Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
http://nemesis.marxists.org

XXII.

Wir haben Abteilungsversammlung. Ein Gewerkschaftsbeamter eröffnet sie und gibt bekannt, dass die Abteilung ohne Vertrauensmann ist. Kollege Rosenthal hat sein Amt niedergelegt.
Keiner meldet sich zum Wort.
Ich zähle einundachtzig Dreher, Schlosser, Dreherinnen.
„Kollegen!" fährt der Gewerkschaftsbeamte fort, „ihr müsst doch einen Vertrauensmann haben, oder geht es euch so gut ?"
Keiner spricht, keiner macht Vorschläge, keiner will sich verdächtig machen. Der Gewerkschaftsbeamte wartet, steckt sich eine Zigarre an, spricht leise mit einigen Kollegen, die dann Vorschläge machen.
„Lehne ab!" folgt prompt die Antwort. Der Gewerkschaftsbeamte spricht von Interessen der Arbeiter, von ihren Idealen, von ihren Pflichten; sie könnten doch nicht so auseinander gehen?
In dem kleinen Saal bleibt es still und stumm. Mir ist das unheimlich, unwürdig scheint mir eine solch feige Kapitulation, und ich bin nahe daran, auf den Tisch zu springen.
Die Versammlung geht auseinander, wie sie zusammenkam. Der Gewerkschaftsbeamte verschwindet zornig mit seiner Aktenmappe. Einige lächeln ihm nach.
Einer sagt: „Diese Schleimscheißer! Sind reklamiert, damit sie das ,Durchhalten' predigen, und quatschen von Idealen. Da bleibt einem die Spucke weg!"
„Die ham wa erkannt", meint ein anderer.
„Im Brotstreik ham se sich so richtig entlarvt als Hindenburg-Knechte. Der braucht bloß 'n Vertrauensmann für Hindenburg."
Ich gehe niedergeschlagen nach Hause. Soll es gelingen, die letzte Kraft zu brechen, soll es gar keinen Ausweg geben?
Die Spitzendreher wollen für sich eine Aktion einleiten. Mit sechs Mann wollen wir vorstellig werden und mehr Lohn verlangen, oder einen „Kriegs schein". Kein anderer Betrieb darf ja ohne diesen „Kriegsschein" Arbeiter einstellen.
Langenscheid jedoch ist dagegen. „Das hat alles gar keinen Zweck! Erstens stehen wir als Bettler vor diesen Brüdern, wenn sie nicht wollen, geben sie nichts. Wir ziehen dann den Schwanz ein und schleichen davon, denn machen können wir doch nichts!
Zweitens scheiß ich auf den Groschen Zulage. Dafür kann man doch keine Butter für achtundzwanzig Mark kaufen.
Und drittens bin ich aus prinzipiellen Gründen gegen eure ganze Filzlatschentaktik. Draußen verrecken sie massenweise, und wir sind bereit, tüchtig für die Kriegstreiber zu schuften, wenn sie uns nur ein bisschen besser futtern. Man kommt sich ja vor wie ein Hund, dem es egal ist, wo er hinbeißt. Wenn er einmal knurrt, wirft man ihm eben einen Brocken hin. Wenn sie dann lustig sind, bieten sie uns den Kriegs schein an. Und ihr wisst doch, was das bedeutet. Die da oben wissen ganz genau, dass keiner gern in den Schützengraben geht, und wenn wir auf den Kriegs schein bestehen, sind wir innerhalb vierzehn Tagen reif — für einen Katzendreck."
Brunner, der die Geschichte ausgeknobelt hat, wird auf den Leipziger bös. „Wenn wir nicht einig sind", meint er wichtig, „hat es allerdings keinen Zweck." Der Vorwurf gegen Langenscheid klingt deutlich aus seinen Worten.
Langenscheid merkt das und antwortet schlagfertig: „Ich will euch mal was sagen! Wenn ihr was wollt, dann spielt endlich mit offenen Karten! Wenn's heißt: Schluss mit dem ganzen Kriegs Schwindel! bin ich dabei, da könnt ihr jederzeit auf mich rechnen. Aber so à Gramm, für'n Groschen, und mit dem Kriegsschein bluffen und jedes Grüppchen für sich: die Dreher, die Werkzeugmacher, die Tischler und die Klempner, das ist nicht gehauen und nicht gestochen, nicht Hund und nicht Sau. So, nun wisst ihr's!"
Langenscheid geht wieder an seine Bank und kümmert sich um nichts mehr. Brunner grinst verächtlich, nickt von einem zum andern, als wolle er sagen: Fauler Kunde! und erzählt von den Opfern, die er schon gebracht, wie er immer im Stich gelassen worden sei, und jetzt die Nase voll habe. Aber er stößt überall auf Schweigen — oder auf Widerstand. Sein schleimiges Getue ist mir zuwider. „Langenscheid hat vollständig recht!" sage ich.
Brunner ist beleidigt und macht seine „Aktion" allein. Er erhält die Erlaubnis, pro Stunde zehn Pfennig mehr schreiben zu dürfen wie wir; er ist schon seit Beginn des Krieges bei der Firma, dauernd reklamiert und „eingearbeitet".
Ein Suchen und Tasten ist das alles, ein Drehen im Kreise, Rückkehr zum Ausgangspunkt. Wo irgendwo ein Nacken sich steift, ein Mund sich öffnet, fassen die Häscher rasch zu. Sie wissen, die Revolution hockt im Dunkeln. Ein Schrei, noch einer, ein dritter — und die Geister des Umsturzes sind alarmiert.
In Petersburg stürmten die Massen die Brotläden. Kugeln pfiffen in die hungrigen Mägen und entfesselten den Widerstand auf der ganzen Linie! Das „Verbrechen", gegen den Hungertod zu rebellieren, wird zur Macht. Ein Massenschrei der Empörung und Erlösung eilt durch das weite Land. Das Recht der Verdammten dieser Erde bricht wie ein Vulkan durch Verbrechen und Schande. Die Gestalt Lenins wächst wie ein feuriger Schatten am Horizont auf. Arbeiter- und Soldatenräte organisieren die Aufständigen zum Sturm gegen die kapitalistischen Blutsauger. Das Rot der russischen Revolution ergießt sich über die leichenbesäte Erde.
„Helft uns, die Tyrannei dieser Welt zu brechen! Besinnt euch auf eure Pflicht! Steht auf, kämpft mit uns 1" klingt es aus den Manifesten des russischen Proletariats.
In den deutschen Parlamenten wird gefeilscht um ein „Wahlrecht". Man redet auch viel vom „Achtstundentag". Ohne alle Schmerzen und Anstrengungen sollen die Arbeiter in Deutschland zu ihren „Rechten" kommen. Die Schreckensherrschaft der Regierung entpuppt sich immer mehr als Herrschaft der Erschrockenen. Die „Räuberbande" in Russland, die „Hochverräter" sind an der Macht. Man muss das Recht der Proletarier, sich dem Wahnsinn entgegen zu stemmen, als Wahnsinn und Verbrechen brandmarken, muss die russische Revolution infamieren, muss den Arbeitern in Deutschland „entgegenkommen" durch leere Botschaften und billige Reformen, um die Entlastung an der Ostfront ummünzen zu können in einen Raubfrieden mit den „Verbrechern", zu einem militärischen Plus an anderen Fronten.
Denn die Lage wird trotz alledem bedrohlich. „Von militärischen Siegen ist ein Ende des Krieges nicht zu erwarten", verkündet Staatssekretär von Kühlmann. Der vierte Kriegswinter naht, und die Regierung muss die „Brotration" von neuem kürzen.
Flugblätter und die „Spartakusbriefe" werden in die Betriebe geschmuggelt; immer wird von neuem verkündet: „Wir sind noch da, immer noch!"
Wir sind in unserer Abteilung drei Genossen: Langenscheid, Krüger, der Fräser mit dem Glasauge, und ich. Ich bin oft bis spät in die Nacht unterwegs, teils mit Sophie, oft auch allein. Aber Sophie wartet immer auf mich. Manchmal scheint es mir, als wolle sie mir etwas verbergen, auch heute.
„Ist dir nicht gut, Sophie?"
„Warum?"
„Du siehst so gedrückt aus, so niedergeschlagen!"
„Lütting!?"
Ich sehe an ihr hoch. Was soll nun wieder sein? „Weißt du es genau?"
„Ja, ich weiß es genau. Es ist ja schon vierzehn Tage über die Zeit."
Ich nehme ihre kalten Hände in die meinen und sage lachend: „Ist doch nicht schlimm, Sophl! Ich werde schön was ranschaffen, dass du es diesmal besser hast. Nächsten Sonntag gehe ich mit ,hamstern'!"
Sie seufzt und sagt: „Ich habe solche Angst ausgestanden, dass ich dir zur Last falle. Ich bin nun so froh!"
„Ich auch!" lüge ich tapfer. Sie kann das gar nicht glauben, tritt einen Schritt zurück und mustert mich. „Du siehst aber gar nicht froh aus", sagt sie zweifelnd.
„Ich habe heute angestrengt arbeiten müssen und bin nun vier Stunden unterwegs. Wir haben die Stadtbahnzüge mit Klebezetteln bepflastert. Ich bin nur müde. Aber das ist doch morgen vorbei." Sie bringt mir zur „Belohnung" noch einen kleinen Teller Reis. Dann deckt sie mich zu.
„Schlaf schön, Lütting."
„Danke, du auch!"
„Ich werde gut schlafen", erwidert sie zärtlich.
Ich liege noch lange wach. Wie bald kann ich wieder in dem Ehrenkleid stecken? Zu der nervenfressenden Selbstdisziplin kommt noch die Sorge, dass ein drittes totes Kind ihr das Leben kosten kann.
Wie verabredet treffe ich mich mit Krüger früh um fünf Uhr zur „Hamsterfahrt". Krüger hat ein Bündel kleingeschnittener Treibriemen, einen begehrten Artikel zum Besohlen von Schuhen. Leder gibt es fast nicht mehr.
Ich habe die Absicht, meine langen Artilleriestiefel zu opfern. Sie sind mir zu schwer und — vorderhand — bin ich noch mit Schuhen versehen. Wir jagen nach Fettigkeiten.
Sie wollen umdrehen, da ist ihnen schon der Rückzug durch den Tunnel abgeschnitten. Man reißt ihnen die Rucksäcke vom Körper. Sie klammern sich an ihren Kartoffeln fest.
„Lass los, Aas verfluchtes!" brüllt ein Uniformierter, und stößt das Weib mit dem Kolben vor die Brust, dass sie rücklings stöhnend hinfällt. Dann nimmt er den Rucksack und wirft ihn auf den Haufen. Eine alte Mutter klammert sich fest an ihren Sack und jammert: „Lasst mir doch die paar Kartoffeln für meine Kinder!"
Man stößt sie beiseite und wirft ihren Rucksack auf den Haufen. „Euch werden wir schon kriegen, ihr Bande!" höre ich den Vaterlandsverteidiger brüllen.
In der Mitte rottet sich die Menge zusammen. Meist Frauen, aber auch Kinder. Verzweifelte Hände fassen die gezückten Kolben, betteln herzerweichend. Kinder schreien.
Es gibt kein Erbarmen. Der Haufen wird auseinandergeschlagen. Eine Frau taumelt wie betäubt auf eine Bank, ihre Arme suchen gar keinen Halt mehr. Sie fällt steif am Geländer entlang, mit dem Kopf auf die Lehne und aufs Pflaster. Wir packen sie und schleppen sie in den Wagen.
Die Schlacht ist beendet.
Die Sieger stehen, das scharf geladene Gewehr bei Fuß, um ihre Beute herum. Der Herr Wachtmeister verkündet: „Wer Reklamationen hat, kann sich auf der Bahnhofs wache melden!"
Der Zug fährt ab. Sie kehren mit leeren Händen heim, ausgehungert, müde, durchnässt, verprügelt, ohne Rucksack und ohne den Wochenlohn, den mancher geopfert haben mag, weil ihm der „Lieferant" die Sachen nicht ins Haus bringt. Neben mir erholt sich eine Frau langsam aus der Erstarrung.
„Habe mir meinen Rucksack noch geborgt", sagt sie, „er ist fast neu. Vierzehn Tage habe ich beim Bauern geschneidert — um zwanzig Pfund Kartoffeln und ein Pfund Butter."
„Das müssen Sie doch alles wiederbekommen?"
Die Frau bleibt stumm, verzieht nur, bitter lächelnd, den Mund.
Ihre Nachbarin sieht mich erstaunt an. „Wenn Sie noch ein paar Monate Knast haben wollen, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, können Sie sich ja melden", belehrt sie mich.
Gegen Mitternacht bin ich zurück. Sophie wartet noch. Ich lege das halbe Pfund Speck und das Stück Brot auf den Tisch. Sie sieht nach meinen Füßen, sieht, dass ich die Stiefel noch anhabe und auch die Schuhe wieder mitgebracht habe.
„Hast du das so bekommen?"
„Nein, das ist vom Genossen Krüger."
„Na ja! Das erste Mal! — Wenigstens nicht ganz umsonst!" Sie lacht mir ermunternd zu. „Darf ich ein Stückchen essen?"
„Aber natürlich, dazu ist es ja da!"
„Ist sonst alles gut gegangen?"
„Ja."
Was soll ich ihr sagen? Sie würde sich zu sehr aufregen. Sie soll nicht merken, wie mich diese Verantwortung hemmt und quält.
„Wenn die Massen nicht wollen", meint Langenscheid, mit dem ich darüber spreche, „dann nützt alle Bravour nichts. Dann ist es eben noch nicht soweit!"
Langenscheid hat Frau und Kinder in Leipzig, fährt jeden Sonntag hin, kommt montags wieder. Er drückt sich vor keiner propagandistischen Arbeit, aber er erledigt alles für sich. Er ist ein fleißiger, zuverlässiger Werkzeugdreher, vom Meister als erstklassige Kraft geschätzt. Fast stupid sieht er aus, so auf den ersten Blick. Sein graugesprenkelter kurzgeschorener Schädel ist wie ein primitiver Bauernkopf.
Ich gehe zu ihm, begrüße ihn. Auf seiner Bank liegt seine Brieftasche, in ihr ein Bild, eine Frau; sie hat einen Jungen und ein Mädchen an der Hand, lacht wehmütig, und die Kinder machen wichtige Gesichter.
„Ist wohl deine Frau?"
„Ja", wie aus dem verborgensten Winkel seiner behaarten Brust kommt das.
Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber alles, was Langenscheid tut, wie er sich bewegt, wie er darauf bedacht ist, die Arbeit mit äußerster Exaktheit auszuführen, wie er abwägt, ob die zehn Pfennig Zulage den Einsatz lohnen, sich nicht verraten, preisgeben will, für nichts: das alles erscheint mir so klar, fließt zusammen zu einem Ganzen, einem wohldurchdachten System.
„Zu Herrn Horn bitte!"
Die Lohnschreiberin steht vor uns, geht dann, ohne Antwort abzuwarten, mit derselben Aufforderung von Bank zu Bank. Sie folgen bereits, gehen zur Meisterbude hin.
„Was ist los?" frage ich Krüger.
„Das Vaterland braucht Geld! Kannst einen Wochenlohn opfern — für Kriegsanleihe."
Brunner geht sofort, Langenscheid folgt langsam, als ginge er zur Toilette. Wir gehen hinterher. Eine ganze Reihe ist angetreten. Die meisten zeichnen. Der Meister sitzt davor und erklärt pflichtgemäß, dass die Liste von der Betriebsleitung zirkuliere für die Belegschaft. Brunner kommt an die Reihe und zeichnet. Eine Arbeiterin sagt: „Hab ja selbst nichts!" Sie bleibt unschlüssig stehen, bis Meister Horn sie beiseite schiebt und sagt: „Ist gut!"
Der Meister sieht auf Langenscheid, der jetzt an der Reihe ist.
„Ich lehne ab!" sagt Langenscheid, dreht sich um und geht. Als Horn dann noch Krüger sieht, der höhnisch lacht, winkt er rasch ab.
Ich lehne ebenfalls ab und folge den beiden.
„Dämliche Schweine", sagt Krüger während der Frühstückspause, „können vor Hunger nicht aus den Augen gucken und opfern trotzdem ihre sauer verdienten Pfennige, damit das Gemetzel frisch-fröhlich weitergeht. Aber mancher möchte dadurch noch einen Blumentopf gewinnen."
Er sagt das mit einem deutlichen Stich auf Brunner.
„Wegen die paar Kröten die Finger verbrennen, fällt mir ein", gibt der giftig zurück. „Ich habe meinen Groschen Zulage gekriegt. In einer Woche hab ich das raus, merk das gar nicht."
Langenscheid guckt über seine Kaffeepulle fort, er trinkt gerade, stellt sie dann hin und sagt: „Die wissen da oben schon, was sie machen. Auf die Pfennige kommt es ihnen gar nicht an, sondern auf die Gesinnung. Sie gucken sich auch nicht die an, die zeichnen, sondern die, die nicht zeichnen. Die jetzt noch zeichnen, sind der große Haufen Dreck. Der quietscht noch nicht einmal, wenn man drauf herumtrampelt."
Langenscheid knüllt sein Butterbrotpapier zusammen und geht schlenkernd an seine Bank. Brunner ist rot wie ein Krebs. Krüger grinst.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur