Zweites Kapitel
Auf- und nebeneinander lagen in der Zelle die, die nicht mehr stehen konnten, ein unordentliches Grab. Luft und Tageslicht gab es nur zum Verhör oder Gericht.
Solange Kovács allein gewesen war, vom Augenblick an, als sich seine Gefährten im Feld von ihm trennten, hatte er sich im Grunde seines Herzens vor dem Tod gefürchtet und nicht an seine Rettung geglaubt. Als er ins Massengefängnis eingeliefert wurde, hörte er auf, sich zu fürchten und wurde ruhig. „Wartet ab." - „Auf was sollen wir warten?" - „Wartet ab."
Er ließ sich nicht verwirren. Er hatte schon in seinen Ohren das Geknall von Schüssen, das Dröhnen der Schritte, das Aufbrechen der Tür, die Befreiung. Mit unerbittlicher Wucht und Schnelligkeit lief es draußen weiter, es gab nur eins, was ebenso schnell und wuchtig ablief, um die Wette mit dem Draußen: sein eigenes Leben. Er wurde zum Verhör geholt. Er kam mit blutigen Ohren und eingeschlagenen Zähnen zurück und: „Wartet ab." Ein Schub Gefangener wurde abgeführt und nicht mehr zurückgebracht. Sie waren abgeurteilt und erschossen worden. Ein zweiter Schub wurde abgeführt und wieder zurückgebracht. Auf dem Boden der Zelle, nach dem Verhör, schrieen sie: „Wir wollen nicht mehr, wir können nicht mehr!" Kovács sagte: „Doch. Es kommt noch vieles."
Neue wurden eingeliefert. Der Gestank und die Dunkelheit entsetzte sie. Sie fingen zu brüllen an und schlugen gegen die Tür. Kovács kannte einen. „Was gibt es draußen?" Als der nun Kovács' Gesicht erblickte - zwar war es Kovács' altem Gesicht nur so ähnlich, wie Tote den Lebenden ähnlich sind -, wurde er klar im Kopf: „Draußen - man hat Tibor gefunden, man hat ihn in die Donau geworfen, Hände und Füße mit Draht umwickelt. In Kapósvar haben sie zwanzig Bauern aufgehängt, dann haben sie sie wieder abgeschnitten und den Frauen zurückgegeben. Dann haben sie sie den Frauen wieder weggenommen und ganz aufgehängt. Man hat, man hat -"
„Die Partei?"
„Partei, Partei - einmal hieß es, ein ganzes Heer marschiert durch das Burgenland. Sie haben sich durchgeschlagen und stehen vor der Stadt. Faludi war aus Wien gekommen, das war wohl alles - ich weiß nicht, ob er heil zurück ist -, er sagte: Wartet ab."
„Russland?"
„Russland, Russland - von allen Seiten haben sie tief hineingebissen. -
Was fragst du mich? Das sagt man im achten Bezirk, im neunten stecken sie schon die roten Fahnen auf, und nichts ist. Und Russland -"
„Gar nichts weißt du. Keine Augen hast du und keine Ohren. Unnütz bist du. Ich weiß dir mehr zu sagen als du mir."
Viele, nach ihnen Eingelieferte waren schon abgeurteilt. „Wozu hebt man uns auf? Was will man von uns? Man lässt uns liegen, lässt uns absterben." -
Kovács sagte: „Je länger, desto besser, noch kann vieles kommen."
Wochen waren vergangen, vielleicht Monate. Neue wurden eingeliefert. „Wir Jungen haben den Sommer über gearbeitet, trafen uns in den Ofener Bergen. Wir hatten etwas Ruhe, jetzt hat man frisch zugegriffen. Die sind neu wild geworden. In Italien, müsst ihr wissen, geht es hoch her. Die Bauern reißen den Gutsherren das Land weg. Die Arbeiter haben die Fabriken besetzt. In Mailand und in Bologna und in vielen Städten.
In Russland, aber das müsst ihr doch wissen, hat die Rote Armee eine große Schlacht gewonnen. Sie haben Kiew den Polen wieder abgenommen. Unaufhaltsam stürmt die Rote Reiterarmee nach Warschau."
Kovács sagte: „Hört ihr."
Er steckte die andren an. Alles war möglich. Es war eine Frage der Zeit. Sie waren eine kleine weiße Insel in einer roten Welt. Jetzt horchten sie alle auf Geräusche vor der Tür, auf Schüsse, Schritte.
Kurz danach wurde Kovács mit drei andern dem Außerordentlichen Gericht vorgeführt. Sie wurden zum Erschießen verurteilt. Nach dem Urteil wurden sie nicht mehr zurück, sondern zu viert in eine andre Zelle gebracht.
Kovács glaubte noch immer nicht, aber er ahnte, dass sein Leben schneller ablief als das, was draußen war. Er redete die ganze Nacht seinen Gefährten zu, und wenn er aufhörte, baten sie ihn, weiterzureden.
Gegen Morgen wusste Kovács auch, dass für ihn nichts mehr möglich war.
Am Mittag, vor der Kasernenmauer, redete er seine Gefährten zum letzten Mal an, mit der vollen Kraft seines Wissens und seiner Stimme. Seine Worte verbreiteten sich über den Kasernenhof, hinaus in die Stadt und über die Landesgrenze. Aufgeteilt war unter sie der schwere Tod in viele leichte Tode. Doch Kovács selbst starb langsam und qualvoll; denn er war schlecht getroffen, weil die Hände, die auf ihn schossen, gezittert haben.
II
Ein kleiner Haufen zerfetzter Menschen stand zusammengedrückt vor einem Transparent, das zwei italienische Genossen mit feierlichen und ernsthaften Gesichtern über sie hielten. Auf der Treppe des Gewerkschaftshauses stand Morani und begrüßte die Angekommenen im Namen der Eisenbahnergewerkschaft von Bologna. Es war kein Zweifel, dass das alles ihnen galt, das Transparent, die Sonne, die stürmische Begrüßung.
Droben im Gewerkschaftshaus gab es Ansprachen und Wein und Essen bis in die Nacht. Die Italiener drängten sich, ihre ungarischen Brüder zu bewirten und mit nach Hause zu nehmen.
Einer trat schon zum zehnten Mal an Pali heran: „Vergiss nicht, ich heiße Bordoni - ich hab mich zuallererst beim Hilfskomitee gemeldet, du musst mit mir gehen." - „Ja, gewiss." Pali verstand ihn nicht ganz. „Wir können auch gleich gehen, wenn du willst." Er war ein hübscher, großer Junge, rote Nelke im Knopfloch. Er starrte Pali an, verschluckte den kleinen, krummbeinigen, zerzausten Pali, auf dessen Gesicht es Schrammen gab, die vielleicht noch die Spuren von Misshandlungen waren. Pali erblickte sich selbst, förmlich festgesaugt, in Bordonis Pupillen, im ganzen Glanz seiner Augen. Er lächelte ein wenig und sagte: „Los, gehen wir."
Bordoni redete unterwegs auf ihn ein, aber Pali verstand noch nicht. Er versuchte sich den Weg zu merken, Bordoni hängte sich in ihn ein. Er schleppte ihn nochmals schnell in eine Kneipe, zeigte ihn dort seinen Freunden, forderte alle auf, nachher in sein Zimmer zu kommen. Pali verstand nichts als Blicke und Hände und lächelte. Trotz allem machte Bordoni auf Pali keinen besonders guten Eindruck. Der steckt sich gern eine rote Papiernelke an und spaziert herum - und fertig. Sie kamen eingehängt durch ein Gewirr von fröhlichen, lärmenden Gassen zu Bordonis Wohnung. Der machte die Tür auf und sagte ein wenig kleinlaut: „Da sind wir." Die Frau hinter dem Tisch, gleichfalls jung und hübsch, mit krausem Haar und klingenden Ohrringen, schnellte hoch. Sie sah bestürzt aus. Frau Bordoni hatte sich tagelang mit aller Kraft dem Wunsch ihres Mannes widersetzt, einen Flüchtling aufzunehmen. „Gib dem Komitee ein paar Hosen oder zwei Hemden. Lieber gib ihm Geld. Aber nimm keinen Fremden auf. Hier in unseren vier Wänden."
„Gewiss nehme ich -"
„Hier bei uns soll er essen und schlafen?"
„Soll er auf der Straße schlafen?"
Er versuchte alles zu erklären, aber sie weinte nur. Bordoni hatte es beinahe aufgegeben. Es waren so viele, die sich meldeten, sollten die aufnehmen. Aber die Ansprache Moranis, die Beschreibung aller Verfolgungen und Palis Anblick stimmten ihn dann wieder um. Frau Bordoni hatte nicht im Traum daran gedacht, dass er wirklich jemand mitbrachte. Sie hatten im Krieg geheiratet, ihre Eltern waren Handwerker. Nach dem Krieg wurde Bordoni Vorarbeiter in der Armaturenfabrik. Er war leicht mitzureißen, und die Stimmung der Arbeiterschaft in diesen Jahren riss ihn mit. Frau Bordoni schimpfte über seine Redensarten, über seine abendlichen Versammlungen. Aber einmal daheim, war er verliebt und weich.
Als Palis rundes, helles Gesicht hinter dem Arm ihres Mannes in ihr ordentliches Zimmer hineinplatschte, ging es ihr durch und durch. Sie spürte sofort, dieses Gesicht reißt in mein Zimmer ein Loch, das kann man nie mehr zunähen. Durch dieses Loch wird viel von außen hereinkommen.
Pali wunderte sich über die Frau. Er gab ihr ruhig die Hand und liebkoste ihr zu Gefallen die Kinder. Aber sie lächelte nur obendrauf und sah ihm allzu hart mitten ins Gesicht hinein. So und nicht anders hatte sich Frau Bordoni einen Flüchtling vorgestellt, mit Narben und mit Lumpen.
Auch Bordoni hatte sich das so vorgestellt, er schämte sich über die Frau und hasste in diesem Augenblick, bis auf Pali, alles, was im Zimmer war.
Bald kamen die Genossen aus der Kneipe, die Bordoni auf dem Heimweg eingeladen hatte. Da wusste Frau Bordoni, jetzt war es soweit, so kommt es, wenn ein Loch da ist. Die Kinder wachten auf durch das Gelärm. Sie rutschten auf den Knien der Männer herum. Pali verstand nicht viel, aber er war schlau; hörte die Namen heraus und zeigte mit seinen beiden Händen, was er von allen hielt. Pali ahnte nicht, dass es in dieser Nacht zum ersten Mal bei Bordoni voll war; er, Pali, hätte nicht begriffen, wie es anders als voll sein konnte, bei einem Proleten, in einer solchen Zeit, in einer solchen Stadt. Er glaubte, er sei in vier heiße Wände hineingeraten. Er wusste nicht, dass er die Wände erst heiß machte.
Frau Bordoni hinter dem Tisch war müde und unglücklich. Sie betrachtete heimlich Palis Gesicht, kindlich und rund und hell, zwischen den schwärzlichen Gesichtern der Männer. Die Narben in diesem Gesicht erschreckten sie wie eine ansteckende Krankheit, die in ihr Heim gekommen war, über sie und die Ihren.
III
Mitternacht war vorüber. Aber keiner von allen Menschen in Batós Zimmer in Wien in der St.-Antons-Gasse machte Anstalten, zu gehen. Bató sah gelb und hutzelig aus. Seine Backenknochen zuckten vor Ermüdung. Seine Augen sahen schnell von einem zum andern, mit beinah schmerzhafter Aufmerksamkeit.
Eugen und Hajnal hatten ihre Stühle gegeneinander gestellt und schrieen, Gesicht gegen Gesicht:
„Im jetzigen Augenblick zehntausend Mann hinstellen und ins Burgenland einziehen! Die Bauern -"
„Man sollte dich internieren, Hajnal, wahrhaftig, im jetzigen Augenblick ist es ein Unglück, dass deinesgleichen frei herumläuft."
Bató hörte gespannt zu. Sein Blick blieb an Hajnals Gesicht hängen, das vor Hass bleich und entstellt war.
„- ob die Fabrikbesetzung eine Einzelaktion ist oder ein Signal, nach einem solchen Schritt darf es kein Zurück geben.
Er muss den allgemeinen Aufstand auslösen oder einen furchtbaren Gegenschlag. Deshalb ist Turati -"
Bató stand leise auf und stellte sich hinter die Redenden, um besser zu hören. Ohne dass ihn jemand beachtete, horchte er bald da-, bald dorthin. Plötzlich wandte er sich von allen ab und trat ans Fenster. Er machte weit auf und beugte sich hinaus. Es schlug gerade zwei Uhr von Turm zu Turm in die stille feuchte Nacht, in hellen und tiefen Schlägen. Zwischen den Laternen kamen Schritte, jemand blieb unter dem Fenster stehen.
Bató drehte sich um: „Faludi." Alle hörten zu reden auf und warteten. Gleich darauf trat Faludi ein, als brächte er ein neues Zimmer mit und stülpte es den Menschen über. Das Gespräch verpuffte. Faludi war zum zweiten Mal illegal „drunten" gewesen, er war gerade zurückgekommen. Einen Augenblick lag auf den zerstrittenen Gesichtern nur Erleichterung, ihn wieder zu sehen. Faludi ging auf Hajnal los und fing zu schimpfen an. Er erblickte plötzlich Steiner: „Sind Sie auch noch da?" Steiner sah ihn kalt an und erwiderte nichts. Faludi fragte und antwortete. Auf einmal fiel sein Blick auf einen dunklen jungen Kopf, der über dem Tisch in den verschränkten Armen schlief. Faludi hob ihn hoch, stemmte ihn von sich ab - zwischen ihm und diesem Kopf lagen braune goldene Erdwellen, die Flucht, das Land, das ganze Leben herauf und herunter - und sagte: „Ich habe geglaubt, dass du tot bist."
Böhm wurde zwischen Faludis Händen wach und fiel ihm um den Hals. „Ach, dein Gesicht, Böhm, wie ich dich allein auf dem Feld stehenließ." - „Werden Sie hier bleiben?" - „Nein, das ist nichts für mich. Ich habe andere Parteiarbeit bekommen. Ich fahre in die Karpaten, ins Russinsko, vielleicht schon morgen. Soll ich dich mitnehmen?" Früher wäre Böhm mit Faludi auf den Mond gegangen, jetzt war es ihm nicht mehr wichtig, mit Faludi an einem Ort zu sein. „Ich fahre nach Deutschland." Hajnal rief dazwischen: „Wozu denn, Sie können in drei Wochen heimfahren." - „Ich kann auch aus Deutschland heimfahren." -„Fahr du nach Deutschland, Peter. Aber jetzt komm, geh mit mir, sei mein Gast, bleiben wir diese Nacht beisammen, reden wir von früher."
„Früher, was ist das, früher?"
„Früher ist alles, bis zu diesem Augenblick. Was stört dich denn? Was ist eigentlich in diesem Zimmer los, dass ihr alle zusammenhockt?"
„Hier war heute morgen eine Sitzung."
„Ich habe Licht gesehen, bin heraufgekommen. Komm, Böhm."
„Wo wollen wir hingehen? Zu dir, zu mir, ins Cafe?"
„Zu dir!"
,,Es ist ein gutes Stück zu mir, in den neunzehnten Bezirk, in die Baracke. Aber du kannst dort in meinem Zimmer allerlei Leute treffen, wenn du Lust dazu hast."
Böhm wohnte in der Baracke Nr. 43 - Militärbaracken, die man Studenten zum Wohnen überlassen hatte. Die 43. war Emigrantenbaracke. Über dem Zug flacher, niedriger Dächer wurde der Himmel heller, aber in vielen Fenstern war noch Licht
„Bei mir ist auch noch Licht", sagte Böhm. Seine Schläfen hämmerten. Seit Wochen und Monaten flossen Tage und Nächte zusammen in eine brennende Wartezeit, unsichere, flimmrige Polarnacht.
In Böhms graugetünchter Barackenbude gab es einen Tisch, ein Bett, ein paar Stühle und an der Decke eine grelle, schirmlose Glühbirne.
Auf seinem Bett saßen fünf oder sechs, in der Ecke duselte, von niemand beachtet, ein komischer alter Mann.
„Der Kapitalismus kann sich vielleicht scheinbar konsolidieren auf ein paar Monate -" Jonny schwenkte die Arme, als mähe er die Worte mit einer Sense. „Aber hör mal", sagte Faludi, er war sofort mittendrin. Böhm trat, von niemandem beachtet, mit erschrockenem Gesicht hinter den Alten. Er weckte ihn, ohne ihn zu berühren, indem er nur an der Lehne ein wenig rüttelte.
„Sind Sie's, was machen Sie denn hier?"
„Ich hab hier ein Geschäft, und da sagte ich daheim, da kann ich gleich mal sehen, was unser Peter macht. Nu, setz dich doch."
Böhm sah den Alten so starr an, dass dieser die Augen zusammenkniff. Er war gekommen, um mit Böhm zu sprechen, dessen Gesicht er besser kannte als sonst etwas Sichtbares. Aber jetzt war es gar nicht das Gesicht, das er kannte, sondern ein unbekanntes, feindliches Gesicht. (Du bist also gekommen, um mit mir zu sprechen, aber ich bin hart und stark, nichts kann an mich heran.)
„Nu, erzähl mal, schreiben tust du ja nicht. Nu, erzähl mal." Der Alte sprach langsam und deutlich, aber nur deshalb, weil er Angst hatte, Angst, dass ihn im nächsten Augenblick etwas Schreckliches treffen würde, ein Schlag, den er nicht abwehren konnte. „Nu, so erzähl doch. Da bist du also glücklich in Wien."
(Was fragst du mich denn? Hast du denn keine Ahnung, wer ich bin? Weißt du denn nicht, was alles an Großem und Furchtbarem mit mir geschehen ist?)
„Also, fang doch mal an, was lernst du denn?" (Fragen kannst du, was du willst, kannst dich sogar hier auf den Boden werfen und in Stücke zerreden. Bei mir wirst du nichts erreichen.) „Aber Sie wissen doch", sagte Böhm ruhig, „dass ich nicht nach Wien gefahren bin, um zu lernen. Übrigens fahre ich dieser Tage von hier weg nach Deutschland. Ich habe mein Studium abgebrochen. Sie müssen sich damit abfinden." - „Was, was, du lernst nicht mehr? Ja, warum lernst du denn nicht mehr? Jetzt bist du soundso lange von zu Hause weg, und wir wissen nicht, was du machst und wo du bist. Und endlich schreibst du, du bist in Wien, und wir sind froh und schicken dir Geld, und jetzt sagst du, du lernst nicht mehr. Wenn ich das deiner Mutter erzähle, dann wird sie sagen: Jetzt siehst du, wofür wir uns geplagt haben.'"
„Sie brauchen sich nicht für mich zu plagen."
„Nicht zu plagen!" Ein Schwarm von Gedanken flog durch seinen Kopf, spiegelte sich in hellen Pünktchen in seinen Augen, fremde phantastische, nie gekostete Freuden des Daseins, die sich alle verwandelt hatten, in Stiefel und Bücher und Arzneien für Peter. Dann waren die hellen Punkte weg. Hass war darin. „Daran sind diese Leute schuld, denen du immer daheim nachgelaufen bist, diese Leute, wie man sie jetzt bei uns einsperrt und aufhängt. Gott verfluch sie!" - „Hören Sie mal", sagte Böhm, „lassen Sie mich in Frieden. Bekümmern Sie sich nicht mehr um mich. Fahren Sie nach Hause," (Jetzt habe ich dich endlich getroffen.) Der Alte stand wirklich auf. Er sah ihn wie ein kleines Kind von unten nach oben an; ohne etwas zu sagen,
ohne ihm die Hand zu geben, verließ er das Zimmer so schnell, dass Böhm ganz überrascht vor dem leeren Stuhl stand.
Böhm trat schnell hinter Faludi. „Wer war denn das?" -„Mein Vater, den hab ich rausgeworfen."
Als Böhm mit Faludi den Anfang gemacht hatte, waren auch die andern nach und nach aus Batós Zimmer weggegangen. Steiner ging zuletzt. Er kehrte in der Tür nochmals um. Bató sah zu Tode erschöpft aus. Steiner wusste, wie sehnlichst er wünschte, auch er, Steiner, möchte gehen. Aber er sagte: „Verzeihen Sie. Ich muss noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen." Bató sagte sofort: „Gewiss." Sie hatten vor dem Kriege zusammen studiert, an Hochschulen unterrichtet. Bató hatte schon im letzten Kriegsjahr sein Lehramt mit dem «Gefängnis vertauscht, während der Diktatur hatte er Steiner in der Universität wiedergetroffen und jetzt nach dem Zusammenbruch in Wien. Sie setzten sich sofort gegenüber. Bató richtete seine Augen auf Steiners Gesicht, als sähe er dieses kluge, unruhige Gesicht zum ersten Mal. Steiner trank einen Schluck kalten, bittern Tee. Er sagte: „Sehen Sie, Bató, ich kann es einfach nicht mehr aushalten." - „Was aushalten?"
„Fragen Sie doch nicht ,was'! Ich kenne Sie doch, stellen Sie sich doch nicht als ob - Sie wissen wohl, was es zum Aushalten gibt. Man sagt, Sie sind in der Nacht auf den Zwölften über die Grenze geflohen. Am nächsten Morgen um acht haben Sie draußen in Floridsdorf gestanden und Flugblätter verteilt. Großartig, sogar sehr großartig. Nämlich, am ersten Tag nach der Flucht, auch am zweiten, auch am dritten. Aber dann immer weiter, am vierten, hundertsten, tausendsten Tag -"
Bató drückte seine Augen zusammen, als sei Steiners Gesicht plötzlich weit weggerückt, schwer erkennbar. Vielleicht dachte er, lass mich doch endlich schlafen, mich, der ich dir nicht helfen kann. Aber er zwang sich mitzuzuhören.
„Ich kann es nicht mehr aushalten, was hier geschieht. Nein, das kann ich nicht.
Ich fürchte mich vor der Zeit. Ich muss wissen, ob ich acht Tage warten soll, oder zehn Tage oder mein Leben lang. Das sind drei ganz verschiedene Dinge, auf die muss ich mich einrichten. Lachen Sie nicht."
„Ich lache ja gar nicht."
„Auf was warte ich eigentlich? Was ist das eigentlich für ein Ding, Weltrevolution? Abgesehen von dem Brot, das wir alle genug haben werden - wird der Weg zwischen Leben und Sterben gangbarer sein (abgesehen, sage ich, von dem Brot, dem Proviant auf diesem Weg), wird der Tod geringfügiger sein und werde ich weniger allein sein?"
Bató betrachtete Steiners Gesicht, als sei es der Schauplatz verwickelter Ereignisse. Zum ersten Mal an diesem Abend redete er selbst: „Ja, diese Anfälle von Angst und Trauer, diese Angst, die stärker ist als unser Wille und unsere Einsicht, tief im Blut drin, Todesangst und Trauer. Aber wir müssen uns doch Rechenschaft ablegen, woher das kommt -"
Steiner runzelte die Stirn. Er kannte Batós Antworten, wie Bató seine Klagen kannte. Denn er kam jeden Abend herauf, seit er in Wien war. Aber diesmal stand er plötzlich auf: „Das ist es gerade, was mir fehlt, in Ruhe Rechenschaft ablegen. Sehen Sie, und deshalb bin ich heute gekommen, um Ihnen Lebewohl zu sagen. Wie sagte der kleine Böhm? Ich kann auch von Deutschland aus heimkehren. Man kann allerorts warten. Zwischen dem, was war, und dem, was sein wird, will ich noch einmal ruhig nachdenken, vielleicht in einer kleinen deutschen Universitätsstadt - nicht bloß hier mit diesen Auguren in einem Käfig, immer ihre Gefriße vor Augen und die Ohren voll von ihren Prophezeiungen."
(Ich bin todmüde, und es ist ganz unnütz, ihn zurückzuhalten.) „Also leben Sie wohl."
Steiner erschrak. Er hatte erwartet, Bató möchte ihm mit aller Kraft von dieser Reise abreden. Bató reichte ihm beide Hände, aber seine Augen sahen Steiner gleichgültig an.
Als Steiner gegangen war, sah Bató eine Weile vor Müdigkeit gedankenlos auf den Tisch, der mit einem Berg von schmutzigen Tassen beladen war. Dann ging er in die Kammer hinter der Tür. Seine Frau - ihr bleiches, kränkliches Gesicht war auch vor Müdigkeit wie ausgelöscht - saß schon wach mit dem Kind, das in der letzten Augustwoche geboren war. Es war winzig und elend und schien langsam abzusterben. Der ältere Knabe lag hinter ihr, mit einem zugekniffenen und einem wachen, offenen Auge, als warte er auf etwas.
Marie sagte: „Sieh nur mal, wie es jetzt aussieht." Bató warf einen schnellen Blick auf das Kind. Er sagte: „Faludi ist wieder zurückgekommen. Er fährt vielleicht schon morgen in die Karpaten, ins Russinsko."
Marie fuhr fort: „Ich glaube, du hast das Kind, seit es auf der Welt ist, noch nicht gesehen." Sie wartete ein wenig und fügte hinzu: „Und es wird sterben, und du wirst es nicht angesehen haben." Sie erschrak heftig über ihre eigenen Worte, aber Bató sagte gleichmütig: „Lass doch, es wird schon leben bleiben."
IV
Aus der unendlichen polnischen Ebene brach die zähe feuchte Erde in die Stadt ein, in die hilflosen, schon im Entstehen zerfallenden, locker um die Fabriken gewundenen Gassen. Auf dem Steg, der über den aufgeweichten, zerstampften Boden gelegt war, traten die Färber zur Frühschicht an, am Seiteneingang der Appretur.
Die Kontrolle war scharf, sie wurden langsam, unter Stichproben, durchgelassen. Dem Eingang gegenüber, vor einer großen, unfertigen, mit Reklame und Aufschriften bedeckten Mauer, standen Polizisten in über und über bespritzten Uniformen.
Janek, unter den Letzten in der Reihe, ein kleiner, kurzer, kugelrunder Junge, wischte mit dem Ärmel die vor Aufregung rinnenden Nasenlöcher. Seine Haut juckte, eine dicke Haut aus Flugblatt; sein ganzer Körper knisterte.
Janek dachte: Wladek, mein Bruder, ist nicht mehr heimgekommen. Er liegt jetzt auf dem Revier. Sie prügeln noch immer.
Janek hatte stets hinter dem älteren Bruder hervorgeguckt, ein Anhängsel ohne eigene Schultern. Gestern abend war das Flugblatt herausgekommen. Wladek hatte einen Pack gebracht, in den Ofen gelegt Er hatte noch Sophie erklärt, wie sie ein Brikett unter den Kessel legen müsste, dass es oben rauchte. Vom zweiten Abholen war er nicht mehr zurückgekommen. Sie hatten in die Nacht hinein gewartet Um zwei Uhr war Janek aufgestanden, hatte die Blätter herausgeholt und mit seiner jüngeren Schwester sofort zu falten angefangen. Die Mutter war herausgekrochen. Sie sog die Lippen nach innen, als lutsche sie Zucker; das tat sie immer, statt zu weinen. Aber sie setzte sich zu ihnen und half falten, im Dunklen, mit leisen Händen, damit es niemand hörte, die Alten nicht, und die ältere Schwester auch nicht.
Der Zweite vor ihm wurde sistiert. Die Arbeiter traten alle von einem Fuß auf den andren. Janek machte sich steif, um nicht zu knistern. Er war auf einmal überzeugt, dass er durchkam. Weiter, dachte er ungeduldig, „weiter, weiter", schimpfte mürrisch der Aufseher.
Später, in der Pause, im Waschraum der Appretur, drängten sich die Männer um die Bütten, tauchten ihre Arme in das fette, schon blaugeäderte Wasser. Einer langte sich einen Brotknorzen aus dem Kittel, kriegte etwas zwischen die Finger. Es zuckte ihm von den Fingerspitzen bis ins Herz. So ein Blatt brachte zwei Jahre Zuchthaus, das wusste seine Hand von selbst und ballte sich von selbst zusammen. Er warf gequält einen einzigen Blick auf den Papierknäuel, ein zerknittertes Wort sprang heraus, er vergaß die zwei Jahre, strich es mit der Handfläche glatt.
„Lesen und weitergeben! Lasst euch nicht anlügen! Auf Pferden stürmt die Rote Armee unaufhaltsam nach Warschau!"
Seine dicken Brauen stellten sich hoch. Länger als sonst drängten sich die Männer um die Bütte und beugten sich tiefer herunter. Janek sah einen Fetzen aufgeweichtes Papier auf der Lauge schwimmen.
Inzwischen saß seine Mutter noch immer auf ihrem alten Platz daheim und sog an ihren Lippen, da trat plötzlich Wladek, der ältere, ein. Er hatte ein graues Gesicht, alles an ihm hing etwas nach unten, seine Schultern, seine Mundwinkel, seine Brauen. Sophie merkte sofort, dass er so aussah wie als Kind, wenn er einen Pfennig verloren hatte. Er hatte auch gewiss diesmal etwas verloren, sie wusste nur nicht was. Die Mutter merkte nichts davon, sie sah nur, dass er überhaupt da war, und freute sich. Wladek sagte nicht viel, sondern legte sich sofort gegen die Wand, um zu schlafen.
Kurz danach klopfte es ans Fenster: „Sie haben euren Jungen geschnappt, sie schlagen ihn windelweich. Seht euch vor, sie kommen."
Sophie sah von einem zum andern, Wladek lag gegen die
Wand, aber Sophie sah es seinem Rücken an, dass er nicht schlief. Die Mutter sagte bestürzt: „Aber er ist doch längst hier." Sophie rief laut: „Den doch nicht, Mutter, unsern Janek!"
V
Zwölf Uhr mittags, dreistündige Waffenruhe an der polnischen Front zwecks Austauschs von Gefangenen. Die Polen geben den Russen zehn „Politische" aus ihren Kerkern heraus gegen ebenso viele Offiziere und Popen. Der Zug hält hinter der Grenze. Die Soldaten springen von den Trittbrettern, das Abteil wird aufgeriegelt. Die Polen, acht Männer, zwei Frauen, warten zwischen Gewehrkolben. Sie sind noch allesamt gefesselt. Während der Fahrt war Erregung, auf einmal sind alle still. Zwei Weißhaarige sind unter ihnen, Sophie Jaroslawski und Solonjenko. Die Soldaten kreischen: „Voran!" Sie laufen ein Stück die Schienen entlang, übers Feld gegen die Postenkette. Alles was hinter der Postenkette ist, Luft und Erde, ist unwahrscheinlich und schwer erreichbar. Sophie stapft und stampft, Solonjenko drückt die Brust heraus, das Kinn gegen die Brust. Sie erreichen die Postenkette.
„Halt!"
Ü brigens gibt es hinter den Posten nichts als Drahtverhaue. Die Fesseln werden ihnen abgenommen. Die Gewehrkolben bleiben, begleiten sie einen schmalen Weg, einen Pfad zwischen Gestrüppen von Stacheldraht. Sie sind zwanzig Minuten gegangen. Schon sehen sie jenseits des Drahtverhaues, vielleicht nochmals zwanzig Minuten entfernt, in der schwachen Sonne, in dunklen Soldatengruppen Helme und Waffenstücke glänzen. Sie hören Trommeln hinter sich, vor sich. Gleichzeitig, auf die Sekunde gleichzeitig, hören sie im Rücken den ersten Takt „Noch ist Polen nicht verloren!" und vor sich „Wacht auf, Verdammte ... !" Alle machen eine Bewegung mit den Schultern, als schüttelten sie Wasser ab, lächeln.
Auf einem andern Pfad durch das Drahtgestrüpp werden gerade die russischen Austauschgefangenen geleitet, ein Dutzend Popen und Gutsbesitzer. Jetzt schälen sich aus den Soldatengruppen' jenseits des Drahtfeldes die einzelnen heraus, Langmäntel der Rotarmisten. Die Gefangenen singen laut, während man ihnen die Fesseln abnimmt und die Namenslisten unterschreibt und austauscht. Die Gewehrkolben schlagen noch einmal auf die Erde und machen kehrt. Mit wilder, glühender Begrüßung reißt man die Gefangenen an sich. Der alte, kleine Solonjenko gibt es plötzlich auf, sich gerade zu halten. Er legt seinen Kopf auf die linke Schulter, als sei er jetzt sehr müde, sieht aber mit klaren Augen die Gestalt des roten Kommandeurs entlang, der vor ihm steht, mit dröhnender Stimme spricht - wie ein Standbild scheint er auf dem unteren Rand seines mächtigen Soldatenmantels auf der Erde zu ruhen. Die Musik hört auf. Die Gefangenen küssen sich mit den Soldaten und küssen sich untereinander. Solonjenko soll für alle sprechen. Er ist bleich, er zieht den Atem, dann ist es seine gewohnte gleichmäßige leise Stimme: „Vor euch, russische Genossen, steht die erste Generation von Gefangenen, die es erlebt, die Früchte ihres Kampfes zu sehen." Alle betrachten einander mit durchdringender Aufmerksamkeit. Der Dolmetscher im Soldatenrock tritt ein wenig vor und wendet sich an die Russen zurück. „Vor euch, Genossen, steht die erste Generation von Gefangenen, der es vergönnt ist, die Früchte ihres Kampfes zu sehen." Solonjenko macht mit beiden Händen eine Bewegung nach den Schläfen, lächelt und fährt dann russisch fort: „Noch keiner von uns, keiner unserer Verfolgten, Gefolterten, Eingekerkerten und getöteten Genossen hat mit eigenen Augen den Preis seines Kampfes gesehen. Wir als erste, in diesem Augenblick, sehen ihn." Er spricht schnell und leise, immer die Hände an den Schläfen, bis sie ihm sogleich am Ende seiner Rede herunterfallen. Im selben Augenblick reißen ihn zwei Arme unter den Achseln hoch und schwingen ihn in die Luft. Sein Herz klopft furchtbar. Einen Augenblick denkt er: Nein, noch nicht das Ende, ich will noch nicht. Er sieht die dicken Röcke der Jaroslawski mächtig durch die Luft wirbeln. In einer kurzen Sekunde der Heiterkeit beginnt sein Herz, sich von der unerträglichen Freude zu fassen, und klopft schon weniger furchtbar. Er steht wieder auf der Erde!
VI
Die Bergkette der Karpaten war dunkel, und die Feuer in den Bergen erloschen plötzlich, eins nach dem andern. Die Leute, ruthenische Bauern, die zur Versammlung auf die Holzplätze gekommen waren, legten sich nieder, schliefen und warteten. Jetzt, in der tiefen Nacht, war es noch schwerer, zu warten. Seit Tagen und Nächten wartete alles, in düsterer, unerträglicher Unruhe, wie sie die Frauen erfasst, wenn ihr Leib größer und größer wird und die Geburt bevorsteht. Die Versammlung war schon auf den Abend in die Nähe von Hruschowo festgesetzt, aber auf den morgigen Tag verschoben worden. Aus den acht umliegenden Dörfern erwarteten die Bauern den neuen Tag, das einzige, was bestimmt kommen musste. Eine alte, leise Stimme vom Boden her tröstete über die Liegenden weg: „Der Mann, den man uns aus Russland geschickt hat, um alles zu erklären, hat einen langen Weg, den kann er nicht auf die Stunde ausrechnen."
Aber ein andrer richtete sich auf und sagte: „Ach was, der hat keinen langen Weg, der wohnt ganz nahe bei der Partei, in Uzhorod."
Auf einmal, in ihren auf die Erde gebetteten Köpfen, dachten viele, die Russen könnten in zwei Tagen hier sein, wenn sie wirklich schon in Polen waren. In ihren Gesichtern zuckte die Hoffnung, sichtbar wie ein Lichtschein, der über den Holzplatz geschwenkt wird und schnell wieder abgeblendet Von neuem spannten sich alle Gesichter in unerträglichem, düsterem Warten. Jemand zeigte ein ausgeschnittenes Bild herum, Lenin, mit einem Bärtchen und einer Mütze. Aber dieses ausgeschnittene Bildchen machte nur bitter. Er konnte es sein, konnte es aber auch nicht sein. Etwas Besonderes, woran man ihn bestimmt erkennen konnte, hatte er nicht an sich. Er war es vielleicht, vielleicht war es ein fremder Mann.
Jetzt erinnerten sich viele, wie es im vorigen Jahr ähnlich zugegangen war. Umsturz in Ungarn. Sie hatten Feuer auf den Bergen gemacht, Flugblätter waren in die Dörfer gekommen. Ein großes Warten war es gewesen, und der Rest: Flüchtlinge "über die Berge gekommen, in den Holzstapeln versteckt, die Diktatur gestürzt, Bauern an ihren eigenen Bäumen aufgehängt
Jemand stöhnte laut auf, in zorniger, schmerzhafter Unruhe. Als striche der Lichtschein von neuem über den Abhang, legte sich etwas Helles auf alle Gesichter. Dann verging es wieder. Dann standen die meisten auf und sahen angestrengt hinunter
auf die Landstraße. Auf dem weißen, um die dunklen Berge gewundenen Band rückte etwas gegen den Holzplatz. Es waren Arbeiter aus Akna Zlatina. Sie stiegen geschlossen herauf und brachten Fahnen mit. Gleichzeitig mit den ansteigenden Menschen kehrte zuerst langsam, dann erstaunlich schnell der Tag, kehrten rundum die ausgezackten Berge zurück, tiefe, mit Wald ausgefüllte Bergfalten. Eine große Menschenmenge, die man nachts gar nicht gespürt hatte, bedeckte jetzt, da es Morgen wurde, den Abhang bis zur Landstraße. Ein heller, flockiger Himmel hielt Berge und Menschen zusammen. Sie fingen an, hartnäckig gegen den Wald zu rücken. Die Menge zog sich immer dunkler zusammen. Jemand war in der Mitte auf einen Holzstapel geklettert. In der wachsenden Stille hörte man eine starke Stimme anschlagen. Die an den äußersten Rand geraten waren, hielten sich an dem bloßen Klang dieser Stimme, die auch ohne Worte erregend war, wie das Feuergeläute eines entfernten Dorfes. Sie legten die Köpfe zurück, dass ihre Nacken brannten. Ihre Münder waren offen, mit nackten Zähnen schienen sie die Stimme zu zerbeißen.
Davon sagte die Stimme nichts, dass die Russen in zwei Tagen da seien. Aber sie sagte, dass Russland ein unermessliches Land sei, mit fetter Erde, die ganz und gar den Bauern gehörte. Sie forderte alle auf, die gekommen waren, der Partei zu folgen.
Auf den Gesichtern der Horchenden lag ein harter, schmerzlicher Glanz, wie auf Gesichtern von Toten.
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