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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XIV.

Sophie hat keine Ruhe und macht sich auf den Weg nach Altona. Wir sind längst fort, aber sie findet uns, als wir Geschütze, Pferde und Bagage an einer offenen Rampe übernehmen. Ich mache den Wagen „wohnlich". Da kommt Gustav herein und sagt: „Sag Sophie ade, Hans, sie is buten."
Wir gehen hinter einen Güterwagen. Die Kommandos dringen durch das Schneegestöber zu uns herüber. Mir fällt ein, dass mein Tornister noch auf dem offenen Wagen liegt, auf dem die Geschütze stehen, und dass mein Karabiner dort verschneit. Die Geschütz- und Munitionswagenführer vergewissern sich bereits, ob „alles da" ist. Die Geschützbedienung ist in Personenwagen untergebracht, die Fahrer und die Bagagemannschaft sind mit den Pferden zusammen im Viehwagen. — Ich möchte nicht, dass Gustav Unannehmlichkeiten hat.
„Ich muss gehen, Sophl!" Wir stehen uns wortlos gegenüber, keiner streckt dem andern die Hand zum Gruß hin; keiner will den Anfang machen. Sophie sieht zu Boden, als beobachte sie, wie sich die Flocken tänzelnd in den Schnee setzen. Noch einmal packt es mich: soll ich sie fahren lassen mit ihren Kanonen? Noch ist es Zeit!
„Ade, Lütting!" Sie steht schon wieder aufrecht vor mir. Ich halte lose ihre rechte Hand in der meinen. Wir hätten uns noch so viel zu sagen — aber wozu erst beginnen, es ist keine Zeit mehr.
Sie zieht unter dem Regenmantel ein Paket hervor und gibt es mir. „Kannst Gustav davon abgeben." Sie lässt die Hände sinken und dreht sich um, setzt dann langsam — wie im Schlaf — einen Fuß vor den andern.
„Frau Betzoldt!" — Gustav kommt eiligen Schrittes. Sophie dreht sich um, und Gustav reicht ihr hastig beide Hände. „Hebben Sie Dank für alles, Sophie!" Er hebt wie zur Betonung ihre Hände mit den seinen und zieht sie ruckartig wieder nach unten. Als wolle er etwas abschütteln.
„Hebben Sie keen Angst, Sophie, ick werd schon uf em uppassen." Ein schwacher Trost — aber ein ehrlicher Versuch, und Sophie sieht ihn dankbar an, dann an ihm vorbei, auf mich zu und lächelt ein wenig. „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Gustav, bin auch froh, dass Hans bei Ihnen ist, hoffentlich bleibt ihr zusammen."
„Wem dat schon maken. — Aber nu möt wi gohn. Nochmals Dank für alles."
Gustav dreht sich mit einem Ruck um. Einmal muss man ja auseinanderkommen. Sophie bleibt stehen, ihre Hände hängen herab. Der Schnee fällt dicht auf ihren bloßen Kopf. Ihr Lächeln ist verflogen. Ihr Nacken ist gebeugt. Ihre Schultern hängen, als hätte sie keine Kraft mehr, sich umzudrehen und zu gehen.
Ich kann sie nicht so zurücklassen, laufe noch einmal zurück und küsse ihren nassen Mund. Ich weiß nicht, ob es Schneewasser oder Tränen sind, und drehe sie behutsam um. „Musst lieb sein, Sophl!"
Sie ist auch „lieb". Langsam und schwer hebt sie ihre Füße über schneebedeckte Steine und Schienen zur Straße hin, ohne sich umzudrehen. Gustav kommt noch einmal zurück, klopft mir auf die Schulter und sagt: „Komm, Hans, es geht los."
Der Wachtmeister kommt und Gustav meldet: „Lebensmittelwagen: fünf Mann und vier Pferde vollzählig zur Stelle."
Wir frieren trotz der dicken Pferdedecken, in die wir uns einwickeln können. Und es ist dunkel und langweilig. Wir sind einander fremd, kennen uns kaum dem Ansehen nach. Jeder hat noch zu tun, seine „Klamotten" so unterzubringen, dass er auf dem einen Nagel, der für Mantel, Helm, Munition, Gewehr, Schuhe, Tornister und sonstiges Zubehör zur Verfügung steht, genügende Übersicht bekommt.
Eine Frage beschäftigt alle: Wo fahren wir hin? Der Wagen ist fensterlos. — Kein Zugführer meldet irgendeine Station. Wir merken nicht, dass es draußen schon dunkel ist. Bei uns im Wagen brennt Tag und Nacht ein Stearinstummel. Das Vorderpferd neben mir stampft unablässig im Takt der rollenden Räder. Es ist ein „Krippensetzer".
Wir fahren schon dem andern Morgen entgegen, warten auf Kaffee, haben schon einige Stunden Schlaf hinter uns, den sich der müde Körper auch in der ungemütlichen Situation nimmt, als wir Berlin im Rücken haben. Es geht also nicht nach Frankreich! Wilzki, der zweite Kanonier des L-Wagens, ist willens,-seine Schokolade zu opfern und einen Schnaps zu spendieren.
'n lütten Köm", sagt Gustav, „lot ick mi gern gefallen."
Es dauert ein bisschen lange, bis Wilzki seinen „Spind" findet, und als er ihn findet, wünscht er die Hölle und alle Teufel auf den stampfenden Falben.
So schön hat Wilzki alles in seinen Helm gelegt: die Schokolade, die Bonbons, die teuren Datteln, obendrauf das Fläschchen Schnaps; nur zu dicht an den Falben. Der hat sich nicht durch das zusammengezogene Lederfutter beirren lassen, hat alles sauber herausgefressen, ohne es erst auszuwickeln. Als er nichts Passendes mehr fand, hat er die Lederschnur durchgebissen, so dass der Helm herunterpurzelte auf den frischen dampfenden Pferdemist.
„So'n Schinder, verdammigter, Hund verfluchter, Mistkröte.
------Trete bloß noch meinen Helm entzwei, dann schlag ich
dir 's Kreuz in!" Wilzki ist furchtbar zornig, angelt ängstlich nach seinem Helm und schimpft in einem fort.
„Hat he den Schnaps ok utsopen?" fragt Gustav lachend. Wilzki leuchtet mit der Taschenlampe und findet die Schnapspulle unversehrt in der Streu. „Den Schnaps hat er übriggelassen", stellt Wilzki resigniert fest, bückt sich, um die Pulle aufzuheben, und fängt von neuem an zu toben. „Dem Schinder könnte ich das Messer in den Wanst rennen!"
Warum denn dat?", fragt Gustav neugierig, „hat er denn sonst noch wat utfreten?" Wilzki ist zu ärgerlich, um von dem Spott eine besondere Notiz zu nehmen. Er hat dafür seine Gründe. Der Falbe hat auch die Zigaretten probiert. Sie müssen ihm aber nicht besonders geschmeckt haben, denn sie liegen zerbissen zwischen den Pferden verstreut.
„Nu bring man rasch den Köm, eh dat he den ok noch utsup", sagt Gustav; Wilzki tut wie gewünscht. Er hätte aber noch lieber gesehen, der Gaul hätte sich die Splitter seiner Schnapsflasche in den Rachen gefressen und wäre daran erstickt. Er sagt das wie bedauernd, während Gustav die Buddel entkorkt und nach einem kräftigen „Prost" einen tüchtigen Schluck nimmt. Ich trinke als zweiter und lasse einen Rest für Wilzki. Er trinkt ihn zornig aus und wirft die Flasche in die Ecke. Gustav schließt die Episode: „Lot man, Wilzki, dat is dat größte Unglück noch nich."
Es wird Tag, wird wieder Nacht, wird wieder Tag — das heißt, außerhalb unseres Wagens. Wir fahren im Dunkeln durch die Tage und Nächte, essen die Dauerwurst auf, die wir als Verpflegung empfingen und die mit Dauerwurst lediglich die Härte gemein hat — und die „Berliner", die in dem Paket von Sophie sind. Wir haben längst die deutsche Grenze verlassen. Als wir zum ersten Mal haltmachen, sind wir schon in Brest-Litowsk. Dort gehen wir in eine große Kantine und essen Graupen, dick und blau und kleisterig.
Es wimmelt von Truppen aller Gattungen. Die große Truppenverschiebung vom Osten nach dem Westen ist in vollem Gange. Die Temperatur liegt zwanzig Grad unter Null. Unser minderwertiges Unterzeug kapituliert widerstandslos vor der schneidenden Kälte. Wir vertilgen unsere heißen Graupen — ihr Wert liegt in ihrer Temperatur, nicht in ihrem Nährwert — und gehen zurück zu unseren Gäulen. Ein Dauerskat hilft uns bis nach Kosowo, wo wir auf einer freien Rampe Kanonen, Wagen und Pferde ausladen und dann aus alten Konservenbüchsen Dörrgemüse essen.
Es ist noch früh, als die Batterie feldmarschmäßig antritt, Fahrer und Kanoniere aufsitzen und hineinfahren in die weiße weite russische Ebene. Vier Mann scheiden sofort aus, sie können den russischen Winter nicht vertragen. Sie haben Durchfall, hohes Fieber und frieren.
Es ist aber nicht nur unter der Mannschaft schon recht später und wackliger Landsturm, sondern auch unter den Pferden. Sie sind nicht gewöhnt, ohne Deichsel in den Strängen zu gehen, sind mangelhaft zugeritten, viel zu mangelhaft, um durch die verwahrlosten Straßen so zu balancieren, dass einem Abrutschen der Kanonen in den hohen Schnee vorgebeugt wird. Der Schnee selbst blendet viele, sie bleiben stehen und sind durch nichts zu bewegen, weiterzugehen. Öfter als einmal sitzen wir fest, müssen die Kanonen wieder rückwärts aus dem Schnee ziehen. Die Pferde bäumen sich, wenn sie im Schnee versinken. Das neue Lederzeug ist schon minderwertig, es reißt. Die neuen Stränge ziehen sich ungleichmäßig. Unser Hauptmann reitet wütend auf und ab und schimpft: „Zigeuner! Zigeuner, wie sie im Buche stehen. Was soll das bloß werden, wenn wir ins Gefecht kommen. — Dazwischengeschossen müsste werden, Brennzünder müssen die Herrschaften haben."
Da drängt das rechte Vorderpferd des zweiten Geschützes schon wieder so stark links auf; der Vorderreiter schlägt es über die Ohren. Es bäumt sich und springt dem Sattelpferd beinahe über den Kopf. Der Fahrer kann nicht verhindern, dass es wieder den Abhang hinuntergeht, in den tiefen Schnee, in dem die Gäule ängstlich stampfen und bäumen.
„Himmelkreuzdonnerwetter! — Kanoniere nach vorn!"
Spät abends machen wir in einer alten Scheune Quartier. Alles geht durcheinander. In der Scheune ist kaum für die Pferde Platz. Der L-Wagen soll Quartier bei der Infanterie beziehen, die in den wenigen Häusern liegt.
Es ist leidlich warm in dem engen Stall, in dem Pferd an Pferd steht. Gustav hat beim Empfang einige Flaschen Wein „erwischt". Wilzki hat bereits seinen Verlust verschmerzt; auch er sieht, wie rasch Glück und Unglück wechseln.
„Prost Hans! — Prost Werner!" sagt Gustav und schöpft den heißen Wein aus dem Kochgeschirr. „Ah, das ist schön!" Wilzki muss noch ein zweites Geschirr heißmachen. Wilzki glaubt, die ersten Läuse zu verspüren, er sagt, dass ihn — den Kellner! — was „beißt". Wir werden warm in unseren Woilachen.
„Kinder", sagt Gustav, „wir können von Glück sagen, dass wir es so gut getroffen haben. Lasst sein, wie's will, besser als in Frankreich ist es auf jeden Fall. — Hast an Sophie geschrieben, Hans? Grüß sie von mir, hast 'n feine Fru."
Wilzki schnarcht schon.
„Batterie marsch!" Infanterie saust im Trab vorbei, vierspännig, ihre flinken Russenpferde springen über Gräben und Äcker, wenn sie nicht anderen ausweichen oder sie überholen können. Vor den primitiven Lagern gefangener Russen hängen gefrorene Lappen, soll wohl Wäsche sein. Sie selbst arbeiten in der bittersten Kälte, ohne Handschuhe oft, ohne Mantel, in Fetzen von Stiefeln, an den Straßen oder Bahnen, die sie beim Rückzug zerstörten. Sie weichen schleichend aus. Die Bajonette des Landsturms glitzern über ihren Köpfen im Frost.
Truppen begegnen uns wieder und wieder. Sie sind vom Krieg und dem russischen Winter gezeichnet, ihre Gesichter von Bärten bedeckt, blau-rot verwittert, ihre Lumpen vom Vormarsch zerfressen. Wie Windeln flattern ihre Mäntel an ihren mageren Leibern — und doch glänzt ein Funken Freude in ihren Augen: sie sehen bald Menschen, Frauen, die Heimat. Nur kurze Mittagsrast unterbricht unseren Marsch, kaum Zeit, die heißen Erbsenkonserven aus den heißen Tellern hinunterzuwürgen. Am Abend liegen wir wieder in einer verlassenen Scheune, durch deren große Löcher der Wind den Schnee jagt. Wir sind die ganze Nacht auf den Füßen, müssen sie dauernd bewegen, damit sie nicht erfrieren, bleiben ohne eine Stunde Schlaf.
Es gibt kein Wasser zum Waschen. Die Feldküche kocht morgens Kaffee mit geschmolzenem Schnee. Wer sich waschen will, muss sich mit Schnee waschen. Die wenigen Räume in den Häusern reichen gerade für die Offiziere.
Die andere Nacht ist es schon „besser". Wir werden in Infanteriequartiere verteilt. Die alten Knaben sind natürlich von dem Besuch nicht sehr erbaut. Aber wir sind müde und kriechen schläfrig und rücksichtslos auf die Pritschen. Es ist warm und stickig und eng auf dem verlausten Stroh. Man muss schon todmüde und völlig ausgefroren sein, um in dieser Luft zu schlafen. Aber der Krieg „härtet" ab. Ob jemand onaniert, phantasiert, sich kratzt, als wolle er die Haut von den Knochen reißen, schnarcht, flucht oder weint: wer fragt danach?
In der Ecke steht ein verspäteter Weihnachtsbaum.
Die nächste Nacht bekommt die Bagage für die Pferde einen Stall, und einen kleineren — groß genug für eine Kuh — für uns. Wir entfernen erst den Mist—er liegt einen Meter hoch—, verstopfen die großen Löcher mit dem Stroh der alten Scheune nebenan und legen den gefrorenen Fußboden damit aus. Das ist unser Standquartier. Wir sind fünfzehn Kilometer vom Orgiensky-Kanal, an dem die Front entlang läuft. Der Frost hat sich gebrochen; es taut, das Schneewasser läuft an den Balken herunter.
Wilzki kann nicht liegen, es beißt ihn so. Er geht hinaus, zieht sein Hemd aus, breitet es auf der weißen Schneedecke aus und erschrickt: „Was ist denn das?" fragt er ganz verdattert.
„Dat sin Lüs", sagt Gustav.
„Is doch nicht die Möglichkeit", protestiert Wilzki, „die sind ja bald so groß wie die Maikäfer." Es war aber nicht so schlimm. Wilzki war nur bis dahin der Meinung, dass man Läuse mit dem bloßen Auge kaum sehen kann. Nun hat er einige aufgesammelt, die er sehr deutlich sieht, überdeutlich groß. Es scheint ihm unmöglich, ein solches Hemd wieder anzuziehen. Er hat aber schon so oft gewechselt, dass alle seine Hemden verlaust sind. Wir liegen schon eingewickelt auf dem Stroh, als Wilzki ganz verstört mit seinem Hemd wieder hereintritt.
„Der Krieg", stellt er fest, „ist eine ekelhafte Sauerei!"

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