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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XVI.

Die Erde ist metertief gefroren. Die hier vor uns liegende Batterie hat nur primitive Löcher graben können, in denen Mann an Mann in der Nacht liegen. Ist die Tiefe erreicht, in der der Boden nicht mehr gefroren ist, quillt das Grundwasser hervor, das hier in frostfreier Zeit in jedem Spatenstich auf der Erdoberfläche zusammenläuft. Wir liegen in unserem „Unterstand" auf jungen, aneinandergenagelten Baumstämmen, die bis zur Hälfte im Grundwasser liegen. Die Lumpen bleiben auf dem Körper. Feuer darf nicht angemacht werden; die Russen sollen nicht aufmerksam werden.
Die gesamte Batterie baut an dem Offiziersunterstand. Die Herren Offiziere lösen sich alle vierundzwanzig Stunden ab, um sich dann unten in der Protzenstellung in warmen Quartieren zu erholen. Hier müssen sie sich mit einer geheizten kleinen Bude begnügen, zwei Kilometer nach hinten, von wo sie telefonisch ihre Befehle durchgeben.
Innerhalb von acht Tagen scheiden weitere zehn Mann aus. Lungenentzündung, erfrorene Füße, Durchfall, Reißen sind stärker als Befehle. Es geht nicht anders, man muss auch mit Unterständen für die Mannschaften beginnen. Auch die Fahrer, die in den Ställen schlafen können, die Bagage, die etwas bessere Quartiere hat, haben Abgang. Das Menschenmaterial der Batterie ist schon Deutschlands letzte Hoffnung. Was irgend geht, wird nach dem Westen geschoben.
Die Russen konzentrieren ihre Durchbruchsversuche nur links von uns bei Baranowitschi. Von dort ist schwerer Kanonendonner zu hören. Unsere Kanonen stehen wie verlassen im Schnee. Die Batterie schießt gelegentlich irgendwohin, wie Übungsschießen, öfters auch von einer andern Stellung und kehrt wieder zurück.
Die hohen Fichten und Föhren des unendlichen Waldes stehen wie riesige Zuckerhüte. Die mondklaren Nächte sind lang, unerträglich in ihrer monotonen Kälte und in ihrer Ruhe. Man ist versucht, steht man als Posten in einer solchen Nacht, die Frage zu stellen, ob dieses stumpfsinnig-verbrecherische Beginnen, tief im Innern Russlands „das deutsche Vaterland zu verteidigen", noch überboten werden könne.
Und doch ist schließlich jeder froh, dass der mit Pferdemist gemauerte Ofen endlich angesteckt werden kann, ein Riesenfeuer die starren Finger und Füße erwärmt und den Aufenthalt des Nachts erträglich macht.
Die Befehlsgewalt der Unteroffiziere zeigt sich in ihrer ganzen Lächerlichkeit: die Elite des deutschen Heeres, die Einjährig-Kriegsfreiwilligen, laufen herum wie kranke Hasen.
Die Proletarier haben auch vor dieser Zeit oft kein Dach über dem Kopf gehabt, waren heimatlos in ihrer Heimat, aßen in Zeiten der Arbeitslosigkeit schäbige Reste. Sie sind auch hier den Strapazen besser gewachsen. Die Herrensöhnchen, die zum ersten Mal ohne Wärmflasche schlafen, zum ersten Mal nach diesem groben Sport die temperierte Stube, das warme Bett,
die Bedienung vermissen, verkörpern die trostlose Ängstlichkeit verlaufener Küken, die sich mit einem komischen Ernst paart. Sie wollen alle Helden sein und haben nicht den Mut, gegen die brutale Verhöhnung durch die Offiziere zu protestieren. Sie haben Angst, sich irgendwie mit den gewöhnlichen Muschkoten zu solidarisieren. Der Idealismus der bourgeoisen Jugend schrumpft hier zusammen zu einem kläglichen Häuflein Feigheit, Lächerlichkeit und Hilflosigkeit.
Gustav kommt alle zwei Tage mit dem Lebensmittelwagen oder -schütten. Er kümmert sich nicht darum, in „Verdacht" zu kommen, in schlechter Gesellschaft zu sein, kommt freudig auf mich zu und reicht mir die Hand. Ich weiß, dass er Werner besuchte, und frage ihn.
„He is noch schlechter fohrt as Armbrecht!"
„Wie meinst du das?"
„Se häwt em beide Feut absägt."
Wir schleppen Brot und sonstigen „Empfang" in den Unterstand. Gustav kommt noch einen Moment nach, wärmt sich die Hände und geht wieder.
„Tschüs, Gustav —"
„Tschüs, Hans — hol di munter!"
„War wi schon moken." Der Falbe, der Wilzkis Schokolade fraß, tänzelt spielerisch in den Trab hinein, Gustav dreht sich noch einmal um und winkt mit der Peitsche.
Ich lese meine Post. Sie kommt, wie ein Wunder, bis an die Rokitno-Sümpfe. Ein längerer Brief von Sophie ist dabei.
Sie arbeitete bei Blohm & Voß. Sie klagt nicht, will mich nicht beunruhigen, aber die bloße Aufzählung der Tatsachen sagt genug.
Man zwingt die Frauen, Hosen anzuziehen. „Ich bin groß" — schreibt sie — „und in den Hosen treten die Formen des Körpers schärfer hervor. Ich hätte nicht geglaubt, dass viele deutsche Arbeiter keine anderen Sorgen haben, als lüstern nach den Frauen zu schielen, ihre einzige Unterhaltung sind banale Anspielungen, und sie sehen hauptsächlich in den ,Kriegerwitwen' die Objekte, auf die man ungestraft Jagd machen darf. Ich wollte eigentlich sofort wieder gehen, aber ich arbeitete mit einem Menschen zusammen, der mir sehr viel war; er schonte mich, wo er konnte, griff das Vorhalteisen immer selbst mit einer Hand, wenn er nietete, gab mir von allem, was er von seiner Frau geschickt bekam, verdeutschte mir die Briefe, die sie ihm schrieb, schenkte mir beiliegendes Bild."
Ich besehe mir das Bild: ein noch junger Mann und seine Frau mit einem kleinen Jungen. Adresse und Text sind in französischer Sprache.
Dieser gefangene französische Arbeiter ist der einzige Mensch in diesem Betrieb, der Sophie „was sein konnte".
Bis der Betriebsleiter, der darüber wacht, dass die Ehre der deutschen Frauen nicht angetastet wird, mit der Schmach ein Ende machte, dass deutsche Frauen mit gefangenen Feinden zusammen arbeiten — und anscheinend vergessen, dass ihre vaterländische Pflicht ist, diesen ohne Schwäche ihre Verachtung zu zeigen. Dass deutsche Frauen den gefangenen Franzosen, die nie die Werft verlassen dürfen, zu ihrem eintönigen Fraß für ihr Geld einige Abwechslung mit hereinbringen, einmal eine französische Tafel Schokolade, ein Stück Weißbrot untereinander teilen, ist ein unhaltbarer Zustand.
„,Die deutschen Frauen dürfen nicht mehr mit den Gefangenen zusammen arbeiten' — bestimmte der Betriebsleiter. Aber dann hielt mich nichts mehr auf dieser Werft, auf der die Frauen unerhört ausgebeutet werden", schreibt Sophie zum Schluss. „Ich werde nun auch schon immer stärker, bin ja schon im vierten Monat, muss mir leichtere Arbeit suchen."
Ich lese den Brief beim Schein des Feuers unseres Ofens, der nach vorn offen ist, um die Riesenscheite hineinschieben zu können. Der Koch hat die Marmelade vor und verlangt Gefäße, um jedem seinen Löffel voll hineinzuklecksen. Einige öffnen Pakete und haben zu ihrem Brot Leckerbissen. Einige, die nichts erwarten, sind schon dabei, sich die Läuse abzusuchen, die letzte Arbeit nach Feierabend. Ich gehe hinaus in die schneidend kalte Nacht; kein Laut in irgendeinem Baum, kein Hund bellt irgendwo, kein Wind bewegt einen Zweig.
Nur der gefrorene Schnee glitzert heimtückisch im kalten Licht der Sterne.
Der Offiziersunterstand ist fertig, hat dicke Wände, gute Öfen, eine geräumige Küche mit gutem Herd. Nur einige Handwerker besorgen die letzte Ausschmückung. Wie eine Jägervilla steht er zwischen den weißen Birken.
Die Mannschaften können darangehen, sich für jede Geschützbedienung Blockhäuser zu bauen. Eine gesteigerte Arbeitsfreude beherrscht die Batterie.
Und doch geht es langsam. Telefonleitungen nach dem Graben müssen in die steinhart gefrorene Erde gegraben, Geschützunterstände gebaut, ein bombensicherer Telefonunterstand, Munitionsunterstände angelegt werden. Es geht langsam mit den Unterständen der Mannschaften.
Der Hauptmann ist ein eifriger Jäger und lässt die ganze Batterie sonntags regelmäßig zur Treibjagd nach Wildschweinen antreten. Wir kommen am Abend hungrig und hundemüde zurück und treten am andern Morgen zum Arbeitsdienst an. Nur einmal haben wir auch jeder eine Scheibe von hundert Gramm Wildschweinfleisch erhalten. Das liegt daran, dass die Herren von der Abteilung, die Offiziere der schweren Batterie hinter uns, die der Infanterie usw. recht guten Appetit haben und unser Hauptmann ein ausgezeichneter Gesellschafter ist. Die Feste, die er mit ihnen feiert, vereinigen ganz andere Menschen, als wir Miesmacher es sind. Die dort warm sitzen, Wein trinken, gut essen, warme Pelze tragen, auf rassigen Pferden durch den verschneiten Wald traben, sind froh — was fehlt ihnen denn?!
Die Kanoniere bauen keine Unterstände für sich, weil eine kameradschaftliche Obrigkeit mit ihnen fühlt. Sie bauen daran, weil das Kanonenfutter knapp wird, weil der Abgang an Krankheiten zu groß ist. Sie bauen und bauen, weil die hohen Herren wissen, dass ein müdes Hirn nicht mehr denken kann. „Leute bewegen!" ist die Parole.
Bis zu einem Meter sind die Bäume im Durchmesser, die wir fällen, Tag um Tag. Drei Meter sind die Wände der Unterstände über der Erde, in denen die Munition liegt. — Und doch kann eine einzige Granate einen solchen Koloss zusammenlegen wie ein Kartenhaus, denn die Wände sind nur mit fünf Millimeter dickem Draht zusammengehalten. Riesige Mengen Holz wälzen wir aus dem Wald, bei Kälte und Regen, Wind und Schnee — bis unsere Arbeit für völlig nutzlos erklärt wird. Beton und Schotter, Zement und Sand rollen heran, die Arbeit beginnt von neuem.
Das Essen ist unerträglich schlecht und knapp.
Der Frühling zieht ins Land, das Feuer an der Front lebt auf, links verstärkt sich der Kanonendonner. Unser Hauptmann ist viel auf Beobachtung. Am ersten Geschütz wird experimentiert. Unserem Hauptmann hat es das Blockhaus der Russen, in dem ihre Vorposten sitzen, angetan. Einen feinen Plan hat er ausgeknobelt.
Vier Mann brechen mit Telefongeräten überraschend aus dem Graben der Infanterie. Fünfzig Meter vor dem Graben muss man die Einschläge beobachten können. Ehe die russischen Posten richtig zur Besinnung kommen, muss die erste Salve schon sitzen. Dann wird das Blockhaus zusammengetrommelt und die Russen aus dem Graben getrieben. Die Infanterie stößt vor. Man muss mal sehen, was die da drüben machen.
Ich bin bereits Telefonist geworden, stehe mit im Graben bereit. Unser Unteroffizier soll die Patrouille führen und Feuer anfordern. Ich sehe über das freie Gelände bis nach dem Wald; es sind über hundert Meter. Dort im Walde stehen die Russen und haben auf unsere Köpfe ein ausgezeichnetes Ziel.
„Das ist heller Wahnsinn!" Ich sage das, als wir schon auf dem Sprung stehen. Unteroffizier Braun sieht mich ungläubig an und sagt: „Mach keine Faxen jetzt, Betzoldt!"
„Ich mach auch keine — ich gehe nicht mit!"
„Los!"
Mit drei Mann stürzen sie vor, zwanzig Meter kommen sie, da zwingt sie Gewehrfeuer von drüben zum Hinwerfen, aber sie sind gutes Ziel. Die beiden Einjährigen schreien wie die Kinder. Einer rutscht langsam rückwärts, er hat einen Schuss in der Schulter. Den andern holen sie nachts herein. Er hat durchlöcherte Beine und Arme, aber er lebt.
Unteroffizier Braun ist tot! Kopfschuss!
„Zum Donnerwetter! Wo ist Unteroffizier Braun?" brüllt der Hauptmann durchs Telefon, als das Kommando zum Feuern ausbleibt.
„Erkundungspatrouille liegt im feindlichen Gewehrfeuer."
„Scheißkerle", brüllt er und hängt an.
Die Infanteristen fluchen: „Des ham wer eich ja gesagt, aber ihr habt ja ke Ruh, denkt ihr denn, die schießen mit Bratkartoffeln ? — Und wir ham die Scheiße nu auszubaden."
Die Offiziere der Infanterie gönnen dem Hauptmann die Blamage von ganzem Herzen, und der Hauptmann ist überzeugt, dass es nur an den „Scheißkerlen" gelegen hat. Eine Bestätigung ist dem Hauptmann mein Verhalten. Ein Vizewachtmeister der Infanterie berichtet ihm von meiner „Feigheit" vor dem Feinde.
„Sie denken wohl, Sie sind hier bei einem Ausflug mit einer Herrenpartie!" brüllt der beleidigte Häuptling los. „Sie haben den Mund zu halten und die Befehle auszuführen — sonst holt Sie der Teufel, verstehen Sie!"
Mir bleibt das „Zu Befehl, Herr Hauptmann!" in der Kehle stecken.
Ein kalt-heißer Schauer rieselt mir über den Körper. Ich fühle, wie der Mensch in mir die Oberhand gewinnt. Meine Finger krümmen sich langsam und suchend um den Gewehrlauf. — Was kann schon sein!
„Ob Sie verstehen, frage ich Sie!"
Ich bleibe stumm, bin schon damit beschäftigt, zu überlegen, wo der Kerl nach der Bekanntschaft mit meinem Gewehrkolben liegt. Ein eigenartiger Kontrast zwischen dem Verlangen des Hauptmanns und meinem Vorhaben wird deutlich. Eine sonderbare Ruhe kommt über mich.
Ob auch dem Herrn Hauptmann die Situation etwas unheimlich wird? Er öffnet noch einmal den Mund, aber nicht zu einem dritten „Verstehen Sie!" Er ruft seinen Burschen.
Dann setzt er sich, wie erschrocken darüber, dass sein „Verstehen Sie!" trotz der lauten Wiederholung ohne Wirkung blieb, und sagt auffallend ruhig: „Sie melden sich sofort bei dem wachhabenden Unteroffizier."
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!"
Der Unteroffizier ist schon telefonisch unterrichtet.
„Sie halten sich bereit, heute abend mit dem Lebensmittelwagen zur Schreibstube zu fahren. Zur Befehlsausgabe treten Sie feldmarschmäßig mit an."
Neben den üblichen Befehlen, Verwarnungen, Verfügungen, einigen Randbemerkungen über Mannszucht und Soldatenpflicht wird dann bekannt gegeben: „Kanonier Betzoldt erhält wegen Nichtausführung eines gegebenen Befehls acht Tage Arrest."
Sie schauen alle ein wenig neugierig her zu mir. Ein bisschen kennen sie mich schon; ganz gleichgültig bin ich den meisten nicht. Es gelingt nicht mehr, die „Verbrecher" mit der Verachtung der andern zu „strafen". Sie wissen schon oder ahnen es, dass sie eigentlich schon insgesamt „Verbrecher" sind. Es spricht wohl keiner, es lacht auch keiner, aber der Herr Wachtmeister Knauer fühlt, dass seine ganze schöne Rede für die Katz ist.
„Stillgestanden! — Wegtreten!"
Dass man beim Militär auf so einfache Art jede Diskussion schließen kann, auch wenn sie noch stumm von Hirn zu Hirn schleicht, das ist doch eine wunderbare Sache!
Ich möchte Vizewachtmeister Roggenbrot, der den „Verbrecher" zu bewachen hat, keine Unannehmlichkeiten machen und melde: „Bitte austreten zu dürfen!"
Er ist etwas verlegen. Es hat sich noch keine feste Regel herausgebildet, wie man Verbrecher von der Zeit des Urteils bis zum Antritt der Strafe behandeln muss. Ich bin ein wenig bösartig erheitert; zwischen zwei aufgepflanzten Seitengewehren auszutreten, erscheint mir eine nicht zu verachtende Abwechslung.
Roggenbrot ist von seiner Mission peinlich berührt und bezüglich der Bewältigung des Falles Betzoldt ebenfalls im unklaren.
Ich bin unerbittlich und warte.
„Gehen Sie, Betzoldt, seien Sie vernünftig, mir zuliebe!" Er sieht sich erst um, ehe er das sagt. Zwischen den Betten in dem neuen Unterstand, den wir erst bezogen, sieht niemand sein unmilitärisches Gesicht. Er ist noch jung, studierte Theologie. Man wird nicht „klug" aus ihm. — Aber dass er sich weigerte, anlässlich Armbrechts Tod die vorgeschriebene Rede zu halten, hat man ihm schwarz angekreidet. Deswegen hatte er es wohl auch noch nicht zum Leutnant gebracht.
Ich möchte ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten, mache vorschriftsmäßig „kehrt" und gehe.
Als ich hinter mir Schritte höre und mich umdrehe, kommt Vizewachtmeister Roggenbrot hinter mir her. Ich lasse ihn herankommen und sage: „Sie haben wohl doch Angst, dass ich ausrücke?"
„Nein, ich möchte Ihnen sagen, Betzoldt, dass ich Sie auch weiter für einen anständigen Menschen halte. Wenn ich Ihnen irgendwie einmal helfen kann, denken Sie an mich!" Dann dreht er sich um und geht zurück.
Wir kennen uns schon ein wenig. Er ist Telefonunteroffizier, und bei der Auswahl der wegen Krankheit ausfallenden Telefonisten wurde auch ich einer seiner Schüler. Bei dem stumpfsinnigen Arbeitsdienst ist die Beschäftigung mit Geräten, die das hungernde Hirn in Bewegung halten, eine willkommene Abwechslung. Auch die Mechanik der Feldhaubitze kenne ich schon in allen Einzelheiten, und ich vertrete bereits den kranken Batterieschlosser.
Gustav nimmt mich mit hinunter. Ich bin etwas enttäuscht, wäre zu gern zwischen zwei Bajonetten in Arrest gefahren oder marschiert, vorbei an dem Kommando der gefangenen Russen, die Knüppeldämme legen und ebenfalls diesen „Schutz" genießen. Ich bin bar jeder Scham, habe ein masochistisches Verlangen, meine eigene Verwahrlosung mit der Gleichstellung der Feinde des Vaterlandes quittiert zu sehen, und schütte Gustav mein verbrecherisches Herz aus.
„Gott", sagt Gustav, „du mokst noch vel to vel Kram, Hans. Musst di dorbi 'n beten torög holn, süs krieg'n se di andersrum kaputt. Musst immer bedenken: die Menschen kosten nichts und die andern ducken sich. Sie hebben die Näs noch nich vull nauch."
„Was soll ich machen, ich werde doch nicht mutwillig in die Gewehre der Russen rennen!"
„Du mokst den Fehler", meint Gustav, „dass du dich soviel um den Telefonkram und die ollen Hollerbüchsen kümmerst. Du fohrst immer am besten, wenn du von gar nichts weten deist, dann fällst du am wenigsten up. Die sich vordrängeln, warn am ersten dotschoten!"
„Mensch, dann wirst du ja ganz blödsinnig, es ist ja schon so zum Verrücktwerden!"
„Dat is bloß vorübergehend, dat givt sich", fährt Gustav mit unerschütterlicher Ruhe fort. „Man mut sehen, wie man von ein Tag in annern kummt. Ewig kann der Dreck doch ok nich duern. Bist ja ganz fein wegkomm'n, Hans, is ok man gaut. Wenn ick so denk, wie dat mit Wilzki taugohn is und dann mit Armbrecht und an dien Fru denk, bist doch wie durch 'n Wunder gesund blem."
Gustav spricht immer vor sich hin, als erledige er eine Mission, ohne so recht die Worte dafür zu finden. Er bricht auch unvermittelt in seinen Ermahnungen ab und fährt dann fort: „Is übrigens gar nich so ohne in dem Bunker. Decken hest nauch, und für Freten warn wi ok sorgen."
„Was hast du für Kanoniere zum Empfang?" erkundige ich mich.
„Grothusen und Jansen. Jansen kennst du ja, er hat sich wat wegholt up de Fahrt und is wieder doa. 'n ganz fein Kerl — aber he soll in Füerstellung. Ick hew fast jeden Tag andre."
Die Pferde fallen wieder in Trab, der Mond kommt auf, vor uns liegt schon das Dorf, wie im friedlichen Abend. Aus allen Bauernhäusern scheint Licht. Der neue, weiße, hohe Zaun vor dem Offiziersquartier umschließt den schon bestellten großen Garten. Frisches Grün klettert über die Granatlöcher in den verwüsteten Äckern. Die Silhouette eines Wagens mit Pferden
taucht auf, man sieht im Dunkeln nicht, dass es ein Proviantwagen irgendeines Truppenteils ist. Vor einem Ziehbrunnen wiehert ein Pferd.
Der Wachtmeister grinst höhnisch und vermerkt zufrieden: „Schon wieder da!"
Ich quittiere sein Grinsen mit einem lauten „Jawohl, Herr Wachtmeister!", nehme mein Brot und meine Marmelade und verschwinde durch die von der Wache geöffnete Tür.
Der Raum ist eine dunkle Kammer ohne Fenster. Von der Pritsche aus ist das Strohdach von innen zu erreichen. Durch ein kleines Loch, das ich hineinarbeite durch Ausrupfen des Strohes, fällt auf die Holzpritsche ein schwacher Lichtkegel. Am Abend reicht mir Jansen etwas Schmalzersatz und einige Zigaretten, etwas später einige Decken; auch ein Buch: „Die Bräutigame der Babette Bomberling".
Ich komme auch endlich dazu, zwischen den Bajonetten der Posten austreten zu dürfen — dreimal am Tage. In der Zwischenzeit liege ich und lese oder grüble. Aber ich finde keine rechte Ruhe. Ich höre alle Geräusche aus der Schreibstube, auf dem Korridor, sogar die Telefongespräche aus der Feuerstellung.
Von der Feuerstellung her ist Gewehr- und Granatfeuer zu hören, das sich gegen Abend verstärkt. Flieger erscheinen zum ersten Male über der Stellung. Bis dahin noch nicht vernehmbare russische Batterien müssen aufgefahren sein. Die Bagage hat Befehl, sich marschbereit zu halten. Eine ungeheure Nervosität macht sich bemerkbar.
In der dritten Nacht, gegen Morgen, setzt stundenlanges verstärktes Artilleriefeuer ein. Die Batterie bekommt Befehl, dass die Stellung durch Sperrfeuer vor dem Graben um jeden Preis zu halten ist und nach Durchbruch der Russen durch Abriegelung des Knüppeldamms, der von der Batterie nach dem Graben führt, gesichert wird. Rechts und links davon ist Sumpf. Das Eis ist verschwunden, hier kann niemand durch, die russische Artillerie belegt bereits den Knüppeldamm hinter unserer Stellung, die einzige Rückzugsstraße. Einige Treffer, und der Rückzug für die Kanonen und Protzen ist unmöglich. Die erste Welle der russischen Infanterie bleibt im Gewehr und Granatfeuer hängen, gräbt sich aber fünfzig Meter vor dem deutschen Graben ein. Alte Granattrichter erleichtern ihr das.
Die Batterie schießt nach zwei Zielen, mit einem Zug nach der russischen Artilleriestellung, von wo her die Stellung der Batterie dauernd unter Feuer liegt, mit dem andern Sperrfeuer, um eine Verstärkung der vorgeschobenen russischen Infanterie zu verhindern.
Da zerspringt am ersten Geschütz die Vorholfeder. Das dritte Geschütz erhält eine Stunde später einen Treffer und fällt ebenfalls aus. Drei Kanoniere sind verwundet, der Aufsatz zertrümmert, ein Rad demoliert. Die Batterie hat keine Richtkanoniere — und keinen Batterieschlosser. Kein Mensch weiß so mit den Ersatzteilen Bescheid, dass es binnen kurzem wieder klappt. Die Russen stehen schon in unserem Graben. Die Beobachtung gibt keine Befehle mehr. Alle noch verfügbaren Mannschaften der Munitionskolonne und Fahrer sitzen rechts und links von der Batterie im Sumpf als „zweite Stellung".
„Wo ist der Batterieschlosser?"
„Im Lazarett, Herr Hauptmann!"
„Wo ist der Ersatzmann?"
„Im Arrest, Herr Hauptmann!"
„Himmeldonnerwetter! — Sind Sie verrückt? — Sofort herholen!"
Mitten in der Nacht klopft es an die Tür. Ein Pferd steht da, ein zweites für den Begleiter. Wir reiten durch den stockfinsteren Wald, zwei Stunden. Die Pferde stutzen nach jedem Einschlag, stolpern über Wurzeln und Löcher, fallen immer wieder in Schritt.
Die Batterie feuert nur mit zwei Geschützen und nach zwei Richtungen. Das erste Geschütz ist bald feuerbereit. Dann wird das dritte unterbaut und provisorisch auf die Verbindungsstraße nach der Beobachtung eingerichtet. Jansen übernimmt es.
Die Batterie hat ihre Feuerprobe zu bestehen. Die Mannschaften sind größtenteils unbrauchbar. Erst als die schwere Batterie hinter uns in Stellung gebracht ist und eingreift, taucht einer nach dem andern von denen wieder auf, die nicht vorn in der Linie lagen. Sie waren im Wald geblieben, nach rückwärts, um den Anschluss nicht zu verpassen. Müller und Brandt lagen zu dicht an der Latrine. Ein Volltreffer schüttete fast den ganzen Inhalt über sie. Aber sie blieben tapfer liegen, bis sich die Russen zurückziehen und Feuerpause befohlen wird.
Die Rohre sind noch heiß, ein Berg von Kartuschen liegt um die Kanonen. Zu den drei Verwundeten bringen sie noch zwei, mit Gewehrschüssen. Kanonier Licht stirbt. Sein Kopf ist mit feinen Splittern durchsiebt.
Niemand kennt Kanonier Licht. Er ist Pole, das weiß jeder, weiter nichts. Es fragt auch keiner danach.
Roggenbrot gibt mir die Hand und sagt: „Sie haben Nerven, Betzoldt!"
„Wie meinen?"----------
„Sie haben Nerven, alle Achtung — und dass Jansen noch zur rechten Zeit kam, das war Glück."
Jansen, der früher immer lachte, lacht aber nicht mehr. Ich kenne ihn gar nicht wieder und frage ihn.
„Meine Frau ist sehr krank", berichtet er. „Wer weiß, ob ich sie noch einmal wieder sehe." Dann zeigt er mir ein Telegramm von dem leitenden Arzt des Krankenhauses: „Lebensgefährliche Operation!''
„Ob ich's einmal versuche?"
„Natürlich!"
Abends geht Jansen in Ordonnanzanzug zum Hauptmann und bittet um Urlaub. Er ist von Anfang an im Felde.
Der Hauptmann verspricht, bei der Abteilung das Gesuch zu befürworten. Anderntags erhält Jansen Bescheid, dass der Urlaub nicht bewilligt ist.
Aus dem Lazarett war die Meldung eingelaufen, dass Jansen verdächtig sei, Flugblätter verteilt zu haben. Wachtmeister Roggenbrot verriet uns den Grund der Urlaubsverweigerung mit der Bitte, es für uns zu behalten. Kanonier Jansen setzt sich auf den Richtsitz und weint.
Einige Tage später packen vier Mann und fahren auf vier Wochen in Urlaub. Es ist schon das zweite Kommando, das auf das Gut des Herrn Hauptmanns fährt, um die Feldarbeit zu bestellen. So sorgt unser Hauptmann für die Volksernährung in Deutschlands schwerster Zeit. Die Urlauber sind meistens Einjährig-Freiwillige, die gern das Opfer bringen und auch den Opfermut des Herrn Hauptmanns zu schätzen wissen. Drei Wochen arbeiten sie auf seinem Rittergut. Eine Woche Urlaub ist für sie. Was verstehen schließlich einfältige Proletarier von der Landwirtschaft. Es gibt auch Urlaub für die, die ihre ersparten Zwanzigmarkstücke abliefern. Aber die Arbeiter haben zu ihrem Schaden nichts gespart.
An jedem Geschütz sind nur noch zwei Mann Bedienung. Ich melde mich, um meine Reststrafe abzusitzen. Der Hauptmann sagt: „Ich will noch einmal Gnade für Recht ergehen lassen und Ihnen den Rest der Strafe schenken."

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