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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XII.

Ich kann nur mit Mühe gehen, das heißt die größte Mühe ist, vorzutäuschen, dass es ohne Stock überhaupt nicht geht. Der Oberarzt jedoch wittert den Simulanten, er wittert in jedem den Simulanten, nimmt mir den Stock weg und schnauzt: „Machen Sie sich nicht kränker als Sie sind, gehen Sie einmal ohne Stock auf und ab."
Ich gehe, so gut ich „kann". Ich habe in den Kniegelenken starke Schmerzen und kann die Knie nicht durchdrücken.
Er befiehlt mir, den Fuß mit der Ferse auf den Stuhl zu legen, befiehlt dem Sanitäter, mich festzuhalten und versucht mit aller Kraft mein Knie durchzudrücken. Ich schreie auf vor Schmerzen.
„Stellen Sie sich nicht so an!"
„Ich verbitte mir eine derartige Behandlung und derartige Anspielungen, Herr Oberarzt!" Ich sage es ruhig, mit Überlegung, zu dem ausgesprochenen Zweck, statt ins „Feld" ins Gefängnis abzudampfen. Der Sanitätsgefreite kramt verdattert zwischen seinen Flaschen, die Schwester reißt vor soviel „Frechheit" den Mund auf, als wolle sie Fliegen fangen. Der Herr Oberarzt steht da und schaut über sein Bauchpolster auf mich herab, als stünde der letzte einer ausgestorbenen Rasse vor ihm.
„Sind Sie verrückt geworden?" Er brüllt das heraus ohne jede Überlegung, man merkt an seinen vor Wut zitternden Lippen, dass es ihm schon schwer fiel, diese geistreiche Frage zusammenzustöppeln.
„Nein, Herr Oberarzt!"
„Rrrrraus!"
Weiter reicht es nicht. Ich mache kehrt und gehe auf meine Stube. Ich bin etwas aufgeregt, aber sonst ausgefüllt von der Genugtuung, den Schinder richtig erwischt zu haben. Eventuelle Folgen haben bereits jeden Schrecken eingebüßt. Ich mache mich aber damit vertraut, dass zumindest einige Tage „Dicken" abfallen werden. Aber nichts dergleichen folgt.
Eine Woche später bin ich als garnisondienstfähig zum Ersatzbataillon entlassen.
Der erste Gedanke ist: Jetzt musst du fort! Ich schreibe sofort an Klaus. Ein Genosse, der in Altona arbeitet, empfiehlt mich. Dreher sind knapp. Ich unterschreibe, dass ich keinerlei Ansprüche an das Regiment zu stellen habe und werde für Heeresarbeit beurlaubt.
Wir werden nun nicht mehr gehetzt von dem Gedanken der unvermeidlichen Trennung oder der fiebernden Erwartung, nur irgendwo oder irgendwann eine Stunde zusammen sein zu können. Wir können uns ungezwungen gehören, können uns einrichten. Sophie wird sich gewiss freuen, Klaus braucht Hilfe; Anna, Martha, ganz schön wird das werden.
Sophie erwartet mich, schaut mir neugierig auf die Füße, dann ins Gesicht, dann nimmt sie meinen Kopf in beide Hände und drückt mein Gesicht an ihre Brust.
„Lütting!!"
Sie fasst mich unter, will mit mir den Bahnsteig verlassen. Ich nehme meinen Arm aus dem ihren. „Ich möchte lieber allein gehen." Die ganze Tragödie des proletarischen Krüppels schreit in mir auf. Nein, dann schon lieber tot!
Sophie hat Geduld, wie immer, schaut mich bittend an, und ich gebe ihr, wie zur Entschuldigung, meinen Koffer. Ich habe mir vorgenommen, lieb zu ihr zu sein, alles mit ihr zu besprechen. Sie ist mir aber wieder so fremd, sie bewegt sich so natürlich, wie „zu Hause". Ich habe kein „Zuhause".
Mein Zivilanzug ist mir viel zu groß. Ich kann ihn gar nicht tragen.
„Es ist ja kein Wunder, Lütting, hast ja mindestens fünfundzwanzig Pfund abgenommen", sagt Sophie, als hätte sie ohnehin damit gerechnet. Ich versuche meine Schuhe auf meine immer noch bandagierten Füße zu ziehen, aber ich bekomme sie nicht darüber. Ich kann, selbst ohne Bandagen, nicht in ihnen gehen, meine Füße sind noch geschwollen und sehr empfindlich.
„Wir kaufen ein Paar", sagt Sophie.
Wir schlafen in einem Bett, aber wir finden beide keinen Schlaf. Ich schlage um mich, phantasiere, schreie. Sophie geht morgens übernächtigt zur Arbeit.
Sophie kauft ein zweites Bett.
Ich gehe mit meinen neuen Schuhen zur Arbeit, trage aber während der Arbeit die alten Militärschuhe. Nach acht Tagen bekomme ich eine Aufforderung, sämtliche auf dem von mir unterschriebenen Verzeichnis aufgeführten Sachen bei meinem zuständigen Bezirkskommando abzuliefern. Ich spüre so etwas wie Ekel im Halse, als ich diese Aufforderung lese.
Ich schicke die Lumpen ab und kaufe mir von meinem ersten Lohn ein Paar Arbeitsstiefel.
Wir gehen sonntags spazieren. Mein Anzug hängt mir um die Knochen, als hätte ich ihn irgendwo geschenkt bekommen. Ich bin niedergeschlagen. Mich ärgert die gedankenlose Wurstigkeit dieser. Welt. Man tanzt, musiziert. „Hoch soll die Flagge wehen, die Flagge Schwarz-Weiß-Rot" wimmert es aus allen Lokalen. Die Kriegskrüppel humpeln und hocken schon überall herum. Wir gehen in Altona an einem großen Lazarett vorbei. Sie schauen aus den Fenstern, sitzen im Garten. Wieviel solcher Lazarette gibt es wohl in Deutschland und außerhalb Deutschlands? Sophie möchte mich so gerne froh wissen. Sie freut sich so, als ich meinen Lohn bringe. „Nächste Woche kaufen wir einen Anzug", sagt sie. Ich wehre ab, sie bittet mich aber darum.
Wir kaufen einen Anzug.
Sie ist so lieb, ich habe vieles an ihr gutzumachen.
Ich drehe die Kupferringe an Granatkörpern ab. Stück für Stück fünf Pfennig. Eine Fünfzehn-Zentimeter-Granate wiegt einen halben Zentner. Die großen — einundzwanzig Zentimeter — über einen Zentner. Ein Arbeiter hebt sie in die Bank und aus der Bank. Er ist zweiundsiebzig Jahre alt und freut sich, dass er soviel Geld verdient. Er hat nicht damit gerechnet, dass er jemals wieder Arbeit bekommt. Wenn es nach ihm geht, dann drehen wir, so lange er lebt, Granaten.
Der Betrieb ist gut „gesiebt". Mein Nachbar hat einen steifen Fuß. Er ging freiwillig hinaus. Er braucht nicht mehr damit zu rechnen, dass sie ihn holen. Er zeigt sein Eisernes Kreuz, ist jung und meistens besoffen. Die Frauen beherrschen den Betrieb. Immer mehr kommen und werden angelernt.
Skeptisch und höhnisch blicken die qualifizierten Arbeiter auf die billige Konkurrenz. „Blödsinn", sagen sie. „Was ist mit den Weibern schon anzufangen."
Sie irren. Die Arbeitsteilung setzt ein. Immer mehr Spezialmaschinen werden aufgestellt. Die Frauen arbeiten sich ein, sie eignen sich für jede Präzisionsarbeit. Sie sind billiger, drängen mehr Männer in den Schützengraben. Mancher, der sich so sicher, so unentbehrlich wähnte, während die andern verbluten und verfaulen, sich drückte und verkroch, wandert in den Schützengraben und schimpft nun auf die Frauen.
Der Betrieb ist militarisiert. Ein Oberfeuerwerker hat die Oberleitung. Sprechen ist verboten, Rauchen ist verboten, die Maschinen verlassen ist verboten. Erlaubt ist nur arbeiten, zehn Stunden am Tage. Runter, rauf! Runter, rauf 1 Die Granatringe tanzen mir vor den Augen. Die grelle Farbe der blanken Kupferfläche blendet. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche. Ich reiße mich zusammen, ich fresse alles in mich hinein; es ist für Sophie.
Meine Füße schmerzen mich abends noch immer stark. Sophie massiert sie, bringt mich dann ins Bett und besorgt alles Notwendige. Klaus hat sich schon beschwert: Ob wir die Flitterwochen bald hinter uns hätten? Sophie lacht. „Nächsten Freitag müssen wir bestimmt hingehen", sagt sie.
An die zwanzig Genossen sind anwesend. Klaus führt den Vorsitz. Ein mir unbekannter Genosse in Soldatenuniform spricht.
Er spricht von der Forderung der deutschen Kapitalisten, Belgien und Frankreich zu annektieren, Teile der französischen Schwerindustrie zu enteignen, von der Forderung der Grenzerweiterung im Osten, von dem Schrei nach neuen Kolonien. Wenn das Proletariat nicht aufsteht, sagt er, wird der Krieg bis zum Weißbluten geführt werden. Es geht nicht um die „Verteidigung des Vaterlandes", es geht um kapitalistische Interessen mit dem Ziele der Niederhaltung der anderen Völker und der gewaltsamen Unterdrückung fremder Gebiete. Die Folge würde sein die politische Entrechtung der annektierten Gebietsteile, die Niederdrückung der Löhne und damit auch unserer Löhne und durch die Aufpeitschung nationaler Leidenschaften die weitere Zerrüttung der internationalen Klassensolidarität.
Der zweite Kriegswinter ist da mit all seinen furchtbaren Schrecken, die noch vermehrt werden durch den wachsenden Hunger. Wir dürfen nicht erlahmen. Es geht hier um weltgeschichtliche Veränderungen, um das Schicksal einer oder mehrerer Generationen, und wir, als revolutionäre, Klassenbewusste Arbeiter, sind die einzige Kraft, die in die Speichen der Geschichte fassen kann und muss — trotz alledem!
Einige Genossen sprechen in der Diskussion, geben Berichte aus den Betrieben. Frauen schreien ihr eigenes und das Leid anderer hinaus. Eine Genossin verliest Briefe eines Genossen aus dem Felde, die den „Burgfrieden" illustrieren. Prügelstrafe, Nachexerzieren, Hunger, Arbeitsdienst bis zum Zusammenbrechen. Dreizehn Briefe sind unterschlagen oder geöffnet worden.
Das XIII. Armeekorps wurde von den Franzosen mit einem Transparent empfangen: „Seid gegrüßt, XIII. Armeekorps." Ein zweites Transparent verkündet: „Marmeladenjungens, geht nach Hausei" Die Mitteilung dieser bekannten Tatsachen kostet den Genossen drei Tage und die Beschlagnahme des Briefes, weil er „militärische Geheimnisse" enthält. Ein Genosse schlägt auf den Tisch. Er ist Graveur, aber mit zwei Fingern an der rechten Hand, drei haben sie ihm weggeschossen, kann er keinen Stichel mehr halten. Er ist erledigt — und bekommt fünfunddreißig Prozent Rente.
Ich möchte am liebsten ebenfalls auspacken, doch Klaus kommt mir zuvor. „So schwer es auch fallen mag", ermahnt er, „wir müssen immer im Auge behalten, dass dem einzelnen sein Recht nur werden kann durch den Sieg des Proletariats. Diesen Sieg vorzubereiten muss daher Sache jedes einzelnen von uns sein."
Dann wird Material verteilt. Flugblätter und kleine Klebezettel. Sophie spricht kein Wort, sie nimmt ihr Teil, und sie tut das so selbstverständlich, als hätte sie es schon immer
getan.
Ich frage sie unterwegs, ob sie alles verstanden habe.
„Einzelheiten", sagt sie, „verstehe ich nicht, wo sollte ich das auch gelernt haben. Aber das große Ganze ist mir vollkommen klar, ich glaube, das muss doch jeder verstehen!"
Es ist schon recht spät. Ich kann nicht mehr viel mit Klaus sprechen, auch nicht mit Anna. Aber es liegt auch wohl nichts sonderlich Wichtiges vor, außer dem, was Klaus auch den andern sagte.
Meine Füße werden besser. Sophie ist ein besserer Arzt als einer in Uniform. Ich kann wieder ohne große Mühe gehen, bin viel mit Genossen zusammen. Es geht doch vorwärts; unterirdisch wachsen die Kräfte zusammen. Wenn sie einmal die trügerische Oberfläche sprengen, sieht die Welt etwas anders aus! Aber vorderhand müssen wir noch unterirdisch arbeiten.
Deswegen steht am Montag vor dem Betrieb, in dem ich arbeite, eine große blonde Frau und verteilt für mich die Flugblätter. „Du kannst dich da nicht hinstellen", sagt Sophie, „wozu denn den Herren vor der Nase herumtanzen."
Ein bombastischer Anschlag am Schwarzen Brett gegen „verbrecherische Elemente, die offenbar im Dienst einer feindlichen Macht stehen", ist die Antwort, aber viele Arbeiter und Arbeiterinnen schütteln ungläubig den Kopf. Anderntags klebt darunter ein kleiner Zettel:
„Hoch Liebknecht!"
„Sie haben sich am... , vormittags 10 Uhr, in... zwecks Nachmusterung einzufinden."
Ein kleiner dunkler Vorraum empfängt die Wartenden. Ich werde wieder gewogen, gemessen, betastet. Die Untersuchung dauert höchstens zwei Minuten. Urteil: k. v. Feldartillerie!
Sophie fragt nicht, als sie abends eintritt. Sie scheint nichts anderes zu erwarten. Dann setzt sie sich, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, auf die Bettkante. Die blonden Strähnen fallen ihr wirr über das entfärbte Gesicht. Ihre Finger verschlingen sich, ihr Mund ist geöffnet.
Ich erschrecke. „Sophl, nicht doch! Ich brauch dich!" Ich weiß nicht, wozu ich das sage, nehme ihre Hände auseinander, drücke sie und setze mich zu ihr.
Sie schaut mich lange und traurig an. Dann bricht sie zusammen und schluchzt.
„Ist doch gar nicht gesagt, dass sie mich noch einmal holen, Sophie."
„Doch!" schreit sie, als wolle sie nicht belogen sein. „Alle holen sie jetzt, bei uns in der Fabrik geht das schon die ganze Woche."
Sie schaut mit verweinten Augen durchs Fenster und sagt dann ganz langsam: „Wozu — das — nun — alles ?!!"
Das „Fest der Liebe" naht zum zweiten Male. An den Bahnhöfen stehen sie in langen Fronten. Sie schreiben keine patriotischen Sprüche mehr an die Wagen, ihr Gesang ist verstummt. Die Fähnchen auf den Kriegskarten machen nicht mehr viel Arbeit, es ist oft „Nichts Neues" zu melden. Die Preise klettern, klettern; der Hunger geht um im Lande. Von den Kanzeln herab eifern die Diener Gottes, um im Namen ihres Gottes zum heiligen Mord aufzurufen. Scharen von Kriegsfreiwilligen — von Kindern — sind schon geschlachtet. Man muss auf immer jüngere Jahrgänge zurückgreifen.
Wir sind nicht überrascht, als uns drei Wochen später der „Rote Schein" von neuem zufliegt.
Als ich ihr sage: „Ich gehe, Sophie", drückt sie kaum merklich meine Hand. Mein Entschluss war längst fertig, schon an jenem Abend, als sie zusammenbrach, und sie mir, der ich um sie fürchtete, bestätigte:
„Hans, ich bin schwanger!"
Dass sie so bitterlich weinte, hatte jedoch noch einen andern Grund.
Alfred ist hier. Ich hätte ihn fast nicht wieder erkannt. Sein Mund hängt durch den abgeschossenen Unterkiefer so schräg ins Gesicht, als wäre ihm das Fundament weggerissen, als hinge diese Seite nur an dem Auge, das viel größer scheint als das andere und immer läuft. Ein ungleichmäßiger Bart versucht das Heldentum zu verdecken, das ihn zeichnet.
So kehrte er heim, will seinen Jungen auf den Schoß nehmen. Aber sein Kind fürchtet sich. „Geh fort, was willst du hier? Du bist nicht mein Papa. Ich mag dich nicht!"
Und der Vater — erzählte Lotte Sophie — steht vor seinem Kind mit unbeweglichem Gesicht. Dieses Gesicht kann kein Lachen und keine Trauer mehr ausdrücken. Alle Gesichtsmuskeln sind zerschossen.
Als ich Abschied nehme, treffe ich nur Klaus und Anna. Martha hat Nachtschicht, Klaus bestellt mir ihre Grüße. Die andern kommen noch ein Stückchen des Weges mit, noch für einen Schoppen am Abend, wie immer, wenn einer besonders schwer zu tragen hat. Es wird dadurch nicht leichter, aber was soll man machen?
Alfred bleibt zu Hause, und ich mag ihn nicht nötigen. Ich versuche mir das frühere, ruhige, bartlose, intelligente Gesicht vorzustellen, als ich ihm die Hand zum Abschied reiche, aber nur wer es gut kannte, findet an der rechten Augenpartie und der hohen Schläfe den Ausgangspunkt. Ich rufe den Kleinen, will ihm die Hand geben. Er hebt erst sein Spielzeug auf, hält es mit seiner kleinen Faust krampfhaft fest und zeigt mir stolz sein Kleinod: Das „Eiserne Kreuz" zweiter Klasse, das Alfred vor einigen Tagen von seiner Truppe nachgeschickt wurde.

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