VI.
  Hinter Metz werden wir ausgeladen. Es ist später Abend. Wir  marschieren feldmarschmäßig unter den Bäumen hin. Es regnet. Von ferne  hören wir Gewehrfeuer, undefinierbar wie weit, nur ungefähr die  Richtung. Sanitätsfuhrwerke, Autos, Lastwagen, Meldereiter begegnen  uns. Ein Munitionswagen überholt uns, biegt rechts in Ackerland ein.  Etwas weiter in dieser Richtung liegt unsere Artillerie mitten in einem  Acker eingegraben; Badensche Grenadiere kommen uns entgegen. „Passt  auf, die Franzose schieße von de Bäum", sagt einer. 
    „Halt!" 
    Die Zugführer bekommen Instruktionen. Wir schwärmen aus. Es ist dunkel,  wir sehen keine Stellung, sehen vor uns Wald, links eine breite, lang  hinlaufende Lichtung. Im Wald, in den Büschen vor uns sollen die  Franzosen liegen. Unsere „Stellung" ist — die flache, nasse Erde. 
    Um uns ist es still. Es wird kalt. 
    Mein linker Nebenmann hat noch kein Wort mit mir gesprochen, schaut  immer vor sich hin. Ich weiß nichts von ihm, als dass er Mantey heißt  und Pole ist. Mein rechter Kamerad ist gedienter Soldat und spricht  nicht mit Rekruten, wenigstens nicht wie ein Mensch zu einem Menschen.  Nun flucht er; er liegt wie alle in der Schützenlinie, die in  unregelmäßigen Punkten verläuft und verschwindet. 
    Die Augen starren angestrengt in die Dunkelheit, auf den aufgeregten Nerven  balancieren die Gespenster. 
    Eigenartig ist das doch, das Gefühl, das von den frischen Gräbern in  die Hirne schleicht. Sie waren so, wie man es sich vorstellte: ein  einfaches Holzkreuz; ein grüner Zweig oder ein paar liegen darauf; an  einem der Holzkreuze hing ein Helm. 
    Die sind auch so, in der Nacht vielleicht, hier angerückt. Wie viele  mögen hier schon liegen? Was würde Sophie sagen, wenn sie mich morgen  hier verscharren? Würde sie auch so mit offenem Munde und mit so großen  Augen nach Luft schnappen wie Anna? 
    Wo mag Alfred jetzt sein? Ob er auch wie ich sich fest vornimmt,  auszurücken, dann irgendwo über die Grenze marschiert und nicht mehr  zurück kann und zwischen den Gräbern den Heldentod erwartet? Ja, ja,  Hans Betzoldt, hast dir viel vorgenommen und hast dich übernommen. 
    Wollmers kriecht etwas vor, tuschelt dann mit dem Unteroffizier und  schaut dann wieder angestrengt ins Gelände. Ich weiß nicht, was sie  reden, ein „Kriegssoldat", in die Kompanie gestopft, um eine Lücke  auszufüllen, hat ja keine Ahnung. Aber Wollmers muss etwas bemerkt  haben. Ich sehe, wie die andern angestrengt in die Nacht schauen, die  langsam zu zerfließen beginnt und den vor uns hockenden feindlichen  Schützen den Schutz versagt. 
    Ganz primitiv nur, aber dennoch klar genug, sieht man sie in der  Dämmerung. Es können keine Bäume sein, auch keine Sträucher oder  Büsche. Sie stehen in gleichmäßiger Belichtung, stehen in Mannshöhe,  vielleicht nur wenige, die andern hocken wohl in ihren Löchern. 
    Vielleicht eröffnen sie unvermittelt das Feuer. Wir liegen ohne jede Deckung. 
    Die Knochen zittern mir ein wenig. In meinem Innern steigt ein  schmerzendes Würgen hoch. Ich muss mir über die Augen wischen, möchte  etwas fortwischen, was mich am Sehen hindert. Bringe automatisch mein  Gewehr in Anschlag, nehme Druckpunkt und lasse wieder los. 
    Mich hier niederknallen lassen, und dann auch hier liegen bleiben: Warum denn? 
    Ein unerbittlicher Entschluss läuft mir durch den Körper, von den Füßen  bis zum Kopf, bis in die Finger. Ich bewege sie langsam, so wie man die  Mechanik einer Maschine probiert, ehe man sie einschaltet. 
    Die Kälte entflieht. Sie funktionieren. 
    ----------Ein Schuss schlägt die Stille auseinander. Ehe das 
    Echo über der Dämmerung zusammenschlagen kann, gehen andere Gewehre  los. Wollmers schießt ununterbrochen auf die Schatten in der Lichtung.  Die ganze Front bellt auf. Ich liege hinter einem Maulwurfshügel, das  Gesicht dicht an der Erde, den Helm schräg, links über den Kopf  geschoben, und nehme von den Schatten einen nach dem andern aufs Korn.  Sie bewegen sich nicht, fliehen nicht, scheinen unverwundbar. 
    Ich muss auf alle Fälle meine Deckung ausbauen, an den Maulwurfshügel  mehr Erde heranholen. Aber der Boden ist hart; nur die Erde auf dem  Hügel selbst ist schlammig, mit einer schwachen Kruste bedeckt, und  ringsum von hohem fettem Gras umgeben. Als ich diese Kruste  durchbreche, merke ich, dass das hohe fette Gras um meine Deckung so  gut gewachsen war, weil der natürliche Dünger einer Kuh nicht der  schlechteste ist. 
    Und immer noch stehen die Schatten, die wir beschießen. Es sind die  Pfähle, an die die Kühe, die hier weideten, oder vielleicht auch Pferde  angebunden wurden. 
    Unser Feuer lässt nach. Wollmers schämt sich. Als gedienter Soldat so  hereingefallen! Und als die ersten Sonnenstrahlen hinter uns über den  Hügel blinzeln und wir dem mahnenden Hunger gerecht werden, kann sogar  Wollmers über seine Blamage lachen. Es ist eben alles so ganz anders —  im Krieg. „Ist alles Scheiße!" meint er, und dann: „Hoffentlich hat der  Dreck bald ein End." 
    Er gibt mir eine Zigarette. Wir dürfen, da es hell geworden ist,  rauchen. Es ist nicht gut, so ganz allein zu sein. Er hat sich das wohl  auch überlegt in dieser Nacht, und gibt mir seine Adresse, so auf alle  Fälle, und ich ihm die meine. 
    Mantey isst nicht und raucht nicht. Sein Gesicht ist aschfahl, als  hätte er sich übergeben. Er liegt etwas abseits, in einem Loch, in dem  einige Eisensplitter liegen. Ein Granatloch. Aber Patronenhülsen liegen  nicht darin; er hat keinen Schuss abgegeben. 
    „Der braucht keine Kugel, der stirbt vor Angst", meint Wollmers. Er  sagt das aber nicht mehr, wie er es am Tage zuvor gesagt haben würde.  Denn von diesen Löchern tauchen nun mehrere auf. Wir sehen sie die  ganze seichte Talmulde hin, den Hügel hinan; die frischen Gräber, mehr  als wir tags zuvor ahnten, bedürfen keiner Erklärung mehr. 
    Der Tag ist schön, selten schön für den beginnenden Oktober. Die Sonne  erwärmt unsere übernächtigten Körper; wir müssen gegen den Schlaf  ankämpfen. Wir passen gar nicht in diese Landschaft, liegen wie  Farbenkleckse hingeschmiert und warten. Sollen wir zum Sturm angesetzt  werden? Es ist fast ganz ruhig geworden, so ruhig, als seien wir völlig  überflüssig. 
    Bis diese Ruhe unterbrochen wird durch dumpfe Detonationen. Wie ein  lauter, von Ferne hörbarer, verstärkter Laut eines Stickhustens ist  das. Ehe die Ohren den anspringenden Nerven den Hustenlaut vermitteln  können, lacht es oben in den Baumkronen. Ein hässliches, hysterisches  Lachen: „Haai-ha-ha-ha-Häh! Hund! Krach!" Äste splittern, im Grase  schlagen die Brocken auf. Dunkle Rauchwolken schwimmen in der Luft, als  hätte der Satan gelacht und säße in diesen Wolken. 
    Hä-HähähÄhÄBah-haaa!!! Eine Salve nach der andern prasselt nieder,  hundert Meter vor uns. Die letzten Splitter erreichen uns, die Hände  krampfen sich ins Gras; die Granatlöcher sind die einzige Deckung. Wer  kein Loch hat, gräbt sich ein, so gut es in dem harten Kalkboden geht.  Wir denken nicht mehr daran zu schießen; wo sollen wir hinschießen?  Keiner weiß etwas vom andern. Ich springe in das Loch Manteys, weil von  oben nicht in die Erde zu kommen ist. 
    Mantey drückt sein Gesicht an die Erde und betet. „Wir armen Menschen",  sagt er immer. Er ruft Jesus, Maria und alle Heiligen an, sein Gewehr  liegt außerhalb des Loches, er kann es nicht mehr halten, zittert am  ganzen Körper. 
    Hier in dem Loch kann man von der Seite graben; der Boden ist  aufgelockert. Alle sind wie vom Erdboden verschwunden, liegen hinter  Rasenfetzen, in Löchern, vor die wir Sand als Deckung werfen. Wie viele  mögen schon getroffen sein? Keiner weiß es, keiner weiß etwas vom  andern. 
    Nach einer Stunde lässt das Granatfeuer nach. Die Köpfe heben sich  vorsichtig aus den Löchern. Zwanzig Schritte von uns erhebt sich einer,  stützt sich zitternd auf sein Gewehr. Von dort her kam wohl auch der  gurgelnde Schrei, wer achtet da so genau drauf. Sein Gesicht ist mit  dem Päckchen verwickelt, durch das das Blut sickert. So stelzt er nach  hinten. 
    Weiter rechts führen Sanitäter einen fort, er ist ohne Waffenrock, der  nackte rechte Arm hängt heraus, als wäre er mit einer Schnur angehängt. 
    Sind es noch mehr? Wer ist der dort, der im Grase liegt, als schliefe er? 
    Mantey rührt seinen Spaten nicht an. Er ist wie gelähmt, hindert mich  am Arbeiten. Er spricht nicht, hockt da, wie vom Blitz getroffen, und  zittert, hat die Hände gefaltet und scheint immer noch zu beten. 
    Mir steigt die Wut hoch über dieses Wrack. Er nimmt mir den Platz weg,  und ich muss für ihn graben. „Mensch, sieh dich vor, dass ich dir nicht  den Kolben über den Schädel wichse." 
    Da!------Der heisere Husten hat zu viel Grauen ausgelöst, 
    um dieses Geräusch zu vergessen. Schon geistert das Todeslachen wieder  über uns; jetzt ungleichmäßiger, gestreut über das flache Tal. Ob sie  doch noch kommen? 
    Es wird Abend, Schuss auf Schuss, Salve auf Salve platzen über uns.  Granatenbrennzünder, oft so nahe, dass der Körper erstarrt. Die Knochen  schmerzen infolge des gekrümmten Liegens. 
    Vielleicht werden wir am Abend oder in der Nacht abgelöst. So übermüdet  und schmutzig, die Füße schmerzen in den harten Stiefeln, unerträglich  ist das alles. Hoffentlich hören sie auf mit ihren Granaten, damit die  Ablösung herankommt. Der Hunger wühlt in den Eingeweiden. Zunge und  Kehle sind ausgetrocknet. Es ist nichts zu trinken da. 
    Wo mag Wollmers liegen? Ich muss irgend etwas und zu irgend jemand  sprechen. Mantey rührt sich nicht mehr. Er betet schon wieder, betet in  seiner polnischen Muttersprache. 
    Drei Tage Granatenhagel. Es geht nicht vor, sondern zurück, und mancher  liegt in einem der frischen Gräber; wie viel, das weiß ich nicht. 
    Die Franzosen kommen bis vor unsern Graben, der ausgeworfen wurde,  bevor wir die Talmulde räumten. So tief wie die einer provisorischen  Wasserleitung; aber unsere Artillerie ist schon „eingeschossen". Das  Sperrfeuer verlegt den Angreifern den Rückweg; die zweite Linie kommt  nicht durch. Sie liegen im Tal wie vereinzelte Haufen; hie und dort  glänzt eine rote Hose in der Sonne. Fünfzig Meter vor uns graben sie  sich ein; in der Nacht rücken sie ihre Front vor. Zwischen uns liegen  die Toten, viele Franzosen in Zivilkleidern. 
    Es nützt nichts, jetzt geht es über Leichen. Die dort in den  „feindlichen" Gräben sitzen fest wie wir. Unsere Artillerie kann sie  nicht beschießen, ohne uns zu gefährden und umgekehrt. Und jetzt hast  du Zeit und Muße, die Wahrheit in dich aufzunehmen von dem schönsten  Tod, dem Tod fürs Vaterland. 
    Ein junger Mensch liegt auf seinem Gewehr, hatte es wohl mit der  rechten Hand oberhalb des Schlosses umklammert, bevor er getroffen  wurde. Sein Griff ist gelockert, wie durch den Schlaf; der Ringfinger  liegt lose über dem Lauf, der schräg nach oben steht. Ich sehe seinen  goldenen Ring jeden Tag, sehe, wie der Wind mit seinen Kraushaaren  spielt, sein halber Schnurrbart dem Tod zu trotzen sucht, sich immer  wieder nach oben zwirbelt. Bis der Regen diese Täuschung beseitigt und  die Haare an die welke Haut klatscht. Aber immer noch glänzt, auch wenn  die ersten Fröste schon die Leichname erstarren lassen, der goldene  Ring am Finger. 
    Ob seine Frau auch Sophie heißt? 
    Aber der Tod ist unerbittlich. Er lässt die Finger welken, der Ring  gleitet den Finger hinab, und dann, als Wind und Frost diese Hand vom  Gewehrlauf nehmen, ins Gras. 
    Schlaf gut, lieber Junge. — Warum hast du geschossen? 
    Hans Betzoldt, wenn du einmal irgendwo hinsinkst: Warum hast du geschossen ? 
    Du brauchst nicht so zu liegen wie der vor dir. Vielleicht hängst du  auch so halb in der Luft wie jener dort mit dem schwarzen Bart, den  eine Granate an den Abhang nagelte. Die Beine hängen in der Luft, als  überlegte er, ob er nicht doch hinabspringen soll. Oder schläft er? Der  Körper liegt hintenüber, der Kopf ist durch einen hervorstehenden Stein  nach vorn geschoben. Ist er betrunken ? Er sitzt dort, Tag für Tag,  Wochen schon. Die Stiefel werden ihm so schwer, einer ist schon  abgefallen. 
    Hans Betzoldt! Das ist gleichgültig, wie du einmal liegen wirst.  Vielleicht fällt nichts Besonderes an dir auf, liegst auch so wie die  anderen ruhig an der Erde oder mit beiden Händen im Gras, in der Erde  verkrampft, oder auf dem Rücken, wie im Sonnenbad, oder hältst dir die  Hände vor den Leib, der aufgerissen ist, oder bekommst gar ein  Soldatengrab und deinen Namen darauf. 
    Wie bösartige Narren belauern wir uns von Graben zu Graben. Er wird  immer „besser". Wasser ist darin, aber man schleppt Bretter heran, legt  sie über die Löcher im Graben, in denen sich das Wasser sammeln kann,  um es ausschöpfen zu können. Das ginge alles noch, aber auch nachts ist  keine Ruhe. Die Menschen unter uns, die an den Schulterblättern  kenntlich gemacht sind, sind keine Schweine wie wir Soldaten. Sie  brauchen wohnliche Unterstände, brauchen Feldbäckereien für Semmeln und  Kuchen. Menschen müssen menschenwürdig leben, auch im Kriege. Und der  Krieg muss trotzdem gewonnen werden, daher arbeiten wir des Nachts für  die Bedürfnisse unserer Offiziere, und am Tage stehen wir im Graben.  Ein Soldat kennt nur Pflichten; geschlafen haben doch die Kerls in  ihrem Leben verdammt schon lange genug. 
    Und trotzdem schlafen sie ein. Manche erwachen noch nicht einmal, wenn  der Hauptmann abends, wenn nicht mehr oder selten geschossen wird,  durch den Graben läuft und brüllt, so laut, dass es die Franzosen hören  und darüber lachen. Manche schlafen sogar im Stehen ein.  Niederträchtige Bande! 
    Nicht nur die eine Niederträchtigkeit. Gestern haben sie die Bretter  teilweise aus dem Graben genommen, als er kam, damit er in die Löcher  stolperte und hinfiel. Er hatte es eilig, denn an der vorletzten  Schulterwehr lehnte ein baumlanger Kerl und — schlief. 
    Ob der nicht hörte oder nicht hören wollte? Der Hauptmann brüllt ihn  schon von weitem an, aber der Kerl rührt sich nicht, lehnt da, als  ginge ihn das alles gar nichts an. 
    Als der Hauptmann ihn mit seinem Stock — ohne Stock ist er nicht  denkbar — anstößt und ihn an seine Soldatenpflicht erinnern will, fällt  der große Kerl auf ihn zu. Der Hauptmann rennt wie wahnsinnig fort und  sieht gar nicht, dass der schlafende Soldat ein toter Franzose ist, den  die Grabenbesatzung nachts heranangelte, um den tapferen Hauptmann in  die Flucht zu jagen.  | 
  
    
    Hinweis:      Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität              der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen.              Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist              nicht gestattet. 
     
    |   |