III.
  Ich darf, um meiner eigenen Sicherheit willen, in der Nacht nicht in  der Stadt herumlaufen; ich kann auch unmöglich in meiner Wohnung  schlafen. Und ich kann nicht damit rechnen, dass ich bei Anna noch  Einlass finde. Als ich noch überlege, holt Martha mich ein. „Wo willst  du hin, Hans?" 
    Ein letzter Rest von Selbstbeherrschung hindert  mich, sie von mir zu stoßen. Da sehe ich, wie sie zittert und kaum  sprechen kann. 
    „Du musst dich in Sicherheit bringen, Hans", stottert sie. „Ich will dir  helfen, weiter nichts." 
    Und dann schon ruhiger: „Wir müssen irgendwo schlafen, wo wir vor den  Krimchen sicher sind; ich weiß, du bist ein Deserteur. Else geht  todsicher verschütt, und dann verrät sie dich!" 
    Martha geht mit mir durch den Gang, in dem wir wohnen, und eilt rasch  nach oben, sich Mantel und Hut zu holen. In einem kleinen Logierhaus,  unweit davon, klingelt sie dem Nachtportier. Er führt uns in eine Stube  mit zwei Betten. Unter der Tür spricht Martha leise mit ihm, kommt  zurück und sagt: „Hier ist die Luft rein. Ernst nimmt uns auf seine  Kappe. Wir können ohne Sorgen sein." 
    Martha bestellt Brot und Kaffee. „Ich habe noch Hunger." Sie schaut mich  an. 
    Ich denke aber an ganz etwas anderes; denke mit Schrecken daran, dieses  Leben auf unbegrenzte Zeit führen zu müssen, und werfe mich auf ein  Bett. Mich stört das Licht, mich stört die Teilnahme und mich stören  die Gedanken an den andern Tag. 
    Sie schaut zögernd zu mir herüber, nähert sich aber nicht. Als sie Schritte  hört, sagt sie: „Der Kellner kommt!" 
    Ich stehe auf, setze mich an den Tisch und rauche eine Zigarette. 
    Sie gießt Kaffee ein, bedient mich wie am Abend. Nach einer Weile sagt  sie: „Du musst versuchen, diese hässliche Geschichte zu vergessen." 
    Ich mag nicht antworten, und so esse ich. Die Uhr schlägt zwölf. Es  regnet stark. In den Straßen wird es still. Martha macht das Fenster  auf. Die vom Regen gereinigte Luft strömt ein und vertreibt die  drückende Schwüle. Martha zieht sich die Schuhe aus und die Hausschuhe  an. Dann legt sie sich den bunten Schal um die Schultern, setzt sich  und sagt: „Du siehst so abgespannt aus, so abgehetzt. Wenn du müde bist  und schlafen gehen willst, nimm keine Rücksicht auf mich. Ich möchte  noch ein bisschen wach bleiben, ich kann doch noch nicht schlafen." 
    „Ich bin sehr müde", sage ich, und bin froh, nicht mehr sprechen zu  müssen. Aber irgendein Schuldbewusstsein nötigt mir die Worte ab: „Gute  Nacht, Martha!" 
    „Gute Nacht, Hans!" Auf ihren mehlweißen Wangen blüht flüchtig der  helle, rötliche Schimmer auf. Sie drückt meine Hand, und ich erwidere  den Druck. Dann lege ich mich ins Bett und schließe die Augen, schlafe  aber nicht, das Morgen hält mich noch wach, auch noch, als Martha nach  einer Weile still ans Bett tritt und mir leise über das Haar streicht. 
    „Ist dir nun besser?" Sie sah wohl schon eine Weile zu mir herüber, als  ich mich umdrehe und sie begrüße. Als ich ihr sage, dass ich mich  stellen will, richtet sie sich etwas auf. 
    „Warum?" fragt sie dann. 
    „Ich habe keine Lust, von jedem Narren als Feigling beschimpft zu  werden; mich wie Ungeziefer zu verkriechen. Ein solches Leben ertrage  ich einfach nicht. Und auf welche Weise man Selbstmord begeht, ist  schließlich gleichgültig." 
    Sie legt sich, ohne ein Wort zu erwidern, wieder hin. Ich stehe auf und  ziehe mich an. Ich erwarte auch keine weitere Antwort, wundere mich  aber trotzdem, dass sie schweigt. Als ich mich nach ihr umsehe, ist sie  unter der Bettdecke verschwunden. Sie liegt in heftigen Zuckungen. Ich  trete an ihr Bett und versuche, die Decke hochzunehmen; sie hält sie  aber krampfhaft mit den Händen fest. Als ich ihr die Decke doch  fortnehme, sehe ich, dass sie weint. 
    „Warum weinst du, Martna?" 
    Sie gibt mir keine Antwort, macht sich gewaltsam frei, steckt ihren Kopf in die  Kissen und schluchzt. 
    Nach einer Weile richtet sie sich auf, wischt sich die Tränen aus dem  Gesicht und sagt: „Du hast recht. Alles andere ist Unsinn. Willst du  heute schon hingehen?" 
    Der Ton, in dem sie fragt, kommt mir ebenso unerwartet wie die Frage  selbst. Ich möchte ein Missverständnis vermeiden, einen Bruch von  Beziehungen, von denen ich bis zu diesem Augenblick nichts wissen  wollte, und antworte: „Ich weiß es noch nicht, weiß es überhaupt noch  nicht genau. Ich meine nur, es ist wohl das beste für mich. Ich möchte  nachher zu Anna gehen und mit Klaus sprechen. Willst du nicht  mitkommen, Martha?" 
    Sie bleibt stumm. Sie scheint zu merken, dass ich sie beobachte. Sie  ist aufgestanden, schnürt sich die Schuhe zu und sieht nach dem  Fenster, um ihr Gesicht zu verbergen. 
    Mir kommt langsam zum Bewusstsein, dass mein Verhalten sie verletzen  muss. Ich gehe zu ihr hin, lege meine Hand auf ihre Schulter und sage:  „Hör mal, Martha; darfst meine Worte nicht auf dich beziehen. Das wäre  unrecht von dir. Ich bin so zerfahren und gereizt. Ich möchte dir nicht  wehe tun. Du bist einer von den wenigen Menschen, vor denen ich Achtung  habe." 
    Da setzt sie den Schuh vom Stuhl und schaut mich mit großen Augen an.  Über ihre Wangen huscht wieder das flüchtige Rot. Dann sagt sie: „Hans,  ich möchte dir so gern helfen." 
    Wir trinken Kaffee, sie bedient mich. Wir lachen und erzählen uns, wer  wir sind. Ich berichte auch, dass ich nur noch zehn Mark habe, und sie  antwortet mir, ich möchte bezahlen, was ich bestellt habe. Ich besinne  mich, dass ich gar nichts bestellt habe. Sie lacht wieder. Wir ziehen  uns an und gehen zu Anna. 
    Anna Fidel kann schlecht ihre Überraschung unterdrücken, als sie uns  sieht. Aber sie sagt nichts. Ich frage nach Klaus. Er ist bei dem  Former Alfred Maußner. Ich bin darüber etwas erstaunt. Alfred müsste  doch schon lange fort sein. Ich war in den letzten zwei Wochen nur  einmal bei Anna. 
    „Du siehst so schlecht aus", sagte Anna damals, „bist du krank, Hans?"  Ihr Blick verriet, dass ich nichts vor ihr verbergen konnte, das  ärgerte mich. Klaus war nicht da. Ich gab vor, nach Arbeit zu suchen,  und ging wieder. 
    Wir setzen uns, keiner spricht. Es liegt etwas in der Luft, was auch  mich am Sprechen hindert. Da fragt Anna: „Wat is denn los west bi juch  die Nacht?" 
    Ich sehe Martha an. Sie sieht zu Boden. Ehe ich etwas sagen kann, Jährt  Anna fort: „Nu ward se so rasch nich wedder rutkomm'n, dor warn se woll  vör sorgen. Aber da nützt ja keen Reden, hett jo sülwst schuld." 
    Martha fährt vom Stuhle hoch: „Wie meinst du das?" 
    „Else hebben se doch de Nacht holt, wet ji dat nich, sün ji nich to Hus  west?" 
    „Woher weißt du das?" 
    „Mutter war hier. Sie hat Else gesucht. Nach ihr kam ihr Bruder und erzählte,  dass Else wieder eingeliefert ist." 
    „Das hab ich mir gedacht", meint Martha, „wenn sie besoffen ist, weiß sie  nicht, was sie tut." 
    Anna schaut uns beide flüchtig und fragend an, dreht sich um und  verlässt die Stube. „Muss mal nach dem Essen sehen", sagt sie. Kurz  darauf: „Hans, komm mal 'nen Augenblick." 
    „Ick will di jo keen Vorschriften moken, Hans, awer die Mutter tut mir  so leid. Sie sagt, du hast dir die Füße an Else abgetreten und sie dann  nicht mehr angeguckt." 
    Ich fühle maßlosen Zorn aufsteigen. „Wenn du das glaubst, Anna, dann  will ich mich nicht verteidigen. Du weißt aber nicht, was das für eine  Mutter ist, und dass in Else der Teufel steckt. Sonst konntest du mich  nicht dort hinschicken." 
    Anna stutzt. „Die Alte hat mächtig auf Martha geschimpft", sagt sie  dann. „Sie soll an allem schuld haben. Ich glaube das ja auch nicht.  Wir wohnten einmal auf einem Flur in Hammerbrook zusammen, daher kennen  wir uns. Nun komm ich ja fast nicht mehr hin. Erzähle doch, wie das  alles war. Wir wollen Martha nicht so lange allein lassen." 
    „Lass dir von Martha erzählen. Sie weiß, dass zwischen uns nichts sein  kann, und trotzdem habe ich es ihr zu verdanken, dass ich nicht mit  hochgegangen bin. Was sie sonst macht, geht mich nichts an." 
    Anna sieht mich ganz ruhig an, als hätte sie diese Antwort befriedigt.  Sie fällt nicht mehr ins Hochdeutsch, das ist bei ihr immer ein Zeichen  einer kritischen Situation. Sie deckt in der Küche. Ich sehe, dass sie  vier Teller zurechtstellt und zähle insgeheim: Anna, Klaus, Martha und  ich, und bin zufrieden. 
    „Willst du Klaus rufen?" fragt Anna nun. 
    Ich habe die Tür schon in der Hand, da fällt mir ein, dass Martha immer  noch allein sitzt. Ich will etwas hinunterschlukken, aber es geht  nicht. So gehe ich noch einmal zurück und sage: „Hör einmal, Anna, tu  mir den Gefallen und rufe Martha herein. Sag ihr ein gutes Wort. Ich  sage dir später, warum." 
    „Nu geh man schon, un mok mi nich so viel Vorschriften." Anna sagte es so  laut, dass Martha es bestimmt hören musste. 
    Ich kenne Alfred Maußner und seine Frau nur von den Zahlabenden her.  Als ich in die Stube trete, sehe ich zwei lange Wände vollständig mit  Büchern verdeckt, fast alles wertvolle Bände. Genosse Maußner war immer  kurz und sachlich und war deshalb auch keine allzu populäre  Persönlichkeit. Bei ihm einen solchen Berg von Literatur vorzufinden,  überrascht mich. 
    „Tag, Genosse Betzoldt!" 
    Mir fällt ein, dass ich momentan Kiefernholz heiße, aber ich  protestiere nicht. Sie sitzen beide, Klaus und Alfred, auf dem Sofa,  noch in Hemdsärmeln. Es ist Sonntag. 
    Alfred muss unterrichtet sein, denn er fragt: „Na, Hans, alles in Butter?" 
    „Wie man's nimmt." Ich frage dann, nachdem ich einige Bedenken  überwunden habe, neugierig zu erscheinen, wie es kommt, dass er noch  hier ist. Er wohnt doch zu Hause und konnte sich der Kontrolle nicht  entziehen. Alfred erzählt, dass er als Spezialarbeiter einstweilen  beurlaubt ist. 
    „Wie lange das geht, weiß ich auch nicht. Man darf absolut nichts  verlauten lassen, dass man nicht in das patriotische Horn bläst, sonst  ist man draußen. Aber nun, wo Lotte so ist, hilft eben alles nichts.  Wenn alles glücklich vorüber ist, kann man sich auch wieder etwas mehr  rühren." 
    Ich sehe zu seiner Frau hin. Sie deckt den Tisch. Ihr hoher Leib kündet  die nahe Geburt an. Ihre Augen scheinen so groß vor lauter Angst. Sie  ist in meinem Alter, vielleicht noch jünger. Ihr junges, schönes  Gesicht ist blass, als wäre von irgendeinem Schreck die Farbe  fortgeblieben. Als sie die Stube verlässt, sage ich: „Deine Frau sieht  so schlecht aus, Genosse Maußner." 
    Er nickt ein wenig mit dem Kopf. „Ist auch kein Wunder", sagt er. 
    „Ich kann mir nichts Grausameres denken, als die Qual einer Mutter, die  ihrer Stunde entgegensieht mit dem Gedanken, dass der Vater ihres  Kindes diese Stunde nicht mehr erlebt." 
    Klaus sagt das knirschend vor sich hin, steht auf, steckt die Hände in  die Hosentaschen, bewegt den Mund, als wollte er noch etwas sagen, ist  aber still. 
    Alfreds Frau betritt gerade das Zimmer—sie trägt Essen auf. 
    Als sie wieder hinausgeht, sagt Alfred: „Das verstehen wir wohl nicht,  das ist die Menschlichkeit der zivilisierten Welt. Lotte hat sich  trotzdem tapfer gehalten. Ich bekam doch im letzten Moment erst  Nachricht, dass ich vorläufig hierbleibe, aber die Nachricht gestern  hat sie vollständig niedergeworfen." 
    „Welche Nachricht?" frage ich. 
    „Ihr Bruder ist verwundet, aber was ihm ist, wissen wir nicht." 
    Wir verabschieden uns. „Also um drei Uhr!" sagt Klaus im Gehen. Alfred  nickt. Lotte wendet sich um und sagt leise: „Ich möchte gar nicht  weggehen, ich bin so müde und das Laufen fällt mir schwer." 
    „Ruhen Sie vorerst ein bisschen", meint Klaus, „und kommen Sie ein  wenig mit an die Luft. Sie müssen auf andere Gedanken kommen." Er sagt  es wie eine Bitte, der Lotte nicht widerspricht. 
    „Klopft man", sagt Alfred dann. „Grüßt Anna!" 
    Anna und Martha essen bereits. „Ji hett ruhig noch 'n beten blieben  künnt", empfängt uns Anna, „wi wörn mit dat beten Flesch ok mit twee  Mann fertig worn." 
    „Immer eten, Hauptsak, et schmeckt", sagt Klaus. Ich sehe, dass Marthas  Wangen rot sind, und freue mich. 
    Draußen ist heller Sonnenschein, recht heiß noch. Anna lässt die  Rolläden herunter. Wir sitzen stumm am Tisch; ich höre über mir  deutlich das Ticken des Regulators. 
    „Wat mach he woll moken?" Anna spricht die Worte vielsagend vor sich  hin; sie meint ihren Mann. Keiner gibt eine Antwort. Was soll man  darauf auch antworten. Brüssel war gefallen. Die deutschen Armeen  hatten Belgien durchbrochen, und er ist dabei. 
    Dann steht sie auf und räumt langsam den Tisch ab. Martha hilft und  Klaus putzt seine Schuhe. „Ihr kommt doch mit?" fragt er. „Wir fahren  nach Ohlsdorf. Annas Schwester und Sophie Bäumlein kommen auch mit, sie  holen uns ab. Ich soll dich übrigens grüßen und dich fragen, warum du  dich gar nicht sehen lässt." 
    Ich kann meine Neugierde nicht unterdrücken und frage, wer denn Sehnsucht nach  mir habe. 
    Klaus lacht und sagt: „Alle beide." 
    „Spaß beiseite", fährt er dann fort, „hast du dich bei Tiebig  angemeldet? Du musst von dort weg. Mir hat die Sache gleich nicht  gepasst. Ich wollte aber nichts sagen. Ich mag die Alte nicht. Sie  weint mir zu viel." 
    „Ich bin schon weg, ich habe mich dort gar nicht angemeldet. Es wird auch  nicht mehr nötig sein." 
    Klaus hört aufmerksam zu und überlegt. Dann legt er Schuh und Lappen  weg und sagt: „Ich kann ein Lied davon singen, was es heißt, von der  Bande gejagt zu werden, trotzdem ich meine Strafe abgemacht habe. Ich  kann dir alles nachfühlen. Wenn du keine Nerven dazu hast, stell dich  lieber gleich. Jetzt kommst du mit einer faulen Ausrede und einem  blauen Auge davon." 
    Anna kommt wieder. Ich weiß nicht, ob sie errät, was wir besprochen,  oder ob sie von Martha unterrichtet ist. „Slöpst also wedder hier,  Hans, giwst di gefangen." 
    Mir wird wieder die Luft so knapp. „Wenn es dir recht ist, Anna, dann  schlafe ich wieder hier. Gib mir solange meine alten Papiere wieder und  steck die hier weg, damit ich keinen Unfug mache. Ich möchte einmal  richtig schlafen." 
    Anna sieht Klaus an. Der bleibt jedoch still. Dann sagt sie: „Jo, slop  di man noch mol bi mi ut, min Jung. Wenn ick dat wüßt hett, hett ick di  nich wechloten. Utrücken kannst immer noch. — Nu mok di mol'n beten in  de Reih'. As son ollen Penner kannst nich mitgohn. Bürst di reen un  putz din Schuh, ick hol di von Georg 'n Hemd un Krogen." 
    Das war jener Ton, auf den es keine Widerrede gibt. Ich habe auch kein  Bedürfnis zu widersprechen.  | 
  
    
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