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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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REVOLUTIONSSOLDATEN

Wie ich am nächsten Morgen zur Schule gehen will, treffe ich Döring. Er ist ganz aufgeregt: „Ich will nur noch zur Penne, um mich auf vier Wochen abzumelden. Ich gehe zum Freikorps."
Ich beneide ihn glühend: „Wirst du denn auch angenommen?" frage ich zweifelnd.
Döring lacht verächtlich: „Ein Kompanieführer ist ein Bundesbruder von mir aus dem Wandervogel. Willst du nicht auch mit?"
Ich werde ganz rot vor Erregung: „Meinst du, dass das geht?"
„Selbstverständlich, ich werde das schon machen."
In der Schule geht dann alles viel leichter, als wir es uns gedacht haben. Wir melden uns bei Professor Sorge. Er ist ein feiner Kerl, ein schwerfälliger Mensch, der zudem noch stark schwerhörig ist. Aber trotzdem machen wir in seinen Stunden keine Dummheiten, wir haben ihn gern, und er imponiert uns. Viel-
leicht deswegen, weil er im Feld Bataillonskommandeur war und den Hohenzollern hat, vielleicht auch nur deshalb, weil er jetzt schwer krank sein soll.
Er versteht nicht recht, was wir von ihm wollen. Dann starrt er eine Weile vor sich hin und sieht uns so merkwürdig an, dass uns etwas unbehaglich wird. Er zuckt seufzend die Achseln und wendet sich ab.
„Sprechen Sie mit dem Direktor!" brüllt er uns dann plötzlich an.
Der empfängt uns liebevoll, sieht uns mit seinem militärischsten Blick prüfend und ernst an, legt mir schwer die Hand auf die Schulter und kräht schneidig: „Machen Sie meiner Anstalt Ehre!"
Wir verbeugen uns höflich und gehen. Wir sind fünf Mann, die ins Freikorps eintreten wollen. Auch ein Jude ist dabei. Er hat rote Haare und schwarze Fingernägel und heißt Waldmann. Döring ist ganz erregt: „Das geht natürlich nicht. Juden können sie da nicht gebrauchen." Aber wir wissen nicht, wie wir Waldmann loswerden sollen.
Die Kompanie, bei der wir uns melden wollen, liegt draußen in einer Brotfabrik in der Nähe der Artilleriekaserne. Der Posten vorm Tor lässt uns passieren. Döring geht vor und kommt nach einer Weile wieder. „Leutnant Roth heißt er!" flüstert er wichtig. Und wir stehen bald darauf in einem kahlen Zimmer vor einem schlanken jungen Mann. Ein schmales energisches Gesicht. Er trägt keine Achselstücke.
Er wendet sich zuerst an Waldmann: „Sie wollen bei uns eintreten?"
Waldmann bejaht schüchtern.
„Sind Sie ausgebildet?"
Waldmann lächelt verlegen und wendet sich zu uns, aber wir können ihm auch nicht helfen. Also sagt Waldmann leise „Nein".
„Dann können wir Sie hier nicht brauchen," sagt Leutnant Roth kühl. „Da müssen Sie sich bei der Einwohnerwehr melden."
Waldmann dreht sich linkisch um und verschwindet. Wir anderen werden angenommen.
„Holen Sie sich Ihre Zahnbürsten von zu Hause und kommen Sie am Nachmittag wieder her."
Wir bekommen einen Ausweis, dass wir Angehörige des Freikorps Halle sind. Draußen auf der Straße schlagen wir uns gegenseitig auf die Schulter vor Freude und rennen den
langen Weg nach Hause, denn die Straßenbahnen fahren noch nicht wieder.
Zu Hause nimmt man meine Mitteilung mit gemischten Gefühlen auf. Mein Onkel, bei dem ich in Pension bin, fühlt sich eigentlich meinen Eltern gegenüber verantwortlich, aber er kann mich ja so gut verstehen. Er stellt mir sogar seine Reitstiefel zur Verfügung, die er im Felde als Divisionspfarrer getragen hat. Schon früh am Nachmittag bin ich wieder in der Fabrik.
Ich bekomme einen Stahlhelm, Uniform, Karabiner, Patronen, Handgranaten und ziehe mich langsam um. Ich weiß mit dem Karabiner nicht Bescheid und fingere verlegen am Schloss herum. Ein Kamerad beobachtet mich und zeigt mir gutmütig die nötigen Handgriffe. Zur Probe lade und sichere ich. Es gelingt mir auch, das Schloss auseinander zu nehmen, und ich fühle mich nun als kompletter Soldat. Von zehn bis zwölf soll ich sogar schon Posten stehen vorm Fabriktor.
Wir liegen auf Strohsäcken in einem Speicher über den Kontorräumen der Fabrik. Es ist furchtbar heiß, denn nebenan sind die Backöfen. Alles ist weiß von Mehlstaub, und überall stehen und liegen Waffen herum. Mein Strohsack liegt dicht neben einer Kiste mit Stielhandgranaten. Diese Nachbarschaft ist mir unheimlich, aber ich bezwinge meine Furcht, da ich sehe, wie sachlich und unbekümmert hier jeder mit den Waffen umgeht.
Mir gegenüber spielt ein junger Mensch in der Uniform eines Fähnrichs zur See mit einer riesigen Artilleriepistole. Er beugt seinen Kopf tief über die Waffe, die er anscheinend sehr interessant findet. Plötzlich geht der Schuss los. Die Kugel schlägt dicht heben der Handgranatenkiste in einen Mehlsack. Einige schimpfen, die meisten lachen. Ich bin blass vor Schreck geworden, schäme mich darüber und lache daher um so lauter mit.
Es ist ein ewiges Kommen und Gehen. Viele von den Leuten kenne ich von früher her, bevor sie eingezogen wurden oder als Fahnenjunker eingetreten sind. Es sind junge Kaufleute, Studenten, Schüler, die in einem Kriegsteilnehmerkursus das Abiturium erreichen wollen. Nur ganz vereinzelt ist ein älterer Mensch dazwischen. Meist ein ehemaliger aktiver Unteroffizier, der sich noch nicht an das bürgerliche Leben gewöhnen kann.
Offiziere werden in unserer Kompanie aus irgendwelchen Gründen nicht eingestellt. Die gehen alle zur ersten. Dort ist es, wie man Hinsagt, furchtbar fein. Die Leute nennen sich alle „Herr Kam'rad" und „Sie", und wer nicht mindestens das E. K. I hat, wird nicht für voll angesehen. Bei uns ist es viel gemütlicher.
Und schon aus den ersten Gesprächen erfahre ich zu meinem nicht geringen Stolz, dass unsere — die zweite — Kompanie sich als eine Herde entschlossener und verwegener Kämpen eines sehr guten Rufes erfreut.
Bei uns wird auch viel getrunken: zum Abendbrot bekommen wir außer einem halben Pfund Butter, das bis morgen reichen muss, und einem Pfund Wurstkonserven pro Mann einen viertel Liter Schnaps, der wie Feuer die Kehle hinunterläuft. Ich kann ihn nicht trinken und verschenke meinen Anteil.
Brot liegt überall herum. Aber wir essen nur ganz frisches, das wir uns immer direkt aus den Backstuben holen. Es wird nämlich sehr schnell hart in der Hitze unseres Speichers, und dann wirft man es fort. Auch Butter haben wir zuviel: mein Nebenmann schmiert aufmerksam sein Gewehrschloss damit.
Ich habe lange nicht so gut gegessen, denn zu Hause ist es immer noch knapp, und der gelbe amerikanische Speck ist ein seltener Leckerbissen.
Mit Webach zusammen, jenem jungen Menschen, der mir vorhin so liebenswürdig die Geheimnisse des Gewehrschlosses erklärt hat, beziehe ich den Posten vor dem Tor. Es ist totenstill auf der Straße. Nur dann und wann gellt in der Ferne ein Schuss. Weiße und grüne Leuchtraketen steigen und fallen. Die Straßen sind von acht Uhr an für Zivilpersonen gesperrt, und wir haben darauf zu achten, dass kein Unbefugter dieses Verbot überschreitet.
Es ist sehr langweilig, so sinnlos vor dem Tor zu stehen. Auch das beseligende Gefühl, eine richtige Uniform anzuhaben, kann darüber nicht weghelfen. Es sieht mich ja doch kein Mensch. Webach gähnt und legt sich im Torweg schlafen. Ich soll ihn wecken, wenn etwas passiert.
Ich fühle süß die Verantwortung für die Kameraden, die jetzt auf dem Speicher schlafen, und meine Hände krampfen sich um den Schaft des Karabiners.
Eine halbe Stunde vergeht, Abteilungen, die
zu irgendwelchen Unternehmungen in die Stadt marschieren, kommen vorbei. Ich beneide sie glühend. Sie dürfen etwas erleben, dürfen vielleicht sogar schießen! Aber ich gehöre doch zu ihnen, ich rufe ihnen mit möglichst tiefer Stimme „Viel Vergnügen" zu, wenn sie vorbeigehen, und mir wird freundlich geantwortet.
Die Zeit vergeht sehr langsam. Webach kann nicht schlafen, und wir unterhalten uns. Ich frage schüchtern nach dem Kompanieführer.
„Eine dolle Nummer," sagt Webach anerkennend, „er heißt eigentlich gar nicht Roth, sondern irgendwie anders. Studiert hier Jura. Aber er hat von Noske die Erlaubnis bekommen, sich Roth nennen zu dürfen, weil er damals Ferchland verhaftet hat."
Noske, — das ist für mich ein ferner Begriff, ein mächtiger Mann, der den Soldaten machen lässt, was er will, und wozu er gerade Lust hat. Noske ist ein feiner Kerl, wenn er auch nur einfacher Arbeiter gewesen ist. „Ein tüchtiger Mann," sagt Webach. Dann sprechen wir weiter über Roth.
Ich weiß nicht so genau Bescheid, aber ich hüte mich, etwas davon zu sagen. Ich weiß nur soviel, dass Ferchland in Halle Vorsitzender des
Arbeiter- und Soldatenrats gewesen ist, und in Webachs Erzählungen sieht er wie ein wahrer Satan aus. Das Tollste ist, dass er in der Uniform eines Felddivisionspfarrers nach Berlin gefahren ist, als man ihn hier verhaften wollte. Aber Roth hat ihn doch erkannt, und darum darf er sich jetzt Roth nennen. Mir ist das nicht recht klar, aber es muss wohl stimmen.
Während wir uns noch so unterhalten, geht plötzlich ein Höllenlärm los. Ich habe solch entsetzliches Krachen noch nie gehört. Ein Knattern und Prasseln, dass das Pflaster dröhnt. Es kommt aus der Richtung der Artilleriekaserne. Webach stürzt in den Torweg und schreit „Alarm!"
Nach wenigen Sekunden steht die Kompanie im Hof. Immer noch dieser wahnsinnige Lärm, der immer mehr anschwillt. Aus allen Richtungen krachen jetzt Schüsse. Die Kompanie rast im Laufschritt an uns vorbei. Wir hören die Nagelstiefel noch eine Weile klappern, dann sind unsere Leute im Dunkel verschwunden.
Plötzlich verstummt das Schießen und Krachen, aber irgendwo kommt immer wieder ein hastiges Gewehrfeuer auf. Webach und ich lauschen schweigend am Fabriktor. Es muss wohl ein Angriff auf die Kaserne gewesen sein.
Nach einer halben Stunde kommt die Kompanie zurück, und wir erfahren, was geschehen ist: morgen sollen zwanzig Unteroffiziere des Artillerieregiments, die seit der Revolution tatenlos in der Kaserne herumsitzen, entlassen werden. Sie haben eine große Abschiedsfeier veranstaltet, und als alle mehr oder weniger betrunken waren, fingen sie an, Dutzende von Handgranaten unter Gejohl und Gelächter auf den Kasernenhof zu werfen. Wir halten das für einen sehr guten Witz und freuen uns schon darauf, dass morgen oder übermorgen im Generalanzeiger etwas von einem wilden Handgranatenkampf in der Nähe der Artilleriekaserne zu lesen sein wird...
Ich kann in dieser ersten Nacht nicht schlafen. Fortwährend schnallen sich Leute die Koppel um, stoßen an polternd umfallende Karabiner und gehen fort. Andere kommen wieder. Die Zurückbleibenden lärmen und lachen. Einige sind auch betrunken. Es werden Zoten von so ekelhafter Gemeinheit gerissen, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten möchte. Und ich bin doch Mann und Soldat und kann etwas vertragen!
Die Betrunkenen fangen an zu singen. Das
Lied vom kleinen Schornsteinfeger, dessen Refrain johlend mitgesungen wird. Dann den kleinen Kesselflicker. Sie kommen mit den Strophen durcheinander, werden von schweinischen Zurufen unterbrochen, schimpfen, fangen wieder von vorne an...
Endlich sinke ich in einen unruhigen Halbschlummer, aus dem mich schon nach kurzer Zeit das stampfende Dröhnen der Knetmaschinen aufweckt, die nebenan in Gang gebracht werden.
Wir trinken Kaffee, und dann gibt es so eine Art Appell, zu dem viele verspätet oder überhaupt nicht antreten. Der Unteroffizier, der die Kompaniegeschäfte besorgt, liest langweilige Sachen vor, auf die niemand hört. Dann wird die Parole ausgegeben, die für den Tag und die kommende Nacht gelten soll. Der Unteroffizier liest geschäftsmäßig:
„Parole Noske — Antwort Scheißkerl!"
Die Kompanie wiehert vor Entzücken, und ich geniere mich, weil ich bisher eine Paroleausgabe für eine ernste und feierliche Sache gehalten habe.

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