Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
http://nemesis.marxists.org

Achtes Kapitel

In Paris, in einem der kleinen Cafes an der Rue Seveste, saß Sukoff, die Arme um das Marmortischchen geschlungen, als ob ihn jemand von hier wegreißen wollte, mit halboffenem Mund, die Nasenlöcher, wie bei Kindern, vor Entzücken gebläht. Erstaunen und Freude lag auf seinem jungen, schönen olivenbraunen Gesicht. Die drei aufgeregten Straßen, die gerade vor seinem Tisch ineinander mündeten und, sobald es dunkel wurde, vor Licht schäumten, die weiße Kuppel von Sacré-Coeur über den Dächern, wie hingeblasen, gefielen Sukoff nach dreiviertel Jahr noch so gut wie das erste Mal. Er war mit einem Freund von Marseille aus zu Fuß durch ganz Frankreich gekommen. Er hatte den Genossen Petrow aufgesucht, der hatte sich gefreut, ihn wieder zu sehen und ihn hier in diesem Cafe bewirtet.
Sukoff saß von da ab jeden Tag hier, wartete. Er hatte versucht, Arbeit zu finden. Aber er hatte keine Papiere und wurde überall bald hinausgeworfen. Einmal ließ man ihn für die „l'Humanite" eine Beschreibung seiner Flucht und der letzten Ereignisse in Philippopel verfassen, die er in der dortigen Jugendgruppe miterlebt hatte. Auf diese und ähnliche Art verdiente er zuweilen ein paar Francs. Manchmal kamen Freunde von der Straße herein, er setzte sich zu ihnen an den Tisch, bekam einen Kaffee gezahlt oder einen Kognak oder ein Abendessen. . Sukoff betrachtete lächelnd die grünen und roten Lichtflocken auf seinem Tisch, auf seinen Händen. Die weiße Kuppel dort oben verblasste im Dunst, um später desto deutlicher gegen den Nachthimmel hervorzutreten. Auf sechs Uhr war die Demonstration angesetzt, und Sukoff, der bei so etwas nie zu fehlen pflegte und die Zeit inwendig hatte, bekam einen Ruck. Er stand seufzend auf und überquerte ein wenig schwindlig die Straße. Der Kellner hielt ihn nicht zurück, weil er wusste, dass immer irgendwie für Sukoff gezahlt wurde.
Auf dem Place Ste-Genevieve pflegte sich Sukoff mit seinen Landsleuten bei dem kleinen Rondell zu treffen. Er erblickte von weitem Petrow, versuchte, ihm auszuweichen. Petrow hatte ihn zuallererst herzlich empfangen, wurde aber die letzte Zeit immer schroffer und abweisender. Dann drehte Sukoff sich doch noch einmal um, weil ihm etwas an dem Mann, der mit Petrow redete, aufgefallen war. Gleichzeitig machte der Mann eine Bewegung auf ihn zu. Sukoff blieb jäh stehen, bestürzt, dann raffte er sich auf, ging langsam auf den andern zu und streckte seine Hand hin. Währenddessen hatte Petrow gesagt: „Lass dich nicht mit ihm ein, Dudoff, sei vorsichtig, er ist ganz heruntergekommen." Dudoff nahm dem Jungen die Hand, nahm beide Hände. Er sah ihn zögernd an, wie man jemand auf der Straße zu erkennen glaubt - beim Schärfersehen verschwimmt sein Gesicht, wird fremd. Sukoff stieg die Erregung bis zum Hals, doch er sagte nur: „Bist du das?" Dudoff sagte lächelnd: „Ja, das bin ich." Sukoff riss sich schnell los und ging mit gesenktem Kopf über den Platz. Die abendliche Stadt, das Licht über den Plätzen, alles war auf einmal wie verdunkelt von Trauer. Er erriet, was Petrow zu Dudoff gesagt hatte, er erriet, was Dudoffs Blick bedeutete, was diese beiden jetzt über ihn redeten. „Er war doch zuverlässig, auf ihn war Verlass, er hat gut gearbeitet, wieso ist er so schnell zugrunde gegangen?"
„Wir haben alles mögliche mit ihm versucht, er verschlampt, er hat keinen Boden mehr unter den Füßen, er kommt nicht mehr hoch." Und während das Licht der Straßen über Sukoff zusammenschlug, murmelte er: „Was soll ich nur hier anfangen?" Einige Stunden später saß Sukoff in seinem kleinen Cafe in der Rue Seveste. Es war neun Uhr abends. Vom Boulevard des Italiens her rauschte es, als sei dort die Küste, Brandung. Sogar die Telefondrähte zwischen den Dächern schienen aus gezogenem Silber. Sukoff umschlang wie gewöhnlich den Tisch mit seinen beiden Armen. Eine Gesellschaft von Männern und Frauen rief ihn zu sich, Journalisten, die ihm schon öfters geholfen hatten. Sukoff saß und trank in seinen vor Hunger ausgelaugten Magen, was gerade da war, Schnaps, Syphon und die Brioches aus der Schale. Die Frauen betrachteten sein junges Gesicht, und er erwiderte ungeschickt ihre Blicke. „Ce jeune camarade a joué un rôle héroique, vous savez, pendant les massacres de Philippopel." Nach einer Stunde standen alle auf und fuhren irgendwohin. Sukoff setzte sich an seinen alten Platz. Er legte entschlossen sein Gesicht auf den Tisch. Draußen, vom Boulevard des Italiens her, fegten krächzend die letzten Zeitungsverkäufer mit den Morgenzeitungen. Sukoff richtete sich auf. Er schrie den Kellner an, als sei es dessen Pflicht gewesen, rechtzeitig etwas zu bringen, bevor die Trauer seine Kehle erstickte. Beim ersten Glas verstand Sukoff plötzlich, dass es sinnlos war, zu warten, sondern etwas ganz anderes von ihm verlangt wurde. Beim zweiten Glas erfaßte ihn eine rasende Wut, dass man ihn nicht totgeschlagen hatte in Philippopel, sondern dass er hierhergeraten war, in diese hundsgemeine, niederträchtige Stadt. Beim dritten Glas fluchte er laut, dass die Vorübergehenden lachten über dieses verrückte Gefluche in einer fremden Sprache. Zwei Russen mit Georgskreuzen in verblichenen Paletots blieben stehen und betrachteten ihn mitleidig: „Das macht aus dem Menschen das Heimweh." Dann fasste Sukoff die Flasche am Hals und soff sie ganz leer. Jetzt kamen solche Flüche aus ihm heraus, von denen er selbst nicht gewusst hatte, dass sie in ihm drin waren, wilde, vertrackte Flüche, die er zum letzten Mal als kleiner Knabe auf der Hochzeit seines Onkels gehört hatte, als zuletzt alle übereinander herfielen und die Braut mit zerfetztem, besudeltem Kleid heulend auf die Straße lief.
„Jetzt hast du gesehen, wie so etwas bei uns aussieht", sagte Petrow nach dieser Demonstration zu Dudoff in seinem Hotelzimmer. Dudoff stand mit dem Rücken zum Zimmer. Das Licht der Stadt schlug hier oben gegen den unruhigen, schwefelgelben Himmel und strömte zurück auf die glänzenden, von zahllosen Schornsteinen berittenen Dächer. Dudoff war zu Tode erschöpft. Gerade in diesem Augenblick spürte er deutlich, dass seine Kraft zu Ende ging, und dass er nutzlos für die Partei wurde. Eine Weile, unter einem furchtbaren, unerträglichen Druck, bleiben seine Gedanken stehen. Dann erinnerte er sich an ähnliche Augenblicke - sie waren immer vorbeigegangen, wenn man ihm eine Aufgabe zugewiesen hatte. Er hatte dann von neuem soviel Kraft gehabt, wie er brauchte. Aber hier, an diesem Ort, wo er nichts und niemand kannte, wo er die Sprache nicht verstand, keine Möglichkeit war, ohne weiteres Kraft aus der Bewegung zu ziehen - so schwer war es noch nie gewesen. Petrow saß am Tisch und wartete, dass Dudoff von selbst sprechen sollte. Seiner Gewohnheit nach, die Zeit gut auszunutzen, machte er sich Notizen auf einen Zettel. Doch waren diese Notizen Stichworte zu einer Aussprache, die er sofort mit Dudoff herbeiführen wollte. „Wie sie brüllt", sagte Dudoff und drehte sich von der Stadt weg. Petrow sagte: „Ich möchte mit dir unser Gespräch von gestern fortsetzen. Wir wollen mit vollkommener, kameradschaftlicher Offenheit miteinander reden.
Aus verschiedenen deiner Äußerungen -
Aus deiner gestrigen Stellungnahme -
Du bist allzulange getrennt gewesen, die vielen Jahre Haft, du wirst es nötig haben, dich einzuleben, du bist noch krank -Was deine Funktion anbelangt - es scheint uns richtiger, jetzt einen anderen zu schicken. Geh du ein Jahr nach drüben, lerne, sieh dich in Russland um, mach dich ganz gesund."
Petrow setzte ab. Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber dann auch ganz. Auch Dudoff schwieg. Beide betrachteten einander aufmerksam, als sähen sie sich zum ersten Mal. Schließlich sagte Dudoff: „Gut." Petrow wartete, dass er noch etwas hinzusetzte, dann fragte er noch einmal: „Was sagst du?" Dudoff lächelte und sagte: „Ich sage: gut." Petrow, der gefürchtet hatte, Dudoff könnte Schwierigkeiten irgendwelcher Art machen, seufzte erleichtert. Nach einer Weile fügte Dudoff hinzu, gleichsam Petrows Gedanken statt seiner eigenen unterstreichend: „Diese Arbeit, die ich zuletzt vor meiner Verhaftung im Prutkagebiet machte, das war die mir angemessene Arbeit, hat gerade meine Kraft ausgefüllt." Sein Gesicht war krank und nachdenklich. Er verabschiedete sich, aber in der Tür blieb er noch einmal stehen: „Ich bin ganz ungewohnt, allein zu schlafen." - „Nun, dann bleib doch hier", sagte der andre erfreut.
Er betrachtete Dudoffs Rücken, er war so abgemagert, dass die Rippen wie die silbrigen Adern eines Blattes herausstanden. Und über diesen Rücken zerstreut, zählte Petrow sechs tiefe Narben. „Wie sie dich zugerichtet haben!" Dudoff sagte: „Das ist nicht von diesmal, sondern noch vom vorletztenmal. Du hättest erst sehen sollen, wie sie mich von vorn zugerichtet haben. Niemand hat mich mehr erkannt. Ich habe nicht geglaubt, dass ich jemals wieder ein Gesicht bekomme, und doch ist ganz genau mein altes Gesicht darübergewachsen, mein altes Gesicht."


II
Pali hatte keine Arbeit mehr, er ging wieder nach Paris. Er fragte sich durch nach der kleinen italienischen Kneipe - keinen Sou in der Tasche. Trotz des Herbstes waren die Boulevard-Cafés überfüllt. Es musste großartig sein, dort zu sitzen und die gierige, auf die Nacht verrückte Stadt an sich vorüberschnauben zu lassen. Aber die Rue Demours war viel weiter weg, als sich Pali erinnert hatte. Der abendliche Boulevard mit seinem wie geschliffenes Eis glänzenden Asphalt zog sich endlos wie irgendeine Landstraße. Pali überquerte einen Platz von unermesslicher Helligkeit, er taumelte ganz benommen in all dem Licht herum -mit diesem Licht hätte man alle Nächte in seinem kleinen finsteren Enzeres anzünden können. Hinter dem Platz wurde der Boulevard noch breiter, noch glänzender. Seinen sehmüden Augen schmolz all das Licht links und rechts in zwei lange Schweife zusammen.
In der Rue Demours war es dunkel. Zwischen den beiden einzigen Laternen pendelte ein Polizist hin und her. In der kleinen Vitrine brannte ein winziges Glühbirnchen. Der Wirt hatte einfach einen Sack Melonen ins Schaufenster geschüttet. Pali war froh, als er eintrat. Der Wirt, der zwischen seinen Gästen saß, erkannte Pali und rief: „Guten Abend, Kleiner, da bist du ja wieder!" Alle, auch die ihn nicht kannten, begrüßten Pali und rückten auseinander. Sie fingen gleich heiß zu reden an, noch immer war um Palis friedliches, rundliches Gesicht ein Gebrodel und Gestreite, er kannte es nicht anders. Es dauerte bis zum frühen Morgen. Er legte den Kopf auf den Tisch, so brauchte er für die Nacht nichts zu zahlen. Einer sagte: „Wir demonstrieren heute vor der Mairie. Jetzt gehe ich mich aufstellen am Place des Ternes. Machst du mit, Kleiner?"
Sie waren nicht allzu viele. Sie spannten ihre Transparente und brachen ein in die Avenue des Ternes. Pali sah sich um, einen Augenblick glaubte er flüchtig, Bordonis Gesicht zu sehen. Pali hatte an diesen Bordoni, wie er vor zwei Jahren gewesen war, nicht mehr gedacht, er war aus seinem Gedächtnis herausgefallen. Auch jetzt vergaß er ihn. Der Zugang zur Mairie war gesperrt. Die Polizisten schrieen und fuchtelten. Sie bogen ab und schwenkten durch die Avenue Mac Mahon. Auf einmal sah Pali Bordonis Gesicht dicht vor sich, dann war es wieder weg. Aus der Rue de l'Etoile stürzten die Polizisten auf sie zu und knüppelten. Viele blieben überrascht stehen, manche stürzten voran, manche gegen die Häuser. Plötzlich hatte Pali Bordoni wieder vor sich. Sie stürzten alle zusammen gegen die hintere feste Polizeikette -Pali sah gerade, wie Bordoni den Oberkörper wütend herumwarf und mit der Schulter schräg vordrängte. Da sah Pali an Bordonis Schultern, dass es mit Bordoni in diesem Jahr gut gegangen war. Er sagte: „Bordoni." Bordoni sah ihn schnell an und sagte: „Rue Ste-Catherine, heute abend, ja?" Pali sagte nichts mehr, beide liefen, einem kleinen Haufen gelang es, die Postenkette durchzustoßen und vor der Mairie seine Parolen zu rufen.
Am Abend, als Pali die Rue Ste-Catherine gefunden hatte, stand Bordoni an der Ecke wie in früheren Tagen und wartete. Als Pali auftauchte, zuckte er zusammen, und sein Gesicht glänzte vor Freude. Unterwegs erzählte er: „Aus der alten Wohnung, als bei uns zweimal Polizei war, hat uns der Wirt herausgeworfen, wir wohnen jetzt hier." Sie kamen durch einen Hof, in dem es nach Terpentin stank. Bordoni machte eine Tür auf, gleich kicherte es aus der Ecke, Giulia, die Pali sofort erkannt hatte. Der Junge war noch dunkler und schweigsamer geworden. Er sah jetzt seinem Vater sehr ähnlich, oder vielmehr, der Vater sah dem Knaben ähnlich, viel dunkler, viel straffer. In drei Ecken waren Betten hergerichtet; in der vierten lief eine Bank um einen Tisch herum; um einen Schusterhocker am Kellerfenster türmten sich Schuhwerk und Lederzeug und quollen über in die schmalen Gänge zwischen den Brettern. Ein paar Kinder krochen darin und spielten. Bordoni sagte, ein anständiger Mensch sei der Patron und halte zu ihm. Frau Bordoni kam hereingelaufen; wie sie Pali erblickte, zog sie langsam, mit erstarrtem Gesicht, die Tür hinter sich zu. Pali streckte die Hand hin, aber sie sah es gar nicht vor lauter In-sein-Gesicht-Starren. Jetzt, da Bordoni ein andrer war, belustigte ihn die Frau nicht mehr, sondern ärgerte ihn. Sie aßen viele um einen Tisch. Die Bordonis, die Familie des Patrons, ein Schlafbursche. Die Männer vertrugen sich und redeten offen voreinander. Pali fragte: „Hast du Arbeit?" - „Gelegenheitsarbeit. Die Konzession hat man mir längst genommen. Und dann ist meine Frau vom Hotel herausgeflogen, der Patronin vom Hotel haben sie auch alles gequatscht." Jetzt wurde Frau Bordoni wild: „Gelegenheitsarbeit. Wann hast du denn zum letzten Mal gearbeitet? Das ist wohl deine Gelegenheitsarbeit, Flugblätter für die andern herumtragen, deine Sohlen ablaufen bei den Demonstrationen wie heute abend. Das nennst du wohl Gelegenheitsarbeit." Bordoni erwiderte nichts, kraulte die Kleine mit den Fingerspitzen. Seinem Gesicht war anzumerken, dass er etwas anderes mehr liebte als seine Angehörigen, auch unter den Menschen liebte er Pali mehr als diese. Da geriet die Frau ganz außer sich: „Gelegenheitsarbeit, das nennst du auch Gelegenheitsarbeit, von dreißig Nächten im Monat eine daheim schlafen und mich dann dick machen, das ist wohl auch Gelegenheitsarbeit." Sie stürzte in den Hof hinaus und wieder herein, ein paar Mal hintereinander. Die Frau des Patrons winkte mit der Hand und tröstete: „Ah pah!" Die Männer lachten. Pali sagte: „Ihr habt ja auch wirklich genug Kinder." Bordoni zuckte die Achseln: „Sie braucht es ja nicht, das passiert doch mal." Frau Bordoni kehrte zurück. Jetzt dauerte sie Pali doch. Das Geschrei der Kinder, das Geschimpf der Patronin, das Klappern der Teller war immerfort um ihren geplagten Körper herum, wie ein stechender, prickelnder Mückenschwarm. Bordoni sagte: „Und du, hast du Arbeit?" -„Nein, Schluss in Enzeres, ich bin hier, um zu suchen." Bordoni sagte: „Dann bleib mal einstweilen bei uns. Die Patronin kann es zwar nicht leiden, wenn jemand Fremdes bei uns mitschläft, aber vielleicht gibt sie nicht viel acht."
Pali sagte: „Gut, aber die Frau."
Bordoni zuckte die Achseln.
Die Familie des Patrons und der Schlafbursche fingen an, miteinander „Schwarzer Kater" zu spielen. Frau Bordoni war auf einmal ganz still, sie gehorchte mit gesenktem Kopf den Befehlen der Wirtin, die über das Kartenspiel weg rief: „Tun Sie dies, tun Sie das!"
Ihr Mann und Pali sahen ihr mit gedankenloser Verwunderung zu. Sie war einmal eine hübsche Person gewesen, jetzt hing ihr Kinn, ihre Brust, ihr Leib herunter, als seien die Fäden gerissen, die das alles zusammenhielten.
Auf einmal fing Bordoni von etwas anderem an. „Du hättest im August hier sein müssen. Das war was anderes als heute morgen. Das Pflaster war aufgerissen - ich bin damals mit geschnappt worden. Aber sie haben mir nichts nachweisen können, da hättest du mit dabeisein müssen. Genützt hat es nichts, all das für sie aufgerissene Pflaster, den beiden armen Teufeln drüben in Amerika, meinen zwei Landsleuten. Die hat man doch nacheinander auf denselben elektrischen Stuhl geschnallt. Aber mir hat das damals die rechte Wut in den Bauch zurückgegeben; ich war ja vordem ein bisschen lahm geworden, ich weiß es wohl, hinter allem ein bisschen nachgehumpelt. Ich mache jetzt immer mit, verstehst du?"
Am Tisch legten sie die Karten zusammen. Der Schlafbursche fluchte lachend. Die Patronin trug die drei Sou, die sie ihm abgenommen hatte, in das Büchschen im Werkzeugkasten, worin der Schuster seine Einnahmen aufbewahrte. Dann legte sich alles schlafen. Pali erkannte die knallgelbe Decke wieder - vergriffen, geplatzt; Frau Bordoni hatte sie eines Sonntags von den Eltern mitgebracht, und die Nachbarinnen hatten sie befühlt. „Was hörst du von daheim?" - „Daheim. Ich kriege keine Postanweisungen und keine Liebesbriefe. Die fürchten sich wohl daheim, wenn sie einen Brief einwerfen mit der Aufschrift: Bordoni, Paris. Diesen Bolagnetti, den man jetzt auf eine Insel geschickt hat, lebenslänglich, den haben wir doch beide miteinander sprechen hören, du und ich, im großen weißen Saal des Gewerkschaftshauses. Erinnerst du dich?"
Pali versuchte an sein eigenes Daheim zu denken, an den zehnten Bezirk. Aber sein Herz zog sich nicht einmal mehr zusammen, als ob es diese Bewegung verlernt hätte. Er war zufrieden mit diesem Abend. Ein anständiger Genosse, eine Unterkunft, eine Decke. Frau Bordoni schimpfte nicht; vielleicht fürchtete sie sich vor der Patronin, vielleicht war sie auch froh, dass ihr Mann an diesem Abend nicht mehr ausging.


III
„Mein Sohn, wir waren sehr glücklich, von Dir zu hören, nach so langer Zeit. Für einen alten Mann ist es schwer, nicht den Namen der Stadt zu wissen, in der sein Sohn wohnt. Wenn Du heimfährst, wird es für mich alten Mann eine Freude sein. Ich werde Dir das Geld durch die Vermittlung des ehrenwerten Herrn Konsul Irving in Kanton an die Bank für ausländischen Handel und Kredit überweisen lassen. Scheue Dich also nicht, und komme schnell heim. Wir empfehlen die zweite Klasse der Orient White Star.
Wir leben seit einigen Monaten wieder auf unserem Landgut. Ich habe gewusst, dass ich vor meinem Tod hierher zurückkomme, habe es immer Deiner Mutter gesagt, der diese Zeit schwer zugesetzt hat. Bis auf die Grundsteuer ist die schwerste Zeit jetzt vorbei. Der neue Gouverneur ist ein gewisser Tsi Yi-yin. Zwar würde ich lieber einen andern auf seinem Platz sehen, doch als ich mich entschloss, ihn zu besuchen, war er ein Mann, mit dem man reden konnte. Er hat uns zugesagt, dass die ärgsten Übeltäter bestraft werden. 150 Morgen werden der Gemeinde zugesprochen, welche statt einer einmaligen Abgabe eine Pacht zahlen wird bis zum Jahre 1950. Ich habe die zerstörten und beschmutzten Häuser wiederherrichten lassen. Du wirst sie selbst nicht wieder erkennen."
„Das Geld ist schon da", sagte Liau Han-tschi. „Zu ihm fahre ich nicht, sondern dahin, wo man mich hinschickt. Diese Heimfahrt sieht anders aus, als wir geglaubt haben."
„Wann geht der Dampfer?"
„Am Siebenten, Marseille."
Fo-li und die junge Balke sahen ihn schnell an. Liau lächelte ein wenig. Das gleiche, schwache, etwas schmerzliche Lächeln flog über alle drei Gesichter. Sie hatten einander lieb gewonnen.
„Gestern habe ich Yank getroffen. Auf ihn habe ich doch gebaut wie auf dich oder mich. Ich habe ihm unsern Artikel gezeigt. Hier, schwarz auf weiß, diese Stelle lies laut:"
„Gestützt auf die Masse der Arbeiter und armen Bauern, eroberte Tschiang Kai-schek der Nationalregierung zehn Provinzen. Am entscheidenden Punkt, vor der Frage, die Revolution zu Ende zu führen oder sich gegen die Massen zu stellen, antwortete Tschiang Kai-schek mit der Erschießung von zweihundert Arbeitern in Schanghai auf offener Straße im Namen der bürgerlichen Ordnung."
„Das hat er gelesen, und was glaubst du, hat er gesagt?"
„Ja?" - Er sagte: „Ich kann aus der Entfernung solche Maßnahmen nicht beurteilen." - „Kann man das verstehen?"
„Doch, man kann. Er ist Kaufmannssohn, Student, in seinen Ursprung zurückgefallen."
„Und du und ich?"
„Wir arbeiten, uns braucht man."
„Siau, Li, alle, die vor ein paar Monaten mit uns feierten, sind in ihre Schlupfwinkel zurückgekrochen, setzen sich nicht mehr an unseren Tisch, sogar hier, dreißig Tage weit weg."
Die Eltern Balke kamen herein und setzten sich still dazu. Sie betrachteten Liau genau; sie begriffen, was diese Heimfahrt jetzt für ihn bedeutete. Die Frau stand seufzend auf und richtete Teller und Näpfe. Liau ging es, wie es ihm jetzt oft ging: Die Gesichter und Dinge, ja sogar die winzigen Reisnäpfe mit ihrem in diesem finsteren Zimmer fast durchdringenden Blau schienen sich von selbst von ihm zu entfernen, blasser zu werden.
Liau Han-tschi trat ans Fenster. Das Brummen der Spinnerei erfüllte den Hof und die anstoßenden Quartiere. Gerade, während er heruntersah, zum ersten Mal in diesem Spätsommer, wurde die Spinnerei während der Arbeitszeit von innen beleuchtet. Er betrachtete erstaunt, was er bisher nur als Schattenrisse kannte, die bleichen, alle nach einer Seite gerichteten Gesichter der Mädchen, ihre gleichmäßigen Hantierungen. Er wusste, es waren dreißig Mädchen zu einem Tarif von 43 Pfennig. Er kannte diese Straße besser als je seine eigene, die alten Balkes kannte er besser, als er je seine eigenen Eltern gekannt hatte. Aber der wohlbekannte Hof vor seinen Augen, das dunkle Pflaster, der helle Ausschnitt der Werkstatt, das erschien ihm schon nicht mehr wie die Wirklichkeit selbst, sondern wie ihre Erinnerung.
Liau Han-tschi dachte: Manchmal auf einer Reise verbringt man ein paar Nächte in einer Herberge, in der man für immer bleiben möchte. Es kostet einem mehr Mühe, sich loszureißen, als verließe man das Elternhaus. - Vielleicht steht mein Bruder jetzt gleichfalls am Fenster seines Zimmers, die gleichen Nachrichten machen sein Herz schwer, seine Gedanken bitter, zwingen ihn, sich loszureißen von einem Ort, der ihm teuer ist.
Liau Yen-kai wohnte mit seiner Frau in Moskau in einem alten, von Gärten umgebenen Haus, das früher einem Bankier gehört hatte und inzwischen in ein Internat für die Schüler der Akademie Sun Yat-sen umgewandelt war. Mit seinem von zersprungenen Spiegeln bekleideten, von Flocken abblätternder Stukkatur verschneiten Treppenhaus sah es beständig nach Umzug aus. Der große Parkettsaal enthielt Schlafkojen für über vierzig Studenten. Liau Yen-kai lebte mit seiner Frau und seinem vor einigen Wochen geborenen Kind in einem kleinen stillen Zimmer unter dem Dach. In ihren vier Wänden war all die Zeit über die Stille wie eingefangen. Ihre Genossen kamen zuweilen herauf, um sich einen Atemzug aus diesem Zimmer zu holen.
Liau Yen-kai und seine Frau sagten zueinander: „Wir haben uns lieb gehabt, wir waren lange Zeit gut miteinander. Jetzt aber finden wir, dass es Zeit ist, sich zu trennen, heimzufahren zur Arbeit und das Kind dem Staat zu lassen."
Liau Yen-kai hätte das Kind am liebsten in Abwesenheit seiner Frau fortgebracht, um ihr den Abschied zu erleichtern. Sie bestand darauf, es selbst hinzubringen. Sie war so ruhig, als gäbe es bloß zwei Steine, ihr Herz und das Kind. Aber Liau Yen-kai merkte doch, wie ihre Brauen zuckten.
„Am 3. November 1927 übergaben die Unterzeichneten ihren Sohn dem Kinderheim. Sie überlassen das Kind dem Staat zur Pflege und zur Erziehung und zur späteren Verwendung nach seinen Fähigkeiten."
Es fügte sich so, dass die Frau vor ihm abfuhr. Kurz vor seiner eigenen Heimreise fuhr er noch mal hinaus, um das Kind zu sehen. Er stand am Fenster, zwei Hände voll Kind. - Ein wenig Wärme - Abfall des berauschenden, triumphierenden Glücks, das sein Vater über die Geburt seiner Söhne gespürt hatte. Das satte, schläfrige Kind betrachtete ihn. stumpf mit glänzenden Käferaugen. Er gab es zurück. Mögen es andere nehmen. Er wird es später tun. Aber er wusste: später war nie, und andre, das waren doch ebensolche wie er.


IV
Im März trat Bató mit seiner Frau und seinem ältesten Sohn zur Jahresfeier der ungarischen Revolution in den kleinen Raum, den seine Landsleute für diesen Vormittag in einer Gastwirtschaft im Westen von Berlin gemietet hatten. Er ärgerte sich, dass sie zu spät kamen - Marie hatte das kleine Kind um keinen Preis bei der Portiersfrau lassen wollen; Bató grübelte während der Fahrt, warum Marie war wie sie war, schwach, unveränderlich, und was das für eine Kraft war in einem Menschen, den andern zu verändern, und warum ihm diese Kraft abging.
Sie kamen alle drei auf den Zehenspitzen herein und schämten sich. Alle sahen nach ihnen - aber Bató spürte sofort an ihren Blicken, dass er anders als sonst aussah. Auch die andern sahen anders aus, als das Jahr über. Aus ihren Gesichtern war weggewischt, was sich an unnützen Strichen unterwegs eingezeichnet hatte. Der kleine Gyula, erster Redakteur der „Neuen Welt", dem Bató täglich gegenübersaß, notgedrungen, mit schlecht bezwungenem Widerwillen, hatte das kalte, verzweifelte Gesicht, mit dem er am 2. August im Jahre 19 als erster die Nachricht vom Durchbruch der Front in die Sitzung gebracht hatte. Da saß Faludi, auf seinem heute merkwürdig bleichen Gesicht das Bewusstsein, das vierte Regiment in Ordnung in die Stadt zurückgeführt zu haben. Der kleine zappelige Mischka mit hochgezogenen Knien, den man immer für einen unsichern Burschen gehalten hatte, bis er beim Zusammenbruch seine kleine Funktion überraschend gut durchführte -! Aber Lischka dachte jetzt nicht einmal daran. Sein Gesicht war stolz, weil er die vorige Woche, obwohl es ihm dreckig ging, das Angebot seines alten Freundes Stricker, für „United Press" zu arbeiten, abgelehnt hatte. Die ganze Woche war er ärgerlich gewesen, weil ihm ohnedies keiner seiner Genossen etwas Besonderes zutraute, aber heute war er stolz auf seine Absage. Der kleine Ernst Papp, er ist zu Fuß durch halb Europa gelaufen und zufällig heute hier. Die lustigen Lumpen seiner Abenteuerjahre sind ihm für ein paar Stunden genommen. Er ist für alle, was er einmal war: Jugendgenosse aus dem zehnten Bezirk.
Bató sieht auf seine Frau. Sie sieht so aus, wie sie damals ausgesehen hat, als sie sich ein einziges Mal mit erstaunlicher Entschiedenheit von ihm trennte, um ihr ungeborenes Kind lebend über die Grenze zu bringen. (Dasselbe Kind, um das es heute morgen bei der Herfahrt diesen Ärger gab.) Hajnal hat das rotumwundene Pult bestiegen. Er ist kein guter Redner. Mit voller Lungenkraft versucht er, die Hände an das Pult geklammert, das Feuer der Erinnerung anzufachen. Alle hören ihn schweigend an. Er schildert die Ereignisse des letzten Jahres, die Prozesse, Rákosis Rede vor dem Standgericht. An dieser Stelle kommt plötzlich ein Schwung in seine Worte, als drehe eine energische Hand die Kurbel. Die Zuschauer sehen beklommen aus. Böhm starrt auf das Pult, denkt: Ich werde bald daheim sein. Faludi seufzt, als würge ihn ein Gedanke: Das war ich damals. Bató legt den Arm um Andris Stuhl. Er betrachtet sein Kind. Die kleine Stirn ist gerunzelt. Es quält sich. (Erinnerst du dich, Andris, wie ich dir die Faust in den Mund steckte, damit du nicht schreien solltest? Ich muss mich mehr um dich kümmern, aber ich bin ein unnützer Mensch, ich möchte dir alles erklären, aber ich verstehe nicht, mit Kindern zu sprechen.)
Die Menschen stehen schon auf. An einem Ende des kleinen Saales, vielleicht bei Faludi, beginnt die Internationale ungarisch. Aber bei der zweiten Strophe stockt es, die meisten können nur deutsch weiter. Man hört auch ein französisches „Formons-nous et demain". Der kleine Papp vielleicht, der aus Paris kommt. Aber das Lied hält ihre zögernden, ungeschickten Stimmen beisammen bis zur letzten Strophe.
Draußen auf der Straße kam Böhm hinter Bató hergerannt. „Verzeihen Sie, können wir ein paar Minuten zusammen sprechen?" - „Gewiss." Er blickte in Böhms junges, offenes Gesicht, überrascht und froh, dass der etwas von ihm wollte.
„Nichts Besonderes, eigentlich will ich mich nur verabschieden. Wir haben uns hier wenig gesehen, aber ich meine doch, ich muss mich von Ihnen besonders verabschieden.
Ich gehe fort von hier. Bin heimgeschickt, arbeiten! Das ist lange Zeit mein großer Wunsch gewesen. Jetzt ist es soweit."
Bató gab es einen Stich. Wiederum hätte er Böhm beneidet, wenn er ihm nicht zu teuer wäre. „Hast es gut." - „Gut? - Ich habe oft gedacht, dass es gut ist, jetzt herauszukommen, weil hier jetzt alles schwer und verwickelt ist, aber dann habe ich oft gedacht, das ist ein falscher Anstoß, weil hier jetzt alles schwierig ist, verstehen Sie?"
„Ja, das verstehe ich." Er wünschte sich, wie der Junge neben ihm, alle Gedanken, die er selbst so oft gedacht hatte, dass sie gleichsam abgewetzt waren, noch einmal jung zu denken, in ihrer ersten unbestechlichen Klarheit.
„Aber dann entschloss ich mich, dahin zu gehen, wo man mich am meisten braucht, und es kann kein Zweifel sein, dass man mich dort braucht."
Wo braucht man mich am meisten, dachte Bató. Braucht man mich überhaupt?
„Ich habe mich von Ihnen verabschieden müssen", sagte Böhm lächelnd, „weil ich ohne Sie gar nicht fortging. Sie waren der erste Anstoß, der allererste. Wie ich zum ersten Mal in Ihren Hörsaal hineinging, war alles rundum in Ordnung. Wie ich herausging, war da ein großer Zweifel an der Ordnung der Dinge."
Bató lachte. „Das stimmt ja nicht ganz so." Er lud Böhm ein, aber Böhm wies ab - Arbeit bis zum letzten Abend. Sie umarmten einander: „Lass dir's gut gehen."


V
Als Anka zum vierten Besuchstag ins Gefängnis fuhr, wurde ihr mitgeteilt, dass sie Janek nicht sprechen könnte. Sie wollte ein Paket Lebensmittel zurücklassen, aber das wurde ihr auch verweigert. Sie lief ganz verstört in die Stadt zurück. Sie erinnerte sich an den Namen eines Arbeiters, der mit Janek eingesperrt war, suchte und suchte, bis sie endlich diese Leute am äußersten Ende der Großstadt in ihrer kleinen Kaute fand. Die Dombrowski wusste schon Bescheid - Hungerstreik seit drei Tagen gegen das neue Reglement. Sie war eine vierzigjährige, magere, Anka in allem überlegene Frau; in dieser von fremden und eigenen Männern, von Kindern und Weibern vollen Hütte schien sie das Wort zu führen, das Dach auf ihren Schultern zu tragen. Ihre Stimme war vom Schreien rauh wie eine Männerstimme, von harter Arbeit im Schrott waren ihre Fingerspitzen abgewetzt, sie hatte fast keine Nägel mehr, aber ihre Hände waren ruhig und gut, wenn sie eines der herumtappenden Kinder aus dem Weg räumte.
Ihr Mann hatte schon mehrmals im Gefängnis gesessen. Wenigstens ein Mann aus der Familie saß meistens, manchmal saßen alle gleichzeitig. Dann schlugen sich die Frauen, zwei Schwestern, eine Alte und eine Schwägerin, auf irgendeine Weise durch. Aber auch wenn keiner saß, ging eins von Dombrowskis mal am Gefängnis vorbei und gab einen Laib Brot oder einen Sack Kohle ab „für die Politischen".
Die Kinder waren daran gewöhnt, dass Spitzel und Büttel das Unterste zuoberst kehrten, dass ihr bisschen Eigentum wie Flocken durcheinanderwirbelte.
In den letzten zwei Jahren war fast jeden Monat eins von ihnen auf die Wache gebracht, ausgefragt und geprügelt worden. Aber die Dombrowskis scherten sich nicht um diese Unglücke, sie waren der Mörtel, der ihr Leben zusammenhielt.
In den Zeiten der Streiks und Demonstrationen sickerte es glühend aus den gewundenen, rußigen Gassen der Nordvorstadt. In diesen Hütten begann man das Leben, indem man als Knabe ein rotes Fähnchen auf einen Telegrafenmast spießte und sich von einem Streik zum andern, von einem verbotenen Aufmarsch zum andern ins Zuchthaus hineinkämpfte. Die Dombrowski kannte alle Einzelheiten des Gefängnislebens, alle Reglements, alle Schliche. Sie lebte um seine Mauern herum wie Hirten um einen Berg. Jetzt antwortete sie: „Man trennt sie gewöhnlich gleich und schickt sie in Einzelzellen. Übermorgen wird man sie künstlich ernähren." Sie betrachtete Anka mit jener leisen Geringschätzung, mit der ganz ausgegerbte Frauen jüngere betrachten, an denen noch etwas rot und rund geblieben ist.
Dann sagte sie: „Deinem wird es nichts machen. Er ist ja jung und noch nicht lange drin." Einer von den Männern sagte: „Der Doktor Cink wird es machen. Der geht noch an." Jemand erzählte von einem Arzt, der die Röhre so roh eingeführt hatte, dass dem Gefangenen der Schlund gerissen war.
Die Dombrowski forderte Anka nicht auf, dazubleiben, aber sie wunderte sich auch nicht, als Anka blieb und sich in irgendeinem Winkel verkroch. Sie horchte, ihren Kummer verbeißend, auf das rauhe Lachen der Dombrowski, auf die Reden, die jeden Augenblick in Drohungen übergingen. Eine der Frauen fasste sie am Arm, mehr hart als tröstend. „Was hockst du da, setz dich zu uns." Anka gehorchte. Einen Augenblick gingen die Blicke an ihr erstaunt herauf und hinunter - das einzig Weiche und Helle in dieser Stube, sie senkte beschämt die Augen -, wandten sich gleichgültig von ihr weg.
Am nächsten Nachmittag forderte die Dombrowski Anka auf, mitzugehen. Sie liefen am Rand der Stadt, durch unbebautes Gelände, unterhalb des Bahndammes. Sie kamen an die Rückseite des Gefängnisses, durch die Umfassungsmauer getrennt, dem Bahndamm gegenüber. Die Dombrowski pflanzte sich auf der höchsten Stelle auf und brüllte dreist: „Ohoho!" Anka wartete, sie betrachtete erregt die Dombrowski, auf breiten Beinen stand sie da und schrie gegen den grauen, von unzähligen vergitterten Fenstern bedeckten Steinklotz. Was Anka fast wie ein Wunder erschien, es kam wirklich Antwort. Sie verstand nichts als den Klang einer Stimme von oben, die beinah hell war gegen die tiefe, wilde von unten. Die Dombrowski kletterte den Abhang hinunter und erklärte: „Es ist, wie ich gesagt habe. Man hat sie alle auseinandergelegt, sie machen weiter." Als sie den Damm entlanggingen, kam ihnen eine Wache entgegen. „Was hast du da gebrüllt, du Aas." Die Dombrowski machte Anka ein Zeichen, weiterzugehen. Sie trafen sich dann in der Gasse. Die Dombrowski legte ihr Tuch ab und zeigte allen daheim, wo der Soldat sie gepackt hatte - als hätte man Tinte über die Schulter geschüttet -! „Wenn er dich statt meiner gepackt hätte, Anka, wärst du in zwei Stücke zerbrochen."
Janek war schon am zweiten Tag allein gelegt worden. Am dritten Tag kam die Gefängnisverwaltung und teilte ihm mit, der Streik sei abgebrochen. Janek weigerte sich, aufzuhören, bevor er nicht von der Gefangenendelegation aufgefordert wurde. Da diese Aufforderung ausblieb, wusste Janek, dass man ihn belog und der Streik fortdauerte.
Zwei oder drei Tage vergingen. Es gelang ihm nicht, mit irgend jemand in Verbindung zu treten. Er fing an, sich zu beunruhigen; vielleicht war der Streik wirklich abgebrochen, die Verwaltung kann später sagen, sie hat ihm Mitteilung gemacht. Sie lassen ihn hier verfaulen, in einer abgelegenen Zelle. Alles in allem erschien es ihm sicher, dass der Streik fortdauerte. Er konnte nichts tun, als auf dem Boden liegen und denken. Zuerst hatte er Schmerzen gehabt, jetzt war er nur schwindlig und elend. Seine Gedanken hatten keine Kraft; kaum entstanden, zerfielen sie in einen rieseligen, flimmernden Staub von winzigen Erinnerungen. Er dachte an Anka, sie war vielleicht in diesen Tagen umsonst gekommen, an den blassen, kleinen, unfassbaren Mond in ihren Armen, Janek vergaß minutenlang, dass er vergangen war.
Aber Anka zerfiel in denselben bunten, feinkörnigen Staub, und dieser Staub vermischte sich mit dem Staub anderer Bilder und wurde etwas Neues, das ebenfalls zerfiel.
Am sechsten Tag wurde er ins Lazarett gebracht. Er erblickte gerade noch Dombrowski, der vorbeigetragen wurde, mit herunterhängenden Armen und grünüberzogenem Gesicht, als sei es mit Grünspan angelaufen. Janek dachte noch: Also doch alle. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, dann wurde sein Kopf gepackt, seine Kiefer auseinandergedrückt. Zwischen den fluchenden, schwitzenden Aufsehern hantierte der Arzt mit grauem, kläglichem Gesicht, der Doktor Cink. Mit vor Angst und Widerwillen hervorquellenden Augen, aber immerhin vorsichtig, führte er die Röhre ein. Warum tue ich das? dachte er, aber schon ein Hundertstel weniger verzweifelt als bei Dombrowski, den man soeben an Janek vorbeigetragen hatte.
In einer Ecke seiner armseligen, nach Karbol und Zwiebel riechenden Wohnung wartete Anka. Der Doktor Cink versuchte, sie gleichzeitig zu trösten und loszuwerden. Er konnte sich auch nicht erinnern, welcher von den zehn oder fünfzehn Männern Janek gewesen war.
Die zweite Woche begann. Sie wurden täglich zur Ernährung ins Lazarett gebracht. Janek bekam Anweisung, weiterzuhungern. Dann bekam er Nachricht, dass Dombrowski schwer erkrankt sei. Janek selbst ging es auch schlecht, aber sein zäher, junger Körper hatte immer alles Schlechte überdauert. Janek konnte sich gar nicht vorstellen, dass er etwas nicht überdauerte. Am zwölften Tag bekam er Nachricht, dass Dombrowski gestorben sei. Der Schmerz machte Janek eine Zeitlang ganz klar, ganz frisch. In all den vielen Monaten hatte sich Dombrowskis dunkles, breites Gesicht nie verändert. Er war so vertraut gewesen mit allen Leiden und Schlägen, tief verwurzelt. Was hatten sie mit Dombrowski gemacht? Eine Glasröhre in den heißen, mutigen, wissensdurstigen Dombrowski, rohes Zeug hineingestopft, dass die Röhre geplatzt war und Dombrowski inwendig gerissen. Er dachte an Dombrowskis Frau, die er einmal flüchtig gesehen hatte, wie sie sich von dem Mann am Gitter verabschiedete, mit rauhen, verächtlich tröstenden Worten: „Es geht auch ohne dich." An diese finstere, magere Frau dachte er heißer als an die eigene junge, helle.
Er bekam Nachricht, weiterzuhungern.
Dann kam die Verwaltung in seine Zelle und teilte ihm mit, dass er sich fertigmachen müsste zum Abtransport. Es war der zwölfte Tag. Mit dem Abtransport war der Streik so gut wie verloren. Die einzelnen Gefangenen wurden nach verschiedenen Städten verlegt. Aber es kam keine Anweisung „Aufhören", und Janek hungerte weiter. Sobald er ins Freie gebracht wurde, fiel er um. Er wusste später gar nicht, wie er in die Eisenbahn gekommen war. Die Stöße zerstießen jeden Gedanken in betäubende, wirbelnde Staubwolken. Manchmal konnte er die Gestalten seiner Wächter, die dunkle, welke Ebene vor den Fenstern nicht mehr von seinen eigenen Bildern unterscheiden.
Janek kam in das entlegene Zuchthaus Posen. Der diesmalige Streik war endgültig verloren. Er hatte für die Betroffenen schwere Folgen. Sie erhielten das folgende Jahr keinen Besuch und keine Briefe.
Anka hätte gar nicht kommen können. Sie war inzwischen selbst verhaftet worden. Janek erfuhr es erst nach einem Jahr, nach seiner Entlassung. Er hatte sich auf Anka gefreut - als er jetzt nach Russland fuhr, hatte er vorher nicht einmal genau erfahren können, in welchem Gefängnis sie lebte.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur