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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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X.

Ich bin nun weit vom Schuss, kann mich nicht mehr überwinden, meine Füße richtig zu „behandeln" — und bin in drei Wochen zum Ersatzbataillon entlassen.
Aber das Vaterland braucht sie alle. Die Munitions- und Kanonenfabriken fordern Facharbeiter an. Die Frauen, Kinder und Dienstuntauglichen allein schaffen es nicht. — Ich werde zur Firma Krupp in Essen beurlaubt.
„Letztes Arbeitszeugnis!?"
Ich lege es vor und beteure vergebens, dass ich schon etwas anderes getan hätte, als Granaten geschruppt.
„Erledigt! — Neunte mechanische Werkstatt!"
Man führt mich an eine Riesendrehbank, auf der Kurbelwellen schwersten Kalibers vorgeschruppt werden.
Die Arbeit ist lebensgefährlich. Vier elektrisch transportierte Supporte sind auf die zu bearbeitenden Flächen zu verteilen, damit alle Stähle — zwei Supporte arbeiten von oben und zwei von unten — möglichst gleichmäßig beschäftigt sind; einmal, um möglichst rationell zu arbeiten, zum andern, um durch die von unten und oben schneidenden Stähle die zu bearbeitende Welle gleichmäßig unter Druck zu halten. Eine nur einseitige Bearbeitung hat ein zu starkes Vibrieren zur Folge. Die Berechnung und Überlegung vor Beginn der Operation ist das Wichtigste.
Mein Ablöser ist über meine Hilfe nicht sehr erfreut. Solange er allein seine Kurbelwellen vorschruppte, fühlte er sich geborgen. Ist erst ein Zweiter eingearbeitet, kann der schon wieder — im Falle eines Falles — einen Dritten anlernen. Hoffentlich vermauert der so eine Welle — das mögen die geheimen Gedanken meines Kollegen sein. Die Angst vor dem Schützengraben — vor dem Heldentod — ist groß bei ihm.
Die Stähle nehmen eine Schnittfläche von zirka fünf Zentimetern mit zwei Millimetern Vorschub per Umdrehung. Die riesige Welle vibriert wie eine gestreckte Riesenschlange. Die Planscheibenkolben sind mit schweren Schlüsseln und mit Hilfe von Rohren (als Schlüsselverlängerung) aufs höchste angespannt. Die Exzenter der Welle bewegen sich drohend. Der Arbeiter, der die Späne fortschaufelt, muss gut aufpassen, dass er ihnen nicht zu nahe kommt. Die fast glühend heißen, in allen Farben schillernden Späne springen oft wie abgeschossen fort. Wenn sie ins Gesicht fliegen und sich ins Fleisch brennen: ein unsagbarer Schmerz.
Hier kann man auch den Heldentod fürs Vaterland sterben. Braucht nur ein Support unter eine Kurbel zu fahren, die Planscheiben kolben nachlassen, ein Schraubenkopf durch den unerhörten Druck ab- und dir an den Kopf fliegen oder durch irgendeine sonstige Lockerung das Gleichgewicht gestört werden — dann geht alles kopfüber.
An einem großen Bohrwerk werden riesige Turbinengehäuse ausgebohrt. Ein Dreher kroch in dieses Gehäuse, um die Späne zu entfernen, wurde erfasst und zur Unkenntlichkeit zerrissen und verstümmelt.
Mein Helfer hat eine ganz gute Meinung von mir. Wir gehen behutsam zu Werke, als wir eines Abends die erste Welle selbst aufnehmen. Nur wenige sind in der Riesenhalle zur Nachtschicht anwesend, nur die Besatzung ganz schwerer Maschinen arbeitet mit Ablösung. Sie kennen sich nicht, sind örtlich ziemlich weit voneinander entfernt, und der Meister wacht argwöhnisch darüber, dass die kostbare Zeit nicht durch unnötige Visiten vertrödelt wird. Er kriecht zwischen den rohen und fertigen Kanonenrohren umher, wie ein treuer, wachsamer Hund.
Auf uns, die wir unser Marmeladenbrot verzehren, schaut er von weitem herüber, absichtlich so lange, bis wir ihn sehen. Er ärgert sich: diese lächerliche Scheibe Brot — kann man doch verdammt nebenbei essen, mag er denken.
Mein Helfer meint: „Mit dem werden Sie noch manchen Strauß auszufechten haben. Wen der nicht riechen kann, den ekelt er bald raus. Ihr Ablöser aber ist sein Freund. Er schuftet
wie toll, nimmt sich gar keine Zeit zum Essen."—Er muss seinen Meister wohl kennen. Er ist zweiundsechzig Jahre alt, ungefähr so alt und ebensolange bei Krupp wie dieser, das heißt von Kindesbeinen an. Wenn sie Glück haben, sterben sie zwischen Kanonenrohren. Das ist bei einem ordentlichen Arbeiter nach Kruppschen Begriffen so der Brauch.
Am Morgen läuft die Welle. Alle Supporte arbeiten, alles ist in Ordnung.
Mein Ablöser kommt schon eine Viertelstunde früher — er hat wohl die Nacht gar nicht richtig schlafen können. Ich sehe ihm sofort an, dass er enttäuscht ist — oder wenigstens so tut. Er grüßt kaum, geht an den Schrank und beginnt in den Arbeitszetteln zu wühlen, zu rechnen, zu kalkulieren. Ich sehe sofort, was ich für einen Pappenheimer vor mir habe und frage ihn: „Wie ist es denn hier mit der Verrechnung? Wieviel verdient man in einer Schicht von zwölf Stunden?"
Er ist ob meiner Neugierde offensichtlich verblüfft, vielleicht auch wegen meiner „Unverschämtheit" erstaunt. „Wenn wir eine ganze Schicht mit Aufnehmen zubringen, nicht den Schichtlohn", meint er, und macht ein Gesicht, als hätte ich ihn durch meine Faulheit schon um ein Vermögen betrogen.
Ich bin schon wieder unvernünftig und sage: „Bescheiß dich man nicht. Scheinst auch so ein Allerweltskünstler zu sein, der überall sofort Bescheid weiß. Hast sicher schon in der ersten Schicht zwei Wellen heruntergehauen."
Das hat er sicher nicht erwartet. Er sieht mich an und wird ganz blass. Dann sagt er: „Ich verlange jedenfalls mein Geld."
Ich werde noch unvernünftiger und antworte: „Verlange, was du willst, nur verlange nicht von mir, dass ich mir hier leichtsinnigerweise meine Knochen verbiegen lasse."
„Ich verlange, dass du arbeitest!"
Ich kann nun nicht mehr folgen und behelfe mich in Ermangelung eigener Argumente mit einem Wort aus Goethes „Götz von Berlichingen". Mein Ablöser rennt zornentbrannt zum Meister. Dort fuchtelt er mit den Zetteln. Ich wasche mich und gehe „nach Hause". — Ich will nicht noch unvernünftiger werden.
Mein „Zuhause" ist das Hotel „Zum Muschelhaus". Zwei Tage habe ich Wohnung gesucht. Dann ergatterte ich ein teures Zimmer für zwei Personen, in das ich gegen viel Geld einziehen durfte, wenn ich noch einen Kollegen mitbringen würde. Ich fand aber keinen passenden Partner, und als ich eines Abends wiederkomme, wird mir eröffnet, dass meine Wohnung ab morgen an zwei Herren vermietet sei, da ich die Vereinbarung nicht eingehalten hätte.
Eine geschäftstüchtige Frau, bei der ich Ansichtskarten und Zigaretten kaufe, nimmt sich meiner an, als ich ihr mein Leid über die Wohnungsmisere klage, und stellt mir anheim, zu ihr zu ziehen. Auf ihr Häuschen wird ein Vorbau aufgesetzt. Fenster sind noch nicht drin, Türen auch nicht. Eine Feldbettstelle steht da, zugedeckt mit Säcken, damit nicht allzu viel Maurerdreck darauffällt. In einer Kiste steht die Waschschüssel.
Die Frau macht's billig. Vier Mark die Woche. Wenn alles fertig ist und es nicht mehr hereinregnet, kann man weiter reden. Ganz nett ist die Frau!
Aber ich bin zu verwöhnt. Draußen liegen sie im Dreck, und ich klage schon, weil ich im Neubau wohnen soll. Ich bin absolut darauf verpicht, dass ich nach zwölfstündiger Arbeit einen Platz für mich, ein Bett haben muss.
Die Zehntausend, die morgens und abends aus Dutzenden von Fabriktoren hinein- und herausströmen — das ist das Antlitz des Krieges in Zivil. Das Gespenst des Schützengrabens verfolgt sie bei Tag und bei Nacht. Sie sind vom Hunger gezeichnet. Sie gehen alle — scheint mir — als trügen sie eine schwere Last. Sie wohnen in dichten Massen in Löchern, blicken finster, wie die Farbe der Mauern. Auf ihren Gesichtern liegt es wie Kohlenstaub. Sie gehen stumm, nur hier und da murrt einer, aber so, dass es kein Unbefugter hört.
Im Restaurant „Muschelhaus" sitzen sie und warten — auf den Frieden. Sie essen Muscheln, vor Hunger, nur um den Magen zu füllen. Die gibt es noch ohne „Karten". Die Leute sind reklamiert aus allen deutschen Ländern. Ich spreche mit
diesem und jenem. Jeder sagt: „Besser als im Schützengraben!" Sie wollen sich nicht verdächtig machen, sind vorsichtig. — Wie die Bewohner des besetzten Gebiets.
Vor der Kantine stehen sie wie Bettler, wollen Marken haben, aber nur eine beschränkte Zahl kann „verpflegt" werden.
Mich würgt diese Atmosphäre von Lüge, Heldentum. Abends gehe ich zur Nachtschicht. In meinem Hirn reift ein Entschluss.
Der Meister kriecht zwischen den Kanonenrohren umher. Ich gehe auf ihn zu. „Kommen Sie, bitte, einmal mit!"
Er ist erstaunt, aber er folgt mir.
„Ich möchte einmal wissen, was ich hier verdiene", beginne ich. Er stutzt, stiert mich an und sagt: „Wenn Sie eingearbeitet sind, soviel wie Ihr Ablöser, solange das nicht der Fall ist, Schichtlohn."
„Wieviel ist das?"
„Sechs Mark die Schicht!"
„Wer bestimmt das?"
„Vorderhand ich, wenn Sie nicht einverstanden sind, gehen Sie zum Betriebsleiter!"
Mein Ablöser grinst. Ich überlege, ob ich den Meister ohrfeigen soll, beherrsche mich aber.
Der Meister trottet, schwer schleppend an seiner Autorität, von der Bank fort. Ich rücke ein. Lass laufen die Karre!
Eine halbe Stunde mag vergangen sein. Zwischen den Kanonenrohren, den Riesenlafetten, den riesigen Türmen der Schiffsgeschütze laufe ich umher. Meisterhaft ist die Maschinerie für die Zerstörung alles Zerstörbaren entwickelt und organisiert. Die Menschen opfern sich für dieses „große Werk" bis zur Selbstvernichtung.
Als ich komme, hat sich ein Stahlhalter gelockert. Die rohe Welle wurde immer stärker, der Stahlhalter gab nach, aber er stand im schrägen Winkel zur Welle und konnte rückwärts nicht abkommen, auch nicht durch die Klaue, weil diese zu stark gerippt war. Er mahlte sich in die Welle hinein, tief, einen Arm kann man hineinlegen.
Ich hole meinen Meister. Er sieht die Bescherung und—kann
nicht sprechen vor Schreck. Nur soviel höre ich, dass das sein Unglück sein kann.
Dann drehen wir hinter der Vertiefung auf Maß aus, so dass ein starker Rand daneben stehen bleibt. Mit einer hydraulischen Walze walzt er dann die Bescherung zu und jammert in einem fort, ich solle nichts verraten und ihn nicht unglücklich machen.
Morgens gehe ich zum Betriebsleiter. Der hört mich an, kratzt sich hinter den Ohren und sagt: „Vorschuss können Sie bekommen, den dritten Teil des verdienten Lohnes." Ich rechne: Abzüglich Knappschafts-, Pensions-, Invaliden-, Kranken- und sonstiger Kassen ist das soviel, dass ich einmal im „Muschelhaus" Abendbrot essen und schlafen kann.
„Meine Frau hat entbunden, große Auslagen, außerordentlicher Fall." Ich kann nicht anders zu meinem Recht kommen, als dass ich den Patrioten spiele, und bitte, meinen Fall als Ausnahme zu behandeln. Ich bekomme auch glücklich vierzig Mark Vorschuss, wasche mich und hole aus dem „Muschelhaus" meinen Koffer.
Abends, schon spät, klopfe ich bei Sophie.
„Lütting?"
„Tag, Sophl. — Die haben kein Eisen mehr bei Krupp."
Sie ist nicht sonderlich erstaunt, schüttelt den Kopf und sagt lächelnd: „Bist eben ein Zigeuner!"
Das Reden nützt bei mir nicht viel. Das weiß sie schon.
Ich sende meinen Pass zur Anmeldung ein, nachdem ich mir andere Arbeit in einer neu eingerichteten Granatenfabrik gesucht habe, bekomme natürlich — wie erwartet — den Gestellungsbefehl. Ich war ja nur für die Firma Krupp beurlaubt.
Mir kann niemand helfen, nicht Klaus, nicht Sophie, nicht Anna.
Lazarett, Gefangenschaft, Festung, Zuchthaus! Sophie ist schon froh, dass ich alles von der humoristischen Seite nehme, und verabschiedet mich: „Hals- und Beinbruch, Hans!"
Man würde mich ein wenig näher ansehen, werde ich empfangen. Aber dazu blieb keine Zeit. Sie sterben draußen wie die Fliegen. Wir haben noch lange nicht genug gesiegt.

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