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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XXI.

Der Gedanke, wieder hoffnungslos verbannt zu sein, quält mich während meiner ganzen Rückfahrt.
„Na, fein eingefädelt, was — könnte Ihnen wohl so passen ?" empfängt mich der Wachtmeister.
Ich setze mein dümmstes Gesicht auf: „Wie meinen Herr Wachtmeister ?"
„Sie gehen nachmittag in Feuerstellung, können zu Fuß gehen!"
„Jawohl, Herr Wachtmeister!"
Mau empfängt mich freudig und gibt mir die Hand. „Betzoldt, du Hund, verfluchter!"
„Was ist denn?"
„Holl din Mul — die sin schön upregt."
Roggenbrot kommt: „Sollen zum Herrn Hauptmann kommen!" dann etwas leiser: „Lassen Sie sich nicht einwickeln, Mensch!"
Der Hauptmann setzt mir auseinander, dass irgendwelche „Rumpelwerke" sich einbilden, seine besten Mannschaften holen zu können, und dass mich kein Mensch zwingen kann, wenn ich nicht will.
„Kennen Sie die Firma überhaupt?"
„Nein, Herr Hauptmann. Ich weiß nur, dass einige frühere Arbeitskollegen dort arbeiten."
„Seien Sie nicht so dumm. In sechs Wochen sind Sie vielleicht in Frankreich. Sie sind doch auch verheiratet?"
Ich bejahe, und er gibt mir den Rat, mir die Sache bis morgen früh zu überlegen.
Ich gehe anderntags wieder zu ihm und melde, dass ich mir die Sache überlegt habe. — „Ich fahre!"
„Dann scheren Sie sich zum Teufel!"
Die Batterie ist angetreten zum Arbeitsdienst.
„Auf Wiedersehen, Herr Wachtmeister Roggenbrot!"
„Wiedersehen, Betzoldt! — Von Herzen alles Gute!"
„Auf Wiedersehen, Kameraden!"
„Wiedersehen, Betzoldt! — Grüß die Heimat!"
Dann verabschiede ich mich von Gustav. „Ick gönn di dat von Herzen", sagt er, „grüß Sophie!"
Da kommt der Herr Wachtmeister und sagt: „Was suchen Sie denn noch hier? Sie sind doch schon vor einer Stunde abgefertigt!"
Sophie war ganz verzweifelt, als wir spätabends in einem kleinen Hotel in Berlin todmüde nach einem Zimmer fragten.
Zwei Tage haben wir Wohnung gesucht, aber: Ein Soldat und ein Frauenzimmer, das kennt man schon. Nein, nein, wir sind anständige Leute!
Sie sagten uns das nicht, die uns die Tür zumachten, nachdem wir uns unter Hinweis auf das angepriesene „Möblierte Zimmer mit Küchenbenutzung" vorgestellt hatten. Aber die Art, wie sie „bedauerten", war deutlich.
„Musst lieb sein, Sophl, wird schon werden!" Sie sinkt apathisch auf das steif aufgebaute Bett: „Ich weiß nicht, Lütting, ich habe das Gefühl, das hat alles keinen Zweck. Ich halte das nicht mehr aus. Muss man sich noch anstieren lassen von diesen Weibern, als wäre man sonst was. Was soll noch alles kommen, ich sehe gar kein Ende, das ist doch alles so schrecklich, so erniedrigend. In Hamburg hatte ich wenigstens mein Plätzchen für mich, nun auch das nicht mehr. — Gar nichts mehr!"
In ihren müden Augen lauert etwas Fremdes: „Verstehst eben auch nicht, was ich hinter mir habe. Immer allein gewesen, meine im Leib verhungerten Kinder allein eingegraben. Nun wieder fort, sich angaffen lassen von diesen Weibern. Wofür? — Das Ende?"
Morgens um sieben Uhr hole ich meinen Zivilanzug aus dem Koffer und lasse einen Zettel zurück: „Komm bald wieder, werde versuchen, etwas zu finden, bis Mittag bin ich zurück."
Dann versuche ich mein Glück im Osten und miete nach dreimaligem vergeblichem Anklopfen ein Zimmer 'für uns beide. Vielleicht wäre es uns auch schon tags zuvor gelungen, hätte ich nicht in meinem Ehrenkleid einen so verdammt schlechten Eindruck gemacht.
Wir bringen unsere Habseligkeiten in die neue Wohnung: das nötigste Geschirr, einige Pfund Kartoffeln, unser Brot und unser Fett. Schenken der Frau eins von diesen Broten — sieben Stück habe ich noch auf meiner zweiten Reise mitgebracht — und tauschen dafür ein strahlendes Gesicht ein.
Am andern Tag melde ich mich zur Arbeit.
„Können Sie Pittler-Bänke einrichten?" empfängt mich Meister Horn. Ich bejahe und bekomme fünf Bänke, an denen Frauen arbeiten. Hülsen, Scheiben, Schrauben, Bolzen.
Sie beobachten mich interessiert, wissen, dass der Einrichter die Preise angeben muss. Wenn die ersten Stücke durch die scharf geschliffenen Stähle laufen, die eben eingerichtete Maschine reibungslos funktioniert, stimmt das mit den Minuten für das Hundert einigermaßen. Ein „tüchtiger" Einrichter ist immer an den Preisen, die er macht, zu erkennen. Ob die Maschine so durchhält — was geht ihn das an! Er muss sich „bewähren", der Meister hat die Wahl; ein Wink an das Reklamationsbüro, und er ist wieder unter den tapferen Feldgrauen.
Der „Brotstreik" hat außerdem erst kürzlich die Spreu vom Weizen gesondert. Meine beiden Kollegen sind der alte Janke und Nachtigall. Nachtigall, zweiundzwanzig Jahre alt, kam erst vor kurzem von der Westfront. Janke ist unübertrefflich; ein alter Junggeselle, verbissen, säuft viel, hat eine Nase wie eine Glühbirne und einen Glatzkopf wie ein Kürbis. Wenn er sagt „Zweiunddreißig Pfennig pro Hundertl", dann gibt es zweiunddreißig Pfennig. Die Arbeiterin, die sich weigert, den Preis anzuerkennen, kann sich ja bei dem Meister und Herrn Zickel, dem Oberkalkulator, beschweren.
Janke hat sich in jeder Beziehung bewährt. Er hat mit keiner Wimper gezuckt, als die „Verdächtigen" nach dem Hungerstreik, einer nach dem andern, hinauskommandiert wurden. Er sieht nicht ein, warum er sich dieser Gefahr aussetzen soll — wegen der „dämlichen Weiber".
Nachtigall ist nicht so ganz firm; hat zu viel Stunden für Einrichten und soll ausscheiden, soll an eine Spitzenbank. Ich soll sein Nachfolger werden.
Die Maschinen brummen, surren. Gehetzte Augen liegen über den schälenden Stählen, gehetzt von der Uhr, die unerbittlich weiterläuft, auch wenn die Stähle stumpf werden, weil das Ersatzöl nicht schmiert. Die Maße passen schon nicht mehr, wenn der Einrichter eben erst die Maschine abgegeben hat. In der Kontrolle wird genau gemessen. Seufzend hält die Arbeiterin die Maschine an. „Herr Janke!"
Herr Janke kommt, wenn es ihm passt, brummt dann, schleift den Stahl und sagt: „Bei euch muss man immer dabeistehen, sowie man den Arsch dreht, geht's nicht." Die Arbeiterin bleibt stumm. „Der Kerl wird gleich so ausfallend, wenn man einmal etwas sagt!" entschuldigt sie sich vor mir.
Es klingelt zum Frühstück. Ich setze mich auf einen der Schemel, will aufstehen, als die kleine Erna ihn vermisst. Aber sie bittet mich, sitzenzubleiben. Scheint froh zu sein, mir einen Gefallen tun zu können.
Ich packe meine Kommissbrotschnitten aus und beiße ab. Die Einrichter sitzen an ihrem Werkzeugschrank. Dass ich bei den Arbeiterinnen sitzen bleibe, weckt Hoffnungen in ihnen.
„Kommen wohl auch aus dem Schützengraben?" fragt Zinke, die ältere „Kriegerwitwe". Sie hat zwei Kinder, ihr Mann ist schon vor zwei Jahren fürs Vaterland gefallen.
„Ja, von Russland."
„Die einen gehen, die andern kommen. — Sie können sich ja die Leute aussuchen", sagt die schwarze Ellenbogen.
Sie suchen mir irgendwie „näher zu kommen", glauben aber, auch bei mir sich in acht nehmen zu müssen.
Nur Gertrud Bartsch ist etwas dreister. „Der Schweinehund von Janke versteht die Karre zu schieben", meint sie und angelt ein Scheibchen Radieschen aus einer Tasche.
„Ja, der versteht's, der Schmarotzer!" ergänzt Ellenbogen bestätigend. „Solche können sie gebrauchen, die die Frauen piesacken bis aufs Blut."
„Wenn sie die Beine nicht vor ihm breit machen", setzt Gertrud hinzu und schielt wütend zu Janke hinüber. Die andern lachen beipflichtend und lauernd. Man darf nicht zuviel sagen, weiß nicht, was mit dem „Neuen" los ist.
Ich höre und schweige. Werde hier nicht auf Rosen gebettet sein; wer weiß, wie lange die Episode dauert? Aber ich möchte irgend etwas sagen und frage: „Wieviel verdient ihr hier?"
„Fünfzig Pfennig, wenn's hoch kommt."
Ich beobachte sie bei ihrem Frühstück. Die eine legte sich fünf Minuten lang immer eine winzige Scheibe Radieschen auf einen winzigen Bissen Brot. Die andere hat irgend etwas Grünes in einer Tasse, wie Spinat. Ihr Brot für die Woche ist schon aufgegessen. Ich gebe ihr eine halbe Schnitte ab, sie nimmt, und bemüht sich krampfhaft, die Gier zu unterdrücken. Die dritte hat Tomaten auf dünnen, schwarzen, klitschigen Schnitten. Die zwei Schnitten mit den Tomatenscheiben, die mehr Suppe als Scheiben sind, kann man zusammengedrückt in einer hohlen Hand verbergen. Bertha hat in einer Tasse weißen Käse und nimmt immer eine Messerspitze voll zu ihren Brotstückchen. Frau Zinke isst nichts. Sie kann sich nicht „einrichten". Kommt vom Norden und hat ihre Schnitten schon aufgegessen. Sie muss morgens erst ihre beiden Kinder zur Schule fertig machen, und dann der lange Weg mit der Bahn und zu Fuß. Da verliert man die Selbstbeherrschung. Sie nimmt dankbar die andere Hälfte der einen Schnitte und sagt: „Nicht doch, dann haben Sie doch nichts zu Mittag, Herr Betzoldt!" Sie selbst hat natürlich zu Mittag auch nichts.
Ich habe nichts zu trinken und nehme von dem „Kaffee", den sie mir anbieten. Eine heiße, geschmacklose Brühe ohne Milch, Zucker und erst recht, ohne Kaffee. „Kotzen Sie aber nicht nach der Plärre", meint die Bartsch, schon zutraulicher. Die kleine Erna ist darüber erbost und schimpft: „Du bist unausstehlich, Gertrud, was soll Herr Betzoldt von uns denken?"
Langsam gehen sie nach der Pause an die Arbeit. Aus den Toiletten kommen sie zu Dutzenden zurück — sie haben dort eine Kriegszigarette geraucht, das stillt zwar den Hunger nicht, aber es betäubt.
Meister Horn schielt kritisch vom Gang her; ich weiß nicht, was er denkt, ahne aber die Zusammenhänge: Lass dich nur erst mal mit den Weibern ein, dann sind wir die längste Zeit Freunde gewesen!
Sophie wird auf den „ersten Eindruck" gespannt sein.
„Hals- und Beinbruch, Hans!" sagte sie, als ich mit meinen Stullen ging, nach langer Zeit wieder auf Arbeit. So ganz neu war uns beiden das. Sie wird mich am Abend unruhig erwarten. Wird in banger Sorge fragen: „Na, Lütting, wie war's?"Möchte so gerne hören: „Ist ganz fein!" Sie weiß, dass ich in meinem Beruf kein Stümper bin, hat deswegen keine Sorge; aber sie kann ja schon ein Lied singen von meinem sonstigen „Pech".
Was soll ich ihr berichten? Ich möchte ihr so gerne sagen: „Ist ein Kinderspiel, die Arbeit; hab schon ganz etwas anderes gemacht, Sophl, brauchst dir keine Sorgen machen." Oh, wie gönne ich ihrem geschundenen und geschändeten Körper, ihren glanzlos gewordenen Augen die Ruhe, die Erholung, den Schlaf ohne Sorgen.
Aber dein Hans, Sophie, wird nie ein „ordentlicher Mensch" werden. Die Betriebe sind gesäubert von „Hoch-" und „Landesverrätern". Ein raffiniertes System gegenseitiger Selbstzerfleischung, von der Angst vor dem Heldentum in Bewegung gehalten, hält die hungernden Sklaven nieder. Ich höre die Verzweiflungsschreie in ihren harmlosen Worten, höre den
Hohn der Antreiber. Ein guter Patriot zu sein, wie billig wäre das. Ich bin es nicht und — will auch keiner sein!
Gleich nach dem Frühstück rückte Erna ein paarmal hintereinander ihre Bank aus und ging hinaus. Dann brachten sie sie herangeschleppt, trugen sie auf einer Bahre zum Sanitäter. Sie wand sich in Krämpfen, hatte ihren Spinat ausgebrochen. Man brachte sie zum Arzt und dann ins Krankenhaus. Dort stellte man Vergiftungserscheinungen fest und untersuchte ihr Töpfchen, in dem noch ein Rest für die Mittagspause war. Es waren Rhabarberblätter, die Mutter durch den Wolf gedreht hatte.
Dass ihr Mädel beinahe gestorben wäre, hat die Mutter sehr erschreckt. Ist also doch nichts mit dem schönen „Ersatz". Der Arzt sagt ungläubig: „Frau, wie können Sie bloß so etwas machen? Sie als erfahrene Hausfrau müssen doch wissen, was genießbar ist und was nicht!"
Erna nimmt nun keinen falschen Spinat mehr mit. Sie nimmt jeden Tag etwas weniger Brot, damit es „reicht". Denn Brotkarten sind teuer: Fünf Mark das Stück. Mit fünfzig Pfennig Stundenlohn kann man sich diesen Luxus nicht leisten.
Nach drei Tagen kommt sie wieder. Im Krankenhaus ist das auch so 'ne Sache: Man muss Brot-, Fleisch-, Kartoffel-, Butterund sonstige Karten abliefern, und sie durfte doch nicht einmal etwas essen. Selbst diesen einen Vorteil ihrer Krankheit, dass sie infolge ihres ausgepumpten Magens drei Tage fasten musste und so mit ihren Karten wieder etwas nachkäme, hat sie nicht wahrnehmen können.
„Sie sind ungeheuer blutarm", sagte der Arzt, als sie ging, „müssen möglichst viel Obst und Fett essen."
„Woher nehmen?"
„Das ist nicht meine Sache, ich kann Ihnen als Arzt nur den Rat geben."
Sophie hört mir erregt zu, als ich ihr das erzähle. Dann nimmt sie ein halbes Brot aus dem Spind, wickelt es in ein nasses Tuch ein und meint: „Nimm der Kleinen das morgen mit, wir haben ja noch vier Brote."
Ich nicke, kann aber nicht umhin zu erwidern: „Gewiss, auf das halbe Brot kommt es auch nicht mehr an, aber die andern hungern genauso. Selbst wenn wir den letzten Bissen hingeben, nützt das nichts."
Sophie legt das Brot auf den Tisch, setzt sich und sagt: „Dass die Menschen sich das alles gefallen lassen?!"
„Sie werden durch Angst und Hunger in immer größere Angst und zu noch größerem Hunger gezwungen, und die Rebellen werden ins Feld geschickt."
Sophie schweigt.
Meister Horn hält mir einen langen Vortrag über meine hohen Preise.
„Was Janke auf seine Zettel schreibt, ist Betrug; er ist nur auf sich bedacht und täuscht etwas vor. Wenn es nur darauf ankommt, billige Preise anzuschreiben, kann ich das vielleicht besser als Janke. Aber die unbesetzten Bänke, die halbfertige herumliegende Arbeit? Die Lohnstunden jeder neuanfangenden Dreherin?"
„An den Preisen können wir nichts ändern, Betzoldt, die werden uns von oben vorgeschrieben, weil der Akkordsatz schon erreicht worden ist."
„Durch Schiebung! Auf die eine Arbeit werden die Stunden geschoben, auf die andere der Akkord."
„Da haben die Weiber selbst schuld."
„Dann ist es ja überflüssig, noch Preise anzugeben? Ich bitte darum, als Einrichter abgelöst zu werden. Geben Sie mir eine Spitzenbank im Maschinen- oder Werkzeugbau!"
Meister Horn überlegt und meint dann: „Werde sehen, ob ich Ersatz für Sie finde."
Er gibt meinem Wunsch nach, weil er Hohenstein ein paarmal mit mir sprechen sah; wittert in mir ein untergeschobenes Kind und will es mit meinem ihm unbekannten Gönner nicht verderben.
Ich bin nun mit Versuchsarbeiten beschäftigt, bekomme meine Stunden nach dem geltenden Akkordsatz bezahlt —
aber unser Brotvorrat ist aufgebraucht; wir haben sogar immer schon das Brot der laufenden Woche auf die Karte für die nächste Woche. Wir hungern uns durch die Tage und Wochen. Einer verbirgt seine Qualen tapfer vor dem andern, schiebt ihm manchmal von dem seinen noch einen Bissen zu. Wir versuchen einander zu täuschen und wissen doch, wie der andere denkt. Wir belächeln — jeder für sich — unsere Komödie, bis es wieder über uns kommt, jeder für sich von seinen Qualen gepackt wird, wenn er den andern ansieht.
Ein Tag verläuft wie der andere.
Drei „Paar" Schnitten kann Sophie mir mitgeben, dabei setzt sie noch von ihrem Brot zu. Sie sind mit „Käse" bestrichen, man merkt das an dem Gestank. Oder mit Tomatenbrei oder mit Marmelade. Um sechs Uhr verlasse ich die Wohnung. Um sieben Uhr beginnt die Arbeit. Eine Scheibe, so groß wie eine Kinderhand, dünn wie Pappe, ist das erste „Frühstück". Eine Buchenlaubzigarette nach der schwarzen Zichorienbrühe beschließt die Mahlzeit. Aber Schlaf macht nicht satt. Nach einer Stunde Weg und Fahrt beginnt die Überlegung, ob man nicht ein „Paar" Brote vorweg isst, zum Frühstück nur ein halbes „Paar".
Ich esse nicht nur ein „Paar". Das Brot im Werkzeugschrank übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, nicht nur auf mich. Wir sitzen mit sechs Mann bei unserm Frühstück, fast keiner hat noch etwas zu essen. Wir sitzen in der Mittagspause bei unserm „Kaffee" und rauchen. Man tröstet sich; um einhalb fünf Uhr ist Feierabend. Dann noch eine Stunde Weg. Der Nachmittag wird noch zweimal unterbrochen durch je eine Zigarette. Sind also alles ganz kurze Pausen von eineinhalb bis zwei Stunden. Dann gibt es am Abend immer eine winzige Scheibe Brot vor dem Essen. Die ganze Zeit- und Pausenberechnung ist eine einzige Spekulation, um sich über einen langen Arbeitstag hinwegzutäuschen bis zu dem Augenblick, in dem ich die Tür des Zimmers öffne und die heißbegehrte, trockene Schnitte Brot schnappe.
Sophie muss unbedingt wieder ins reine kommen, sonst hat sie eine Woche kein Brot, bevor es die neuen Karten gibt. „Ich kann dir heute keine Schnitte geben, Lütting", sagt sie eines Tages, als ich nur noch mit Mühe diese Hungerkur durchhalte.
Eine unsagbare Wut packt mich — gegen wen?
„Lütting, ich kann doch nichts dafür!" Ihr aschfahles Gesicht, ihre mageren Schultern, ihr zusammengebrochener Körper sagen mir nur zu deutlich, dass sie mehr leidet, mehr hungert als ich.
Ich fliehe aus der Stube die Treppe hinunter, trete in den Bäckerladen im Hause.
„Ein Brot!"
Man reicht mir ein Brot, ich suche krampfhaft nach einer Brotkarte in meinen Taschen, überlege und sage dann: „Hab sie wohl oben gelassen, werde sie sofort bringen."
Sophie empfängt mich mit misstrauischen Blicken. „Was nützt das", sagt sie niedergeschlagen, „die Frau will doch ihre Karte haben, sie wird sie von mir verlangen."
„Das Brot ist ohne Karten!" lüge ich. „Komm, iss, Sophl. Ein halbes können wir verdrücken. Wenn wir's nicht gehabt hätten, hätte es auch gehen müssen."
„Von wo hast du das?"
„Frage bitte nicht, iss, lass dir's schmecken!"
Ich kann nichts anderes erwidern, sinne vielmehr unausgesetzt, wie ich mich mit dem Brot ohne Karte aus der Affäre ziehe. Horche immer, ob die Bäckerfrau nicht die Treppe hochkommt. Es muss doch Ladenschluss sein. Als wir schon beim Essen sitzen, höre ich sie heraufkommen, gehe hinaus und rufe: „Frau Wiesenthal! — Einen Augenblick bitte, ich möchte mit Ihnen etwas besprechen."
Sie tritt zögernd ein und setzt sich.
„Sie haben vorhin, ohne dass Sie es wollten, ein großes Unglück verhütet. Ich wäre vielleicht jetzt schon verhaftet, wenn Sie nicht gewesen wären."
Frau Wiesenthal schaut mich ganz verdutzt an; „Was Sie nicht sagen?" meint sie ungläubig. „Was haben Sie denn getan ?"
„Sie gaben mir ohne Karte ein Brot. Das mit dem ,Kartenvergessen' ist eine Lüge." — Ich erzähle ihr das Drum und Dran mit dem Brot. Sie ist auf diese Überrumpelung gar nicht gefasst, weiß nicht recht, was sie sagen soll, sieht dann, wie Sophie zwischen Verlegenheit und Zorn gegen mich kämpft und sagt: „Ja, Herr Betzoldt, es ist furchtbar! Wir werden so genau nach jeder Karte, nach jedem Pfund Mehl kontrolliert. Man möchte so gern öfter mal aushelfen. Sind auch mit zwei großen Menschen allein? Ja, das ist schlimm, wo viele Kinder sind, gleicht sich das ein bisschen aus." Sie erhebt sich seufzend und fährt dann fort: „Nun lassen Sie sich's eben schmecken. Werden schon sehen."
Sophie begleitet sie hinaus. Als sie wieder hereinkommt, lacht sie. Die Bäckerfrau hat ihr außerdem pro Woche ein halbes Brot ohne Marken versprochen.
Ein Freudentag in dieser endlos großen Zeit.
Aber unser Verpflegungsprogramm ändert sich auch so nur ganz unwesentlich. Pro Mann und Woche einen Brocken klitschiges Brot mehr — was ist das?
Sophie bemüht sich weiter, den Kohlrüben einen andern Geschmack abzugewinnen, probiert allen möglichen „Ersatz", versucht weiter, ohne Fett, ohne Fleisch, ohne Kartoffeln, ohne Gemüse, ohne Hülsenfrüchte etwas auf den Tisch zu bringen. Oft beobachtet sie mich beschämt. Sie weiß, es kann nicht schmecken. Aber der Hunger treibt alles hinein. Und oft sage ich: „Hat ganz gut geschmeckt heute!" Soll ich ihr gar nichts gönnen, sie nicht durch ein freundliches Wort zu belohnen suchen? Sie weiß, dass ich lüge, aber sie merkt den Zweck und schaut mich zweifelnd und doch dankbar an.
„War in Russland doch besser, nicht, Lütting, hattest wenigstens Brot?" Lange mag sie gekämpft haben, um das, was sie lange denken mochte, auszusprechen. Schaut mich traurig an, als wollte sie fortfahren: Brot kannst du essen, was aber kann ich dir sein?
„Sophie, was redest du!"
Und doch: Keine Stunde wahrer Freude unterbricht das Grau. Die Arbeit wird zur Qual, wenn der Mensch dauernd hungert. Die Nerven werden überempfindlich. Der Körper verlangt das andere Geschlecht nicht mehr. Aber das Hirn sucht einen Ausweg. Unerträglich ist diese bleierne Ohnmacht. Die Gedanken fallen ins kalte Nichts, das schmerzt von neuem.
Sophie sitzt hier und kann mir nicht helfen, so wenig wie ich ihr. Brot ist greifbar, essbar. Der volle Magen beruhigt das Gehirn, lässt den Augen den Schlaf. „Draußen" ist Brot, wenn auch neben dem Heldentod. Beides ist besser als das Nichts in mir und um mich.
Soll ich Sophie das sagen, ihr die Wahrheit sagen? Sie, die alles trug, alles tat, mir alles gab und alles war?
Vielleicht genügt der Schlag, um sie in die Verzweiflung zu hetzen. Habe ich dazu ein Recht?
„Nein, Sophl", sage ich, „das Letzte, was ich habe, bist du. Glaube es mir!"
Ihr Kopf sinkt schluchzend auf meine Brust, ihr magerer Körper zittert, ihre Arme suchen sich um meinen Körper. „Lütting", bekennt sie, „wenn ich dich verliere, ist alles aus, ist alles aus!"

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