XIV.
  Sophie hat keine Ruhe und macht sich auf den Weg nach Altona. Wir  sind längst fort, aber sie findet uns, als wir Geschütze, Pferde und  Bagage an einer offenen Rampe übernehmen. Ich mache den Wagen  „wohnlich". Da kommt Gustav herein und sagt: „Sag Sophie ade, Hans, sie  is buten." 
    Wir gehen hinter einen Güterwagen. Die Kommandos dringen  durch das Schneegestöber zu uns herüber. Mir fällt ein, dass mein  Tornister noch auf dem offenen Wagen liegt, auf dem die Geschütze  stehen, und dass mein Karabiner dort verschneit. Die Geschütz- und  Munitionswagenführer vergewissern sich bereits, ob „alles da" ist. Die  Geschützbedienung ist in Personenwagen untergebracht, die Fahrer und  die Bagagemannschaft sind mit den Pferden zusammen im Viehwagen. — Ich  möchte nicht, dass Gustav Unannehmlichkeiten hat. 
    „Ich muss gehen, Sophl!" Wir stehen uns wortlos gegenüber, keiner  streckt dem andern die Hand zum Gruß hin; keiner will den Anfang  machen. Sophie sieht zu Boden, als beobachte sie, wie sich die Flocken  tänzelnd in den Schnee setzen. Noch einmal packt es mich: soll ich sie  fahren lassen mit ihren Kanonen? Noch ist es Zeit! 
    „Ade, Lütting!" Sie steht schon wieder aufrecht vor mir. Ich halte lose  ihre rechte Hand in der meinen. Wir hätten uns noch so viel zu sagen —  aber wozu erst beginnen, es ist keine Zeit mehr. 
    Sie zieht unter dem Regenmantel ein Paket hervor und gibt es mir.  „Kannst Gustav davon abgeben." Sie lässt die Hände sinken und dreht  sich um, setzt dann langsam — wie im Schlaf — einen Fuß vor den andern. 
    „Frau Betzoldt!" — Gustav kommt eiligen Schrittes. Sophie dreht sich  um, und Gustav reicht ihr hastig beide Hände. „Hebben Sie Dank für  alles, Sophie!" Er hebt wie zur Betonung ihre Hände mit den seinen und  zieht sie ruckartig wieder nach unten. Als wolle er etwas abschütteln. 
    „Hebben Sie keen Angst, Sophie, ick werd schon uf em uppassen." Ein  schwacher Trost — aber ein ehrlicher Versuch, und Sophie sieht ihn  dankbar an, dann an ihm vorbei, auf mich zu und lächelt ein wenig. „Ich  wünsche Ihnen alles Gute, Gustav, bin auch froh, dass Hans bei Ihnen  ist, hoffentlich bleibt ihr zusammen." 
    „Wem dat schon maken. — Aber nu möt wi gohn. Nochmals Dank für alles." 
    Gustav dreht sich mit einem Ruck um. Einmal muss man ja  auseinanderkommen. Sophie bleibt stehen, ihre Hände hängen herab. Der  Schnee fällt dicht auf ihren bloßen Kopf. Ihr Lächeln ist verflogen.  Ihr Nacken ist gebeugt. Ihre Schultern hängen, als hätte sie keine  Kraft mehr, sich umzudrehen und zu gehen. 
    Ich kann sie nicht so zurücklassen, laufe noch einmal zurück und küsse  ihren nassen Mund. Ich weiß nicht, ob es Schneewasser oder Tränen sind,  und drehe sie behutsam um. „Musst lieb sein, Sophl!" 
    Sie ist auch „lieb". Langsam und schwer hebt sie ihre Füße über  schneebedeckte Steine und Schienen zur Straße hin, ohne sich  umzudrehen. Gustav kommt noch einmal zurück, klopft mir auf die  Schulter und sagt: „Komm, Hans, es geht los." 
    Der Wachtmeister kommt und Gustav meldet: „Lebensmittelwagen: fünf Mann und  vier Pferde vollzählig zur Stelle." 
    Wir frieren trotz der dicken Pferdedecken, in die wir uns einwickeln  können. Und es ist dunkel und langweilig. Wir sind einander fremd,  kennen uns kaum dem Ansehen nach. Jeder hat noch zu tun, seine  „Klamotten" so unterzubringen, dass er auf dem einen Nagel, der für  Mantel, Helm, Munition, Gewehr, Schuhe, Tornister und sonstiges Zubehör  zur Verfügung steht, genügende Übersicht bekommt. 
    Eine Frage beschäftigt alle: Wo fahren wir hin? Der Wagen ist  fensterlos. — Kein Zugführer meldet irgendeine Station. Wir merken  nicht, dass es draußen schon dunkel ist. Bei uns im Wagen brennt Tag  und Nacht ein Stearinstummel. Das Vorderpferd neben mir stampft  unablässig im Takt der rollenden Räder. Es ist ein „Krippensetzer". 
    Wir fahren schon dem andern Morgen entgegen, warten auf Kaffee, haben  schon einige Stunden Schlaf hinter uns, den sich der müde Körper auch  in der ungemütlichen Situation nimmt, als wir Berlin im Rücken haben.  Es geht also nicht nach Frankreich! Wilzki, der zweite Kanonier des  L-Wagens, ist willens,-seine Schokolade zu opfern und einen Schnaps zu  spendieren. 
    'n lütten Köm", sagt Gustav, „lot ick mi gern gefallen." 
    Es dauert ein bisschen lange, bis Wilzki seinen „Spind" findet, und als  er ihn findet, wünscht er die Hölle und alle Teufel auf den stampfenden  Falben. 
    So schön hat Wilzki alles in seinen Helm gelegt: die Schokolade, die  Bonbons, die teuren Datteln, obendrauf das Fläschchen Schnaps; nur zu  dicht an den Falben. Der hat sich nicht durch das zusammengezogene  Lederfutter beirren lassen, hat alles sauber herausgefressen, ohne es  erst auszuwickeln. Als er nichts Passendes mehr fand, hat er die  Lederschnur durchgebissen, so dass der Helm herunterpurzelte auf den  frischen dampfenden Pferdemist. 
    „So'n Schinder, verdammigter, Hund verfluchter, Mistkröte. 
    ------Trete bloß noch meinen Helm entzwei, dann schlag ich 
    dir 's Kreuz in!" Wilzki ist furchtbar zornig, angelt ängstlich nach  seinem Helm und schimpft in einem fort. 
    „Hat he den Schnaps ok utsopen?" fragt Gustav lachend. Wilzki leuchtet  mit der Taschenlampe und findet die Schnapspulle unversehrt in der  Streu. „Den Schnaps hat er übriggelassen", stellt Wilzki resigniert  fest, bückt sich, um die Pulle aufzuheben, und fängt von neuem an zu  toben. „Dem Schinder könnte ich das Messer in den Wanst rennen!" 
    Warum denn dat?", fragt Gustav neugierig, „hat er denn sonst noch wat  utfreten?" Wilzki ist zu ärgerlich, um von dem Spott eine besondere  Notiz zu nehmen. Er hat dafür seine Gründe. Der Falbe hat auch die  Zigaretten probiert. Sie müssen ihm aber nicht besonders geschmeckt  haben, denn sie liegen zerbissen zwischen den Pferden verstreut. 
    „Nu bring man rasch den Köm, eh dat he den ok noch utsup", sagt Gustav;  Wilzki tut wie gewünscht. Er hätte aber noch lieber gesehen, der Gaul  hätte sich die Splitter seiner Schnapsflasche in den Rachen gefressen  und wäre daran erstickt. Er sagt das wie bedauernd, während Gustav die  Buddel entkorkt und nach einem kräftigen „Prost" einen tüchtigen  Schluck nimmt. Ich trinke als zweiter und lasse einen Rest für Wilzki.  Er trinkt ihn zornig aus und wirft die Flasche in die Ecke. Gustav  schließt die Episode: „Lot man, Wilzki, dat is dat größte Unglück noch  nich." 
    Es wird Tag, wird wieder Nacht, wird wieder Tag — das heißt, außerhalb  unseres Wagens. Wir fahren im Dunkeln durch die Tage und Nächte, essen  die Dauerwurst auf, die wir als Verpflegung empfingen und die mit  Dauerwurst lediglich die Härte gemein hat — und die „Berliner", die in  dem Paket von Sophie sind. Wir haben längst die deutsche Grenze  verlassen. Als wir zum ersten Mal haltmachen, sind wir schon in  Brest-Litowsk. Dort gehen wir in eine große Kantine und essen Graupen,  dick und blau und kleisterig. 
    Es wimmelt von Truppen aller Gattungen. Die große Truppenverschiebung  vom Osten nach dem Westen ist in vollem Gange. Die Temperatur liegt  zwanzig Grad unter Null. Unser minderwertiges Unterzeug kapituliert  widerstandslos vor der schneidenden Kälte. Wir vertilgen unsere heißen  Graupen — ihr Wert liegt in ihrer Temperatur, nicht in ihrem Nährwert —  und gehen zurück zu unseren Gäulen. Ein Dauerskat hilft uns bis nach  Kosowo, wo wir auf einer freien Rampe Kanonen, Wagen und Pferde  ausladen und dann aus alten Konservenbüchsen Dörrgemüse essen. 
    Es ist noch früh, als die Batterie feldmarschmäßig antritt, Fahrer und  Kanoniere aufsitzen und hineinfahren in die weiße weite russische  Ebene. Vier Mann scheiden sofort aus, sie können den russischen Winter  nicht vertragen. Sie haben Durchfall, hohes Fieber und frieren. 
    Es ist aber nicht nur unter der Mannschaft schon recht später und  wackliger Landsturm, sondern auch unter den Pferden. Sie sind nicht  gewöhnt, ohne Deichsel in den Strängen zu gehen, sind mangelhaft  zugeritten, viel zu mangelhaft, um durch die verwahrlosten Straßen so  zu balancieren, dass einem Abrutschen der Kanonen in den hohen Schnee  vorgebeugt wird. Der Schnee selbst blendet viele, sie bleiben stehen  und sind durch nichts zu bewegen, weiterzugehen. Öfter als einmal  sitzen wir fest, müssen die Kanonen wieder rückwärts aus dem Schnee  ziehen. Die Pferde bäumen sich, wenn sie im Schnee versinken. Das neue  Lederzeug ist schon minderwertig, es reißt. Die neuen Stränge ziehen  sich ungleichmäßig. Unser Hauptmann reitet wütend auf und ab und  schimpft: „Zigeuner! Zigeuner, wie sie im Buche stehen. Was soll das  bloß werden, wenn wir ins Gefecht kommen. — Dazwischengeschossen müsste  werden, Brennzünder müssen die Herrschaften haben." 
    Da drängt das rechte Vorderpferd des zweiten Geschützes schon wieder so  stark links auf; der Vorderreiter schlägt es über die Ohren. Es bäumt  sich und springt dem Sattelpferd beinahe über den Kopf. Der Fahrer kann  nicht verhindern, dass es wieder den Abhang hinuntergeht, in den tiefen  Schnee, in dem die Gäule ängstlich stampfen und bäumen. 
    „Himmelkreuzdonnerwetter! — Kanoniere nach vorn!" 
    Spät abends machen wir in einer alten Scheune Quartier. Alles geht  durcheinander. In der Scheune ist kaum für die Pferde Platz. Der  L-Wagen soll Quartier bei der Infanterie beziehen, die in den wenigen  Häusern liegt. 
    Es ist leidlich warm in dem engen Stall, in dem Pferd an Pferd steht.  Gustav hat beim Empfang einige Flaschen Wein „erwischt". Wilzki hat  bereits seinen Verlust verschmerzt; auch er sieht, wie rasch Glück und  Unglück wechseln. 
    „Prost Hans! — Prost Werner!" sagt Gustav und schöpft den heißen Wein  aus dem Kochgeschirr. „Ah, das ist schön!" Wilzki muss noch ein zweites  Geschirr heißmachen. Wilzki glaubt, die ersten Läuse zu verspüren, er  sagt, dass ihn — den Kellner! — was „beißt". Wir werden warm in unseren  Woilachen. 
    „Kinder", sagt Gustav, „wir können von Glück sagen, dass wir es so gut  getroffen haben. Lasst sein, wie's will, besser als in Frankreich ist  es auf jeden Fall. — Hast an Sophie geschrieben, Hans? Grüß sie von  mir, hast 'n feine Fru." 
    Wilzki schnarcht schon. 
    „Batterie marsch!" Infanterie saust im Trab vorbei, vierspännig, ihre  flinken Russenpferde springen über Gräben und Äcker, wenn sie nicht  anderen ausweichen oder sie überholen können. Vor den primitiven Lagern  gefangener Russen hängen gefrorene Lappen, soll wohl Wäsche sein. Sie  selbst arbeiten in der bittersten Kälte, ohne Handschuhe oft, ohne  Mantel, in Fetzen von Stiefeln, an den Straßen oder Bahnen, die sie  beim Rückzug zerstörten. Sie weichen schleichend aus. Die Bajonette des  Landsturms glitzern über ihren Köpfen im Frost. 
    Truppen begegnen uns wieder und wieder. Sie sind vom Krieg und dem  russischen Winter gezeichnet, ihre Gesichter von Bärten bedeckt,  blau-rot verwittert, ihre Lumpen vom Vormarsch zerfressen. Wie Windeln  flattern ihre Mäntel an ihren mageren Leibern — und doch glänzt ein  Funken Freude in ihren Augen: sie sehen bald Menschen, Frauen, die  Heimat. Nur kurze Mittagsrast unterbricht unseren Marsch, kaum Zeit,  die heißen Erbsenkonserven aus den heißen Tellern hinunterzuwürgen. Am  Abend liegen wir wieder in einer verlassenen Scheune, durch deren große  Löcher der Wind den Schnee jagt. Wir sind die ganze Nacht auf den  Füßen, müssen sie dauernd bewegen, damit sie nicht erfrieren, bleiben  ohne eine Stunde Schlaf. 
    Es gibt kein Wasser zum Waschen. Die Feldküche kocht morgens Kaffee mit  geschmolzenem Schnee. Wer sich waschen will, muss sich mit Schnee  waschen. Die wenigen Räume in den Häusern reichen gerade für die  Offiziere. 
    Die andere Nacht ist es schon „besser". Wir werden in  Infanteriequartiere verteilt. Die alten Knaben sind natürlich von dem  Besuch nicht sehr erbaut. Aber wir sind müde und kriechen schläfrig und  rücksichtslos auf die Pritschen. Es ist warm und stickig und eng auf  dem verlausten Stroh. Man muss schon todmüde und völlig ausgefroren  sein, um in dieser Luft zu schlafen. Aber der Krieg „härtet" ab. Ob  jemand onaniert, phantasiert, sich kratzt, als wolle er die Haut von  den Knochen reißen, schnarcht, flucht oder weint: wer fragt danach? 
    In der Ecke steht ein verspäteter Weihnachtsbaum. 
    Die nächste Nacht bekommt die Bagage für die Pferde einen Stall, und  einen kleineren — groß genug für eine Kuh — für uns. Wir entfernen erst  den Mist—er liegt einen Meter hoch—, verstopfen die großen Löcher mit  dem Stroh der alten Scheune nebenan und legen den gefrorenen Fußboden  damit aus. Das ist unser Standquartier. Wir sind fünfzehn Kilometer vom  Orgiensky-Kanal, an dem die Front entlang läuft. Der Frost hat sich  gebrochen; es taut, das Schneewasser läuft an den Balken herunter. 
    Wilzki kann nicht liegen, es beißt ihn so. Er geht hinaus, zieht sein  Hemd aus, breitet es auf der weißen Schneedecke aus und erschrickt:  „Was ist denn das?" fragt er ganz verdattert. 
    „Dat sin Lüs", sagt Gustav. 
    „Is doch nicht die Möglichkeit", protestiert Wilzki, „die sind ja bald  so groß wie die Maikäfer." Es war aber nicht so schlimm. Wilzki war nur  bis dahin der Meinung, dass man Läuse mit dem bloßen Auge kaum sehen  kann. Nun hat er einige aufgesammelt, die er sehr deutlich sieht,  überdeutlich groß. Es scheint ihm unmöglich, ein solches Hemd wieder  anzuziehen. Er hat aber schon so oft gewechselt, dass alle seine Hemden  verlaust sind. Wir liegen schon eingewickelt auf dem Stroh, als Wilzki  ganz verstört mit seinem Hemd wieder hereintritt. 
    „Der Krieg", stellt er fest, „ist eine ekelhafte Sauerei!"  | 
  
    
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