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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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DER GENERAL

Ich schlafe bis zum Mittag. Wie ich aufwache bin ich sehr traurig. Der Tag ist trübe und unfreundlich. Ich will nicht entscheiden, ob meine Traurigkeit vom Alkoholgenuss der Nacht herrührt, davon, dass mir plötzlich diese ganze Soldatenspielerei sinnlos vorkommt, oder weil morgen nun wieder der Alltag anfangen soll.
Denn es ist ein Artillerieleutnant bei uns aufgetaucht, der uns mitteilt, dass die Kompanie heute Abend aufgelöst werden muss. Wir fragen uns, warum, und verstehen es nicht.
Leutnant Roth ist nicht da. Man erzählt, er sei gestern Nacht nach Berlin zur Gardekavallerieschützendivision abgereist. Mit ihm die drei Kameraden, die ich in der Nacht noch gesehen habe. Sie haben sich von niemand verabschiedet.
Der neue Führer ist ein junger Mensch mit einem hübschen und nichts sagenden Gesicht. Er lächelt auf alle unsere Fragen geheimnisvoll.
Dunkle Gerüchte kommen auf: Der bekannte Kommunist Meseberg soll ohne Haftbefehl von Leuten unserer Kompanie verhaftet worden sein. Mit schmerzendem Kopf versuche ich, mir die Zusammenhänge zwischen diesem Vorfall, der nächtlichen Zecherei in der „Goldenen Kugel" und der plötzlichen Abreise der vier Leute klarzumachen. Es gelingt mir nicht.
Wir putzen unsere Waffen und schmieren die Stiefel. Das tun wir heute zum ersten Mal seit vier Wochen. Wir sehen demgemäß sehr schmutzig aus. Es hat manche Tage gegeben, an denen ich mich nicht gewaschen habe. Für wen auch.
Aber heute will der General Maerker zu uns sprechen. Das ganze Freikorps wird versammelt sein, und da muss die zweite Kompanie einen guten Eindruck machen.
Nach dem Mittagessen marschieren wir auf den Hof der Artilleriekaserne. In weitem Viereck stehen da schon die beiden anderen Kompanien des Freikorps.
Wir blamieren uns, denn der Artillerieleutnant, der uns führt, kann keine Infanteriekommandos. Statt „Abteilung Halt" hebt er den rechten Arm und kommandiert „Haaalt!" Die anderen Kompanien johlen.
Dann kommt der General. Ein kleiner, beweglicher Mann mit eisgrauem Schnurrbart. Ein mächtiger Mann. Die Arbeiterschaft vieler deutscher Städte kann etwas von seinem Schneid und seiner Energie erzählen. Ein Mann, der das Chaos hasst. Der Erste, der aus einer Horde verloderter Rückkehrer eine fest organisierte Truppe gemacht hat. Der in Berlin, in Braunschweig, in Erfurt und in Halle mit eiserner Hand Ruhe und Ordnung wiederherstellte.
Wir betrachten ihn ehrfurchtsvoll.
Die Exzellenz beginnt zu sprechen: vom Dank aller gutgesinnten Elemente, den wir uns durch unser aufopferungsvolles Eintreten für Ruhe und Ordnung verdient haben. Dass wir unbekümmert unsere berufliche Arbeit aufgegeben haben, um noch einmal zur Waffe zu greifen und mit blitzendem Schwert die Schatten der Finsternis zu bekämpfen. Von Deutschlands Zukunft, und dass es nicht untergehen kann, solange es noch deutsche Männer wie uns gibt.
Und wir glauben es ihm. Denn er ist ein General.
Dann redet er von der Technik des Straßenkampfes. Seine Stimme, die bisher den Stahlklang militärischer Kommandos gehabt hat, wird gewissermaßen gemütlich. Seine Rede wird von kleinen Scherzen unterbrochen, die wir belachen dürfen. Er sagt zu uns „Meine Herren!"
Wir lauschen aufmerksam seinen Worten.
„Die größte Kunst ist die, den Gegner eklatant ins Unrecht zu setzen, ohne deshalb schlapp zu sein," sagt er mit Nachdruck und erläutert uns ohne jede Beschönigung, dass es ja hier in Halle auch so war. — Ich muss an den erschlagenen Oberstleutnant denken. — Marschiere man aber in eine unruhige Stadt, dann müsse man von vornherein energisch auftreten.
„Meine Herren, ich halte gar nichts von so genannten Schreckschüssen, die in die Luft abgegeben werden. Wenn der Führer zum Kampf entschlossen ist, muss er auch die Verantwortung für die Folgen auf sich nehmen. Wenn Sie sich beim Einmarsch in eine Stadt einer feindlichen Menschenmenge gegenüber sehen, dann nur nicht rücksichtsvoll sein! Schreckschüsse gehen in die Luft und erschrecken niemand außer den, der sie abgibt. Ich will Ihnen ein anderes Mittel sagen, meine Herren."
Der General schmunzelt und streicht sich mit martialischer Bewegung den Bart.
„Es ist ja eine altbekannte Tatsache, dass bei solchen Aufläufen immer die Weiber vorneweg sind. Und wenn ein Führer schießen lässt, und es gehen ein paar olle Weiber dabei drauf, dann schreit gleich die ganze Welt über die blutgierige Soldateska, die unschuldige Frauen und Kinder erschießt. Frauen sind überhaupt immer unschuldig."
Wir lachen.
„Meine Herren, in solchen Fällen hilft nur eins: schießen sie den Weibern ein paar Leuchtraketen unter die Röcke, und dann sollen Sie sehen, wie sie davonlaufen. Dabei kann nicht viel passieren, das Magnesium der Raketen wird ihnen die Waden oder den Hintern versengen, und die Stichflamme brennt vielleicht ein paar Röcke an. Das harmloseste Mittel, was man sich denken kann! Also, meine Herren: keine Schreckschüsse! Leuchtraketen zwischen die Beene sind das beste Mittel."
Exzellenz spricht noch über den Einsatz von Panzerwagen und ihre hervorragende moralische Wirkung, von der zweckmäßigen Durchführung von Haussuchungen und dergleichen.
Dann ein dreifaches Hoch auf das Vaterland, und wir dürfen wieder gehen.
Drüben in unserm Quartier herrscht die Auflösung. Wir geben die Waffen ab und packen unsere Sachen zusammen. Es hat angefangen zu regnen. Wir haben keine Zivilsachen hier und gehen in Uniform nach Hause. In meiner Brieftasche bauscht sich der eben empfangene Sold: fünfzehn Mark täglich inklusive Kampfzulage. Ich habe noch nie soviel Geld besessen.
Aber das ist auch der einzige Lichtblick, sonst bin ich erfüllt von Niedergeschlagenheit und Trauer. Nun geht die Schule wieder an, man muss sich von unsympathischen Lehrern anfahren lassen und ist nichts als ein kleiner Pennäler. Noch dazu einer, der als unbequemer Schüler verrufen ist, und auf den scharf aufgepasst wird. Der Soldat wird mit der Uniform in den Schrank gehängt.
Auch über die Zeit, die hinter mir liegt, bin ich traurig. Ich kann es mir selbst nicht erklären, woher plötzlich diese Stimmung kommt.
Vielleicht, weil ich mir auf dem Nachhauseweg überlege, was ich nun meinen Verwandten und Freunden von meiner Soldatenzeit eigentlich erzählen soll. Ich merke erschreckt, dass ich nichts erzählen kann. Von Kampf und Sieg weiß ich nichts. Ich habe nur zweimal geschossen,
und beide Schüsse galten einem Windschutz, der sich auf einem Schornstein drehte. Ich wollte kämpfen und Heldentaten verrichten, und ich habe gefaulenzt, Karten gespielt und getrunken. Das war alles.
Mir ist eine altgewohnte Vorstellung abhanden gekommen. Ich weiß nun, dass die Soldaten, die für Ruhe und Ordnung kämpfen, keineswegs die Helden sind, als die ich sie bis zu meinem Eintritt ins Freikorps anzusehen gewohnt war. Und da ich meine Gedanken nicht im Zaum halten kann, kommt mir plötzlich die Verlogenheit des Begriffs Heldentum an sich leise zu Bewusstsein.
Vielleicht hat der Krieg so ähnlich ausgesehen? Vielleicht sind all die großen Worte von Aufopferung und Todesmut nichts als Schall und Rauch? Ich wehre mich verzweifelt gegen diese unziemlichen Überlegungen, von denen ich zu wissen glaube, dass sie falsch sind.
Ich habe vier Wochen lang den Militarismus ohne Maske gesehen und bin ein Junge, dem der Anblick eines überfahrenen Hundes oder auch nur eines verbrennenden Nachtfalters körperlich schmerzendes Mitleid erregt.
Ich habe vier Wochen lang Rohheiten gehört und gesehen und fand bei niemand und nirgends auch nur den Schatten einer Idee, die solche Rohheiten als Notwendigkeiten rechtfertigte.
Ich schäme mich meiner selbst, aber mir ist furchtbar unbehaglich zu Mut, denn ich weiß nicht, wozu dies alles nötig gewesen ist.
Mich selbst überraschend steigt der Gedanke in mir auf, dass vielleicht der Latjer gar nicht so schlimm ist, wie ich immer geglaubt habe. Mir hat doch nicht einer etwas getan.
Und dann, — es sitzen jetzt Dutzende und Hunderte von Menschen im Gefängnis, die wegen „Plünderung" verurteilt worden sind. Sie haben Sachen an sich genommen, die herrenlos auf der Straße lagen. Was haben wir denn getan, wenn wir die beschlagnahmten Waren nicht abgeliefert, sondern für uns verbraucht haben?
Die bürgerlichen Zeitungen können sich immer noch nicht über die verbrecherische Gesinnung der Plünderer beruhigen und reden von ekelhaften Verbrechern. Aber wir, — wir sind Helden, die sich für Ruhe und Ordnung aufopferten.
Ich werde damit nicht fertig. Irgendwo muss hier doch ein Fehler stecken.
Und dann fällt mir noch der General ein, der kaltblütig davon sprach, man müsse den Gegner eklatant ins Unrecht setzen. Warum? Wenn er doch nicht Unrecht hat?
Aber das war ein General, und ich bin Primaner, bin unmännlich und schlapp und darf um Gotteswillen niemand etwas von meinen Bedenken verraten. Ich würde mich lächerlich machen.
Zu Hause esse ich schweigend Abendbrot und nehme endlich wieder ein Bad. Ich poliere mir sogar die Nägel und wundere mich dabei über mich selbst.
Und dann ist es sehr schön, in einem frischbezogenen Bett zu liegen und die Stiefel zum Putzen vor die Tür zu stellen...
Am nächsten Morgen sind die Zeitungen voll von dem Mord an Meseberg. Bevor ich zur Schule gehe, lese ich, dass man die mutmaßÂlichen Täter in Berlin bereits verhaftet hat.
Ich weiß nun alles und ziehe hilflos die Schultern hoch. Da habe ich also vier Wochen lang mit Menschen zusammengelebt, die imstande sind, mit kaltem Blut einen Menschen zu töÂten. Mörder.
Es sind junge Leute wie ich. Fischer ist sogar ein freundlicher und stiller Mensch, den ich gern habe. Und nun ist er ein Mörder. Ich kann das nicht verstehen.
Ich weiß nichts von Meseberg, ich weiß nicht, warum man ihn erschlagen hat. Er war Bolschewist. Gut, aber deshalb darf man ihn doch nicht töten? Feige, aus dem Hinterhalt? Vier gegen Einen?
Die Offiziere in der „Goldenen Kugel" haben gesagt, Deutschland könne nicht untergehen, solange es solche Männer hat.
Mir sitzt vor lauter Hilflosigkeit und Erstaunen ein Weinen in der Kehle...
In der Schule kommen mir Döring und Scheele schon auf dem Korridor entgegen.
„Hast Du schon gelesen?"
Ich nicke müde.
„Das muss einer verpfiffen haben," sagt Scheele aufgeregt, und Döring will bestimmt wissen, dass es Siegmann, der Friseur, gewesen ist.
„Na ja, ein Friseur," sagt Scheele wegwerfend, als ob damit alles gesagt wäre.
„Man müsste das Aas totschlagen," knurrt Döring.
Ich will sagen: „Mord ist Mord", aber das kann wohl nicht stimmen. Döring und Scheele
finden es doch durchaus in der Ordnung, dass man Meseberg totgeschlagen hat. Also muss es wohl an mir liegen, wenn ich es nicht verstehe.
Sagen kann ich noch nichts, aber ich nicke stumm mit dem Kopf und schäme mich schon wieder.
Von den Mitschülern werden wir vier Freikorpsleute mit heimlicher Bewunderung betrachtet. Sie waren meist bei der Einwohnerwehr. Da trug man keine Uniformen. Da ist auch kein Mord passiert.
Wir vier begegnen ihnen mit stolzem, entschlossenem Ernst.

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