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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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VI.

Hinter Metz werden wir ausgeladen. Es ist später Abend. Wir marschieren feldmarschmäßig unter den Bäumen hin. Es regnet. Von ferne hören wir Gewehrfeuer, undefinierbar wie weit, nur ungefähr die Richtung. Sanitätsfuhrwerke, Autos, Lastwagen, Meldereiter begegnen uns. Ein Munitionswagen überholt uns, biegt rechts in Ackerland ein. Etwas weiter in dieser Richtung liegt unsere Artillerie mitten in einem Acker eingegraben; Badensche Grenadiere kommen uns entgegen. „Passt auf, die Franzose schieße von de Bäum", sagt einer.
„Halt!"
Die Zugführer bekommen Instruktionen. Wir schwärmen aus. Es ist dunkel, wir sehen keine Stellung, sehen vor uns Wald, links eine breite, lang hinlaufende Lichtung. Im Wald, in den Büschen vor uns sollen die Franzosen liegen. Unsere „Stellung" ist — die flache, nasse Erde.
Um uns ist es still. Es wird kalt.
Mein linker Nebenmann hat noch kein Wort mit mir gesprochen, schaut immer vor sich hin. Ich weiß nichts von ihm, als dass er Mantey heißt und Pole ist. Mein rechter Kamerad ist gedienter Soldat und spricht nicht mit Rekruten, wenigstens nicht wie ein Mensch zu einem Menschen. Nun flucht er; er liegt wie alle in der Schützenlinie, die in unregelmäßigen Punkten verläuft und verschwindet.
Die Augen starren angestrengt in die Dunkelheit, auf den aufgeregten Nerven balancieren die Gespenster.
Eigenartig ist das doch, das Gefühl, das von den frischen Gräbern in die Hirne schleicht. Sie waren so, wie man es sich vorstellte: ein einfaches Holzkreuz; ein grüner Zweig oder ein paar liegen darauf; an einem der Holzkreuze hing ein Helm.
Die sind auch so, in der Nacht vielleicht, hier angerückt. Wie viele mögen hier schon liegen? Was würde Sophie sagen, wenn sie mich morgen hier verscharren? Würde sie auch so mit offenem Munde und mit so großen Augen nach Luft schnappen wie Anna?
Wo mag Alfred jetzt sein? Ob er auch wie ich sich fest vornimmt, auszurücken, dann irgendwo über die Grenze marschiert und nicht mehr zurück kann und zwischen den Gräbern den Heldentod erwartet? Ja, ja, Hans Betzoldt, hast dir viel vorgenommen und hast dich übernommen.
Wollmers kriecht etwas vor, tuschelt dann mit dem Unteroffizier und schaut dann wieder angestrengt ins Gelände. Ich weiß nicht, was sie reden, ein „Kriegssoldat", in die Kompanie gestopft, um eine Lücke auszufüllen, hat ja keine Ahnung. Aber Wollmers muss etwas bemerkt haben. Ich sehe, wie die andern angestrengt in die Nacht schauen, die langsam zu zerfließen beginnt und den vor uns hockenden feindlichen Schützen den Schutz versagt.
Ganz primitiv nur, aber dennoch klar genug, sieht man sie in der Dämmerung. Es können keine Bäume sein, auch keine Sträucher oder Büsche. Sie stehen in gleichmäßiger Belichtung, stehen in Mannshöhe, vielleicht nur wenige, die andern hocken wohl in ihren Löchern.
Vielleicht eröffnen sie unvermittelt das Feuer. Wir liegen ohne jede Deckung.
Die Knochen zittern mir ein wenig. In meinem Innern steigt ein schmerzendes Würgen hoch. Ich muss mir über die Augen wischen, möchte etwas fortwischen, was mich am Sehen hindert. Bringe automatisch mein Gewehr in Anschlag, nehme Druckpunkt und lasse wieder los.
Mich hier niederknallen lassen, und dann auch hier liegen bleiben: Warum denn?
Ein unerbittlicher Entschluss läuft mir durch den Körper, von den Füßen bis zum Kopf, bis in die Finger. Ich bewege sie langsam, so wie man die Mechanik einer Maschine probiert, ehe man sie einschaltet.
Die Kälte entflieht. Sie funktionieren.
----------Ein Schuss schlägt die Stille auseinander. Ehe das
Echo über der Dämmerung zusammenschlagen kann, gehen andere Gewehre los. Wollmers schießt ununterbrochen auf die Schatten in der Lichtung. Die ganze Front bellt auf. Ich liege hinter einem Maulwurfshügel, das Gesicht dicht an der Erde, den Helm schräg, links über den Kopf geschoben, und nehme von den Schatten einen nach dem andern aufs Korn. Sie bewegen sich nicht, fliehen nicht, scheinen unverwundbar.
Ich muss auf alle Fälle meine Deckung ausbauen, an den Maulwurfshügel mehr Erde heranholen. Aber der Boden ist hart; nur die Erde auf dem Hügel selbst ist schlammig, mit einer schwachen Kruste bedeckt, und ringsum von hohem fettem Gras umgeben. Als ich diese Kruste durchbreche, merke ich, dass das hohe fette Gras um meine Deckung so gut gewachsen war, weil der natürliche Dünger einer Kuh nicht der schlechteste ist.
Und immer noch stehen die Schatten, die wir beschießen. Es sind die Pfähle, an die die Kühe, die hier weideten, oder vielleicht auch Pferde angebunden wurden.
Unser Feuer lässt nach. Wollmers schämt sich. Als gedienter Soldat so hereingefallen! Und als die ersten Sonnenstrahlen hinter uns über den Hügel blinzeln und wir dem mahnenden Hunger gerecht werden, kann sogar Wollmers über seine Blamage lachen. Es ist eben alles so ganz anders — im Krieg. „Ist alles Scheiße!" meint er, und dann: „Hoffentlich hat der Dreck bald ein End."
Er gibt mir eine Zigarette. Wir dürfen, da es hell geworden ist, rauchen. Es ist nicht gut, so ganz allein zu sein. Er hat sich das wohl auch überlegt in dieser Nacht, und gibt mir seine Adresse, so auf alle Fälle, und ich ihm die meine.
Mantey isst nicht und raucht nicht. Sein Gesicht ist aschfahl, als hätte er sich übergeben. Er liegt etwas abseits, in einem Loch, in dem einige Eisensplitter liegen. Ein Granatloch. Aber Patronenhülsen liegen nicht darin; er hat keinen Schuss abgegeben.
„Der braucht keine Kugel, der stirbt vor Angst", meint Wollmers. Er sagt das aber nicht mehr, wie er es am Tage zuvor gesagt haben würde. Denn von diesen Löchern tauchen nun mehrere auf. Wir sehen sie die ganze seichte Talmulde hin, den Hügel hinan; die frischen Gräber, mehr als wir tags zuvor ahnten, bedürfen keiner Erklärung mehr.
Der Tag ist schön, selten schön für den beginnenden Oktober. Die Sonne erwärmt unsere übernächtigten Körper; wir müssen gegen den Schlaf ankämpfen. Wir passen gar nicht in diese Landschaft, liegen wie Farbenkleckse hingeschmiert und warten. Sollen wir zum Sturm angesetzt werden? Es ist fast ganz ruhig geworden, so ruhig, als seien wir völlig überflüssig.
Bis diese Ruhe unterbrochen wird durch dumpfe Detonationen. Wie ein lauter, von Ferne hörbarer, verstärkter Laut eines Stickhustens ist das. Ehe die Ohren den anspringenden Nerven den Hustenlaut vermitteln können, lacht es oben in den Baumkronen. Ein hässliches, hysterisches Lachen: „Haai-ha-ha-ha-Häh! Hund! Krach!" Äste splittern, im Grase schlagen die Brocken auf. Dunkle Rauchwolken schwimmen in der Luft, als hätte der Satan gelacht und säße in diesen Wolken.
Hä-HähähÄhÄBah-haaa!!! Eine Salve nach der andern prasselt nieder, hundert Meter vor uns. Die letzten Splitter erreichen uns, die Hände krampfen sich ins Gras; die Granatlöcher sind die einzige Deckung. Wer kein Loch hat, gräbt sich ein, so gut es in dem harten Kalkboden geht. Wir denken nicht mehr daran zu schießen; wo sollen wir hinschießen? Keiner weiß etwas vom andern. Ich springe in das Loch Manteys, weil von oben nicht in die Erde zu kommen ist.
Mantey drückt sein Gesicht an die Erde und betet. „Wir armen Menschen", sagt er immer. Er ruft Jesus, Maria und alle Heiligen an, sein Gewehr liegt außerhalb des Loches, er kann es nicht mehr halten, zittert am ganzen Körper.
Hier in dem Loch kann man von der Seite graben; der Boden ist aufgelockert. Alle sind wie vom Erdboden verschwunden, liegen hinter Rasenfetzen, in Löchern, vor die wir Sand als Deckung werfen. Wie viele mögen schon getroffen sein? Keiner weiß es, keiner weiß etwas vom andern.
Nach einer Stunde lässt das Granatfeuer nach. Die Köpfe heben sich vorsichtig aus den Löchern. Zwanzig Schritte von uns erhebt sich einer, stützt sich zitternd auf sein Gewehr. Von dort her kam wohl auch der gurgelnde Schrei, wer achtet da so genau drauf. Sein Gesicht ist mit dem Päckchen verwickelt, durch das das Blut sickert. So stelzt er nach hinten.
Weiter rechts führen Sanitäter einen fort, er ist ohne Waffenrock, der nackte rechte Arm hängt heraus, als wäre er mit einer Schnur angehängt.
Sind es noch mehr? Wer ist der dort, der im Grase liegt, als schliefe er?
Mantey rührt seinen Spaten nicht an. Er ist wie gelähmt, hindert mich am Arbeiten. Er spricht nicht, hockt da, wie vom Blitz getroffen, und zittert, hat die Hände gefaltet und scheint immer noch zu beten.
Mir steigt die Wut hoch über dieses Wrack. Er nimmt mir den Platz weg, und ich muss für ihn graben. „Mensch, sieh dich vor, dass ich dir nicht den Kolben über den Schädel wichse."
Da!------Der heisere Husten hat zu viel Grauen ausgelöst,
um dieses Geräusch zu vergessen. Schon geistert das Todeslachen wieder über uns; jetzt ungleichmäßiger, gestreut über das flache Tal. Ob sie doch noch kommen?
Es wird Abend, Schuss auf Schuss, Salve auf Salve platzen über uns. Granatenbrennzünder, oft so nahe, dass der Körper erstarrt. Die Knochen schmerzen infolge des gekrümmten Liegens.
Vielleicht werden wir am Abend oder in der Nacht abgelöst. So übermüdet und schmutzig, die Füße schmerzen in den harten Stiefeln, unerträglich ist das alles. Hoffentlich hören sie auf mit ihren Granaten, damit die Ablösung herankommt. Der Hunger wühlt in den Eingeweiden. Zunge und Kehle sind ausgetrocknet. Es ist nichts zu trinken da.
Wo mag Wollmers liegen? Ich muss irgend etwas und zu irgend jemand sprechen. Mantey rührt sich nicht mehr. Er betet schon wieder, betet in seiner polnischen Muttersprache.
Drei Tage Granatenhagel. Es geht nicht vor, sondern zurück, und mancher liegt in einem der frischen Gräber; wie viel, das weiß ich nicht.
Die Franzosen kommen bis vor unsern Graben, der ausgeworfen wurde, bevor wir die Talmulde räumten. So tief wie die einer provisorischen Wasserleitung; aber unsere Artillerie ist schon „eingeschossen". Das Sperrfeuer verlegt den Angreifern den Rückweg; die zweite Linie kommt nicht durch. Sie liegen im Tal wie vereinzelte Haufen; hie und dort glänzt eine rote Hose in der Sonne. Fünfzig Meter vor uns graben sie sich ein; in der Nacht rücken sie ihre Front vor. Zwischen uns liegen die Toten, viele Franzosen in Zivilkleidern.
Es nützt nichts, jetzt geht es über Leichen. Die dort in den „feindlichen" Gräben sitzen fest wie wir. Unsere Artillerie kann sie nicht beschießen, ohne uns zu gefährden und umgekehrt. Und jetzt hast du Zeit und Muße, die Wahrheit in dich aufzunehmen von dem schönsten Tod, dem Tod fürs Vaterland.
Ein junger Mensch liegt auf seinem Gewehr, hatte es wohl mit der rechten Hand oberhalb des Schlosses umklammert, bevor er getroffen wurde. Sein Griff ist gelockert, wie durch den Schlaf; der Ringfinger liegt lose über dem Lauf, der schräg nach oben steht. Ich sehe seinen goldenen Ring jeden Tag, sehe, wie der Wind mit seinen Kraushaaren spielt, sein halber Schnurrbart dem Tod zu trotzen sucht, sich immer wieder nach oben zwirbelt. Bis der Regen diese Täuschung beseitigt und die Haare an die welke Haut klatscht. Aber immer noch glänzt, auch wenn die ersten Fröste schon die Leichname erstarren lassen, der goldene Ring am Finger.
Ob seine Frau auch Sophie heißt?
Aber der Tod ist unerbittlich. Er lässt die Finger welken, der Ring gleitet den Finger hinab, und dann, als Wind und Frost diese Hand vom Gewehrlauf nehmen, ins Gras.
Schlaf gut, lieber Junge. — Warum hast du geschossen?
Hans Betzoldt, wenn du einmal irgendwo hinsinkst: Warum hast du geschossen ?
Du brauchst nicht so zu liegen wie der vor dir. Vielleicht hängst du auch so halb in der Luft wie jener dort mit dem schwarzen Bart, den eine Granate an den Abhang nagelte. Die Beine hängen in der Luft, als überlegte er, ob er nicht doch hinabspringen soll. Oder schläft er? Der Körper liegt hintenüber, der Kopf ist durch einen hervorstehenden Stein nach vorn geschoben. Ist er betrunken ? Er sitzt dort, Tag für Tag, Wochen schon. Die Stiefel werden ihm so schwer, einer ist schon abgefallen.
Hans Betzoldt! Das ist gleichgültig, wie du einmal liegen wirst. Vielleicht fällt nichts Besonderes an dir auf, liegst auch so wie die anderen ruhig an der Erde oder mit beiden Händen im Gras, in der Erde verkrampft, oder auf dem Rücken, wie im Sonnenbad, oder hältst dir die Hände vor den Leib, der aufgerissen ist, oder bekommst gar ein Soldatengrab und deinen Namen darauf.
Wie bösartige Narren belauern wir uns von Graben zu Graben. Er wird immer „besser". Wasser ist darin, aber man schleppt Bretter heran, legt sie über die Löcher im Graben, in denen sich das Wasser sammeln kann, um es ausschöpfen zu können. Das ginge alles noch, aber auch nachts ist keine Ruhe. Die Menschen unter uns, die an den Schulterblättern kenntlich gemacht sind, sind keine Schweine wie wir Soldaten. Sie brauchen wohnliche Unterstände, brauchen Feldbäckereien für Semmeln und Kuchen. Menschen müssen menschenwürdig leben, auch im Kriege. Und der Krieg muss trotzdem gewonnen werden, daher arbeiten wir des Nachts für die Bedürfnisse unserer Offiziere, und am Tage stehen wir im Graben. Ein Soldat kennt nur Pflichten; geschlafen haben doch die Kerls in ihrem Leben verdammt schon lange genug.
Und trotzdem schlafen sie ein. Manche erwachen noch nicht einmal, wenn der Hauptmann abends, wenn nicht mehr oder selten geschossen wird, durch den Graben läuft und brüllt, so laut, dass es die Franzosen hören und darüber lachen. Manche schlafen sogar im Stehen ein. Niederträchtige Bande!
Nicht nur die eine Niederträchtigkeit. Gestern haben sie die Bretter teilweise aus dem Graben genommen, als er kam, damit er in die Löcher stolperte und hinfiel. Er hatte es eilig, denn an der vorletzten Schulterwehr lehnte ein baumlanger Kerl und — schlief.
Ob der nicht hörte oder nicht hören wollte? Der Hauptmann brüllt ihn schon von weitem an, aber der Kerl rührt sich nicht, lehnt da, als ginge ihn das alles gar nichts an.
Als der Hauptmann ihn mit seinem Stock — ohne Stock ist er nicht denkbar — anstößt und ihn an seine Soldatenpflicht erinnern will, fällt der große Kerl auf ihn zu. Der Hauptmann rennt wie wahnsinnig fort und sieht gar nicht, dass der schlafende Soldat ein toter Franzose ist, den die Grabenbesatzung nachts heranangelte, um den tapferen Hauptmann in die Flucht zu jagen.

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