Beschaffung des letzten polizeilichen Abmeldescheines, auf den die Polizei so großen Wert legt. „Nun musst du", klärt mich Klaus noch auf, „zur Vorsicht ein paar Mal die Wohnung wechseln und als zweite Vorsicht nicht da wohnen, wo du gemeldet bist, und abwarten. Wenn innerhalb zweier Wochen nichts kommt, dann brummt der Laden. — Aber hier musst du fürs erste verschwinden, die Bude ist zu heiß."
„Wohnst erst mal bei meiner Schwester Lieschen", meint Anna. „Sie kommt morgen her. Ich werde mit ihr sprechen."
Ich nehme mit einem Gemisch von Freude und Scham zur Kenntnis, dass ich fürderhin Hans Kiefernholz heiße, letzter Aufenthalt Zuchthaus Eberach in Bayern. Meine alten Papiere gebe ich Anna mit der Bitte, sie gut aufzuheben. Ich habe das Gefühl, dass ich sie bald wieder brauche. Verdammtes Gefühl!
Ich hole mir am Abend eine andere Schlafkarte im Gewerkschaftshaus.
„Verbandsbuch?"
Ich, Hans Kiefernholz, suche nach dem Verbandsbuch von Hans Betzoldt. Ein Glück, dass Anna das Verbandsbuch von Hans Betzoldt in Verwahrung hatte, sonst war vielleicht der Kladderadatsch schon da. Ein Glück!
„Verloren?" fragt der Schaltermensch. Ich suche krampfhaft nach einer Lüge und sage: „Vielleicht aus Versehen im Koffer gelassen." Ich bezahle den vorschriftsmäßigen Aufschlag und schlafe als „Kiefernholz".
Morgens um sechs Uhr kommt die Kriminalpolizei.
Ich gebe die „linken Fieppen" hin und habe vorderhand nur den einen Wunsch, der Kerl möchte etwas schwerhörig sein, damit er mein Herzklopfen nicht hört. Er gibt mir jedoch nach kurzer Musterung meine Papiere zurück, ohne ein Wort zu sagen.
Kiefernholz ist ein behördlich zugelassener Name. Ich fühle, wie sich meine Sicherheit festigt. Ich komme nachmittags zu Anna und bin guter Laune.
„Alles klor gohn?" erkundigt sie sich. „Komm mal rin." Sie geht mit mir in die Küche und sagt: „Ich hab mit Lieschen gesprochen. Dort ist kein Platz. Ein junges Mädchen, das außer Stellung ist, wohnt bei ihr. Sie ist mit ihr in der Stube, wirst sie gleich sehen. Aber bei Frau Tiebig kannst du wohnen. Du wirst sie nicht kennen. Ihr Mädel ist aus der Erziehungsanstalt ausgerückt und war einige Tage hier. Sie muss sich noch verstecken, sonst fangen sie sie wieder ein. Du hast doch früher die kleine Else schon gesehen? Wenn es dir nicht gefällt, kannst ja wieder ausziehen."
„Warum wieder ausziehen?" Mir scheint, Anna will andeuten, dass das da wahrscheinlich nur ein Notbehelf sein kann.
„Ick kann di dat jo seggen", meint Anna dann. „Else hett noch 'n Schwester, die geit woll 'n betn uf'n Bummel. Aber dat geit di jo nix an. Du slöpst ja bloß doa!" — Und als ich mit der Antwort zögere, meinte Anna: „Ick meen man bloß, wenn du nich wüllst, sag ick ihr nix!"
„Vorderhand werd ich dort schlafen, wenn es geht", entschließe ich mich. „Ich muss mir ja sowieso Arbeit suchen und bin tagsüber weg."
Ich sitze nun in meinem neuen Heim und träume von Sophie Bäumlein, dem jungen Mädchen, das bei Lieschens Schwester wohnt.
Sie musste von Helgoland flüchten und versuchte in Hamburg Arbeit zu bekommen.
„Auf den Lohn müssen Sie verzichten", sagte man ihr. „Unsere tapferen Feldgrauen bringen noch größere Opfer." Ein Kommerzienrat sagt ihr das, der auf gar nichts verzichtet und den Lohn der Dienstboten auf Kosten der „tapferen Feldgrauen" in die Tasche steckt.
Und worin besteht meine Hilfe? Ich laufe mit Sophie bis nach Altona und rede das Gegenteil von dem, was ich denke. Markiere den „Weiberkenner", den „Skeptiker", tue „kühl" und lasse mich auslachen. Denn dieses Lachen war deutlich! So verstehend wie eine große Schwester, die sagen will: „Ach, du bist gar nicht so! Willst ein bisschen aufschneiden! Bist vielleicht ein ganz guter Kerl; ein bisschen albern, aber das gibt sich." Sie hat mich auch gar nicht ernst genommen. In der Bierhalle am Hafen zum Beispiel hat sie sich zu mir gesetzt, als ob sie zu mir gehöre, als müsse sie auf mich aufpassen! Und als das Gedränge zu arg, Zivilisten und Soldaten anzüglich wurden, hat sie sie mit ihrem lieben Lachen entwaffnet und dann zu mir gesagt: „Komm!" Dann bin ich wie ein Stummer neben ihr hergelaufen bis vor ihre Wohnung und habe mich verabschieden lassen: „Adieu, Herr Kiefernholz, lassen Sie sich doch einmal wieder sehen!"
„Adieu, Herr Kiefernholz!" Dieser Name ist bestimmt zu dem Zweck erfunden, mich zu verhöhnen. Ein Bild hat sie mir außerdem noch gegeben — auf meine Bitte —, sie wollte nicht unhöflich sein. Ich spiele mit dem Gedanken, es hier in meiner armseligen Stube aufzustellen.
Aber ich bin ja nicht mehr mein eigener Herr.
Schon an jenem Nachmittag, als entschieden wurde, wo ich wohnen sollte, fing es an. Else lachte über jede Bemerkung von mir, ein kindlich-fröhliches Lachen. Manchmal fragte sie geschickt dazwischen, nur, um mit mir sprechen zu können. Dann folgten, als ich schon bei ihren Eltern wohnte, eine Reihe Aufmerksamkeiten. Bis wir zwei Tage später im Kino saßen.
Als es dunkel wurde, spürte ich ihre Hand über der meinen. Dann legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. Ich war etwas erstaunt über die Routine, mit der die siebzehnjährige Else mit mir umsprang; wehrte aber nicht ab, sondern nahm die Zuneigung hin. Als wir gingen, nahm sie wie selbstverständlich meinen Arm. Sie schläft im Zimmer ihrer Schwester, das durch eine spanische Wand von dem meinen getrennt ist, und gab mir auf dem Korridor noch einen Kuss. Als ich im Bett lag, kam sie im Hemd und legte sich zu mir.
Ich wagte einzuwenden, dass doch Martha etwas hören könne.
Sie sagte: „Mok den Mund tau, Jung!" Dann spürte ich ihren Mund auf dem meinen, spürte ihren jungen heißen Körper und dachte gar nichts mehr.
Sie wird auch heute nacht bei mir schlafen, mich immer wieder fragen, ob ich sie nicht heiraten will, damit sie von der Angst befreit wird, wieder in die Hände der Zwangserzieher zu fallen.
Wie sie dort hinkam?
„Hab eigentlich gar keine Schuld. Mit fünfzehn Jahren ging ich mit meiner Schwester öfter an den Hafen, um Körner aufzulesen, die beim Verladen am Speicher unter den Wagen fielen. Ein Mann gab mir dann öfter eine Mütze voll, auch Bonbons oder Schokolade. Dann bestellte er mich einmal abends hin. Ich ging mit ihm in den Speicher auf den Boden. Er gab mir Kirschen und Brot und fragte mich nach meiner Schwester, meinen Eltern, zog mich plötzlich auf seinen Schoß und küsste mich. Ich wollte schreien, aber er hielt mir den Mund zu."
„Was sollte ich machen?" erzählte sie weiter. „Dann gab er mir einen Beutel voll Körner und verbot mir, meinen Eltern etwas davon zu verraten, sonst käme ich in die Erziehungsanstalt. Meine Mutter freute sich über die Körner. Ich holte neue, bis ich beobachtet wurde. Dann wurde ich untersucht und kam in die Erziehungsanstalt.
Dort bin ich fast irrsinnig geworden. Wenn ich wieder dort-
hin soll, dann springe ich lieber in die Elbe. Du musst mich also wirklich heiraten", fuhr sie dann fast weinend fort, „ich will nichts von dir haben, nur meine Freiheit. Wenn du mich nicht als Frau willst, kannst du auch wieder gehen."
Als ich zögerte — ich durfte ihr ja nicht einmal sagen, dass ich nicht Kiefernholz heiße —, brauste sie auf: „Du bist auch nicht ehrlich zu mir, Hans!"
Vielleicht kann nur ein gehetzter Teufel so einen Schrei begreifen. Vielleicht hat gerade er ein Bedürfnis, den Vorwurf der Unehrlichkeit zurückzuweisen. Ich erzählte Else an jenem Abend, warum ich bei ihnen wohne. Bis dahin wussten es nur die Eltern; vielleicht auch die Schwester?
Dass diese Schwester mir so oft begegnet, im Hof, an der Ecke von Gang und Straße; dass sie oft auf ihr Zimmer kommt, wenn sie glaubt, dass ich in meinem Zimmer bin — und sich bemerkbar macht, ist mir längst aufgefallen. Auch dass sie jetzt wieder die Treppe hochkommt, wundert mich nicht. „Else!"
„Ist nicht hier."
Martha klopft an, öffnet die Tür. „Warum sitzen Sie im Dunkeln, Herr Kiefernholz, soll ich Licht machen?" „Danke! Ich werde gleich wieder gehen." Sie bleibt an der Tür stehen. „Sie sind immer so gedrückt, gefällt es Ihnen nicht bei uns?" Sie raucht. Ihre blasse Farbe hebt sich von ihrem schwarzen Kleid gespensterhaft ab. Sie scheint absichtlich schwarze Kleider zu wählen. Sie ist über mittelgroß, schlank, fünfundzwanzig Jahre alt, eine Durchschnittsschönheit der Niedernstraße.
„Entschuldigen Sie", sagt sie dann, als ich mit der Antwort zögere, „ich wollte nicht aufdringlich sein; ich störe wohl?" „Oh, Sie stören mich nicht."
Sie bleibt einen Moment unschlüssig stehen und fährt dann unvermittelt fort: „Ich habe das Gefühl, dass Sie mich meiden,
weil ich------" sie stockt------„na, Sie wissen ja."
„Ich denke gar nicht daran; ich habe meine eigenen Sorgen." „Haben Sie keine Eltern mehr, keine Geschwister?" „Nein!"
„Müssen Sie auch bald fort?"
Ich habe schon wieder das „Himmelkreuzdonnerwetter" bereit, beherrsche mich aber. „Vorderhand nicht, später vielleicht."
„Ist das nicht schrecklich mit diesem Krieg?"
„Ja, es ist schrecklich." — Ich bin nahe daran, zu erzählen, was noch schrecklicher ist.
„Ha, mich friert!" Sie schüttelt sich und sucht nach Streichhölzern. „Ich werde mir eine Tasse Kaffee machen. Wenn Sie wollen, können Sie eine Tasse mittrinken. Else wird wohl nichts dagegen haben, trotzdem man mit ihrer Eifersucht rechnen muss."
Sie macht Licht. Die Tür lässt sie offen. Als sie den Spirituskocher ansteckt, wirft sie rasch einen Blick in den hohen altmodischen Spiegel. Als ich nach dem Grund der Eifersucht ihrer Schwester frage, fährt sie fort: „Else ist ein komisches Mädel. Ich bin zwar ihre Schwester, aber wir verstehen uns nicht gut. Sie ist so unberechenbar. Aber ich will nichts weiter sagen, das könnte falsch verstanden werden. Vielleicht werden Sie ganz gut mit ihr fertig." Sie lacht kaum merkbar, etwas geziert, als wolle sie nur ihre Goldplomben zeigen.
Der winzige Teekessel über der Flamme summt bereits. Sie holt Tassen hervor, eine kleine Kanne, Zucker und Löffel und fragt: „Soll ich Ihnen eine Tasse hinbringen oder wollen Sie hierherkommen? Mir scheint, als hätten Sie Angst vor mir?"
„Warum denn Angst?" Ich versuche zu lächeln und bestätige mir von neuem, dass ich ein erbärmlicher Waschlappen bin. Dann gehe ich in Marthas Stube und setze mich an den Tisch.
Ich weiß: wenn Else kommt, gibt es eine Szene. Ich kenne das gespannte Verhältnis zwischen beiden. Ich habe beobachtet, wie Martha ihre jüngere Schwester so von oben her behandelt; sie mit ihrem überlegenen Lächeln zur Verzweiflung bringen kann; wie sich Else einmal hinreißen ließ, ihre ältere Schwester anzufauchen: „Du Fünfgroschenhure!", und Martha ganz ruhig daraufsagte: „Sei du doch ganz still, Else!"
Aber Else kommt nicht — wie sie in den letzten Tagen öfter später kam, oft erst gegen Mitternacht — „wegen die Krimchen", sagt sie immer.
Martha bedient mich, setzt neues Wasser auf — der Teekessel fasst nur drei Tassen —, bringt Teegebäck auf den Tisch und spendiert Zigaretten. Sie hat ein Bein über das andere geschlagen. Ihr weißer Unterrock schimmert hervor. Sie hat sich die Schuhe ausgezogen, zierliche Hausschuhe angezogen und einen bunten Schal über die Schultern gelegt. Ihre sonst mehlweißen Wangen sind etwas gerötet. Ich sehe sie so zum ersten Mal.
„Gehen Sie heute abend noch fort?" fragt sie dann.
„Ich gehe noch zu Fidel."
„Ich komme ein Stückchen mit, wenn es Ihnen recht ist." Sie sieht mich fragend an.
„Mir ist es recht."
Wir schlendern am Wasser entlang, es ist schon dunkel. Das Gespräch stockt. Wie aus Verlegenheit sehe ich über Wasser und Schiffe. In den Kneipen ist Lärm. Die Wellen schlagen plätschernd an die Kaimauer. Ein Hund bellt von einem Kohlenkahn herüber. Eine Ziehharmonika spielt irgendwo das Lied von dem Grenadier.
Am Bahnhof verabschieden wir uns. Martha reicht mir die Hand und sagt: „Gute Nacht, Hans! Bleibst du lange?"
„Ich weiß nicht!" Ich sage es hart und kurz und gehe.
Bei Anna ist kein Licht. Ich gehe trotzdem hinauf, aber es öffnet niemand.
Ich habe das Bedürfnis, mich selbst zu ohrfeigen. Ich hatte versprochen, bis spätestens acht Uhr zu kommen. Jetzt ist es neun Uhr. Soll ich zu Lieschen gehen? Vielleicht sind beide, Klaus und Anna, dort. Es ist dreiviertel Stunde Fahrt, lange genug, um einzutreffen, wenn sie gerade wieder fort sind. Ich möchte auch nicht in dieser jämmerlichen Verfassung vor Sophie Bäumlein stehen. So gehe ich in die erste beste Kneipe.
Gegen elf Uhr mache ich mich auf den Weg und gehe noch einmal an Annas Wohnung vorbei. Es ist nicht hell, sie sind also noch nicht zurück. Ich hätte ganz gut hinausfahren können.
Nach elf Uhr biege ich in den Gang ein und sehe schon von weitem Martha stehen. Sie kommt mir lachend, wie einem alten Bekannten, entgegen und gibt mir die Hand.
„Bist ja schon wieder da!"
„Ich habe niemanden angetroffen."
„Das ist aber schade, das sollte ich gewusst haben. Ich wäre so gern noch mit dir zusammengewesen."
Ich seufze verstohlen und sage: „Ja, schade!"
Sie freut sich über meine Antwort. „Lass uns noch ein Bier trinken, Else ist auch da." Sie nennt den Namen eines Lokals, in dem ich noch nie war.
Auf einer Art Bühne, nur in Stufenhöhe, quälen sich ausrangierte Musikanten mit Bandonien und Blechinstrumenten. Der Raum ist qualmgeschwängert, verräuchert. Papierketten verschleiern, so gut es geht, die fast schwarze Decke. Einige Paare tanzen, andere stehen an der Schenke oder sitzen an groben Tischen im Vorraum. Ein zurückgeschlagener Vorhang deutet an, wo die „Diele" beginnt; an den Wänden sind kurze, offene Nischen. In einer der Nischen kauert Else, mit dem Kopf auf dem Schoß eines Mannes. Ihre Augen scheinen unnatürlich klein, wie in einer Geschwulst versunken, aus der die Lust nach dem Mann schreit, der mit seiner Hand zwischen ihren Brüsten wühlt.
Ich bin nur einen Augenblick überrascht. Mir wird sofort klar, dass ich nichts anderes erwarten konnte.
Nur ihre Schamlosigkeit verletzt mich und der Ärger darüber, dass sie mich so täuschen konnte. Ich drehe mich um und will verschwinden.
Da stürzt sie hinter mir her — und sieht Martha; pflanzt sich vor ihr auf; die Hände in den Hüften. „Mistaas!" brüllt sie. Ehe Martha sich fassen kann, springt sie auf sie los und schlägt ihr ins Gesicht. Dann packt sie Martha in die Haare und versucht, sie gewaltsam zu Boden zu reißen.
Martha ist völlig wehrlos, nur in einem weinerlichen Schrei macht sie dem unerträglichen Schmerz Luft.
Ich greife Else von hinten am Kragen und schleudere sie an die Wand. Da packt mich ein Kerl mit blauen, aufgeschlagenen
Hosen und gestreifter Arbeitsbluse an der Brust; aber ehe es zu weiteren Handgreiflichkeiten kommt, ist Martha an meiner Seite. Der Wirt steht zwischen uns und sagt: „Dat geit nich! Dies' Krabbe hett kein wat daun un sie springt hier up de Lud los wi'n wilde Katt'. Orntlich 'n Mors vull hebben möt se, oll dumm Gör dat, kann woll de Tid nich awtäuwen, bis se wedder binnen is."
Als ich mich unter der Tür noch einmal umdrehe, sehe ich, dass Else immer noch krampfhaft versucht, sich loszureißen. „Hund!" brüllt sie mir zum Abschied zu, „Hund, feiger, täuw man, dat du verschütt geist, dat is gewiss!"

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