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Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Alles war zu Ende.
Das Dorf war eingekreist, die Dorfausgänge waren besetzt, die Luft war bitter, die Herzen hämmerten.
An einem Augusttag war es, der heiße Mittag drückte die braune und goldene Ebene, die flachen Hütten, blind und triefend von Erde.
Räte-Ungarn war aus. Jetzt, da alles zu Ende war, hieß es, aus dem Ende ein wahres Ende machen, alles aus ihm herausholen, was sich aus einem Ende an Schrecken holen lässt. In das Gesicht des Leutnants Jákó Géza zählte der Dorfrichter an den gespreizten Fingern ab: Kürtös Béla - all seine Söhne, vier Stück, in der Roten Armee; Asztalos Stephan - hat ihn unter seinem Dach gehabt, den roten Juden, Gott verdamm ihn, sooft er rauskam; Papp Johann - eine Wanzengrube von solchen Zettelchen „An die Bauern und Landarbeiter"; Sebö András - hat auf dem Gut die Spaliere rasiert mit seinem ganzen Anhang; seine Bälge haben Bäuche gekriegt wie Trommeln; Horvát Johann, Rotarmist - hat das Maul voll genommen, in einem Soldatenrock auf der Tenne gestanden, eine Rotte war um ihn herum, an die tausend Stück aus acht Dörfern; Szekeres, beide Brüder -
Beide Brüder knieten nebeneinander und richteten ihre Gewehre gegen die Tür. Die stillste aller Mittagsstillen. Ein Huhn plumpste mehr als es flog vom Tisch auf den Boden. Dann überrannten die Soldaten das Dorf. Die Szekeres wickelte blitzschnell ihre Röcke um alle Kinder. Die Tür sprang auf, es knallte doppelt heraus und zehnmal hinein, schon rannten die Soldaten gegen die nächste Tür und ließen liegen, was tot lag, vor und hinter Szekeres' Schwelle. Ganz nutzlos, von niemand gesehen, hielt sich die Frau noch minutenlang aufrecht, in ihrem neuen, leuchtenden, über Wangen und Schultern fließenden Kopftuch aus Blut; sie glitt weg und ihre Röcke glitten von den Kindern weg.
Eins von den Kindern kroch über die Toten ins Freie. Draußen war alles verändert. Der glänzendweiße Himmel war ganz tief gesunken. Die Hütten waren geschrumpft: den Weg hinauf schleiften sie fremde, schwere Bauern mit langen, roten Schleppen. Neben der Tür hielten Soldaten ein großes, wildes Pferd. Sebös Hütte zuckte und lachte, ein schrilles, kreischendes Lachen, wie auf Hochzeit. Alle Hütten schrien und zitterten.
Kürtös schrie: „Nie hab ich was getan, fremdes Gut nie angerührt!" Einer der Soldaten drehte Kürtös' langen fahrigen Bart um sein Handgelenk und riss. Die Frau rutschte auf ihren Knien herum: „Nie hat er was getan, fremdes Gut nie angerührt." Der Soldat drückte den Kopf an seine Brust, um besser zu reißen: „Eure Söhne, vier Stück!" - „Hat er doch alle verflucht!" rutschte die Frau auf Knien und Ellenbogen, „morgens und abends hat er sie alle vier verflucht." Die Soldaten ließen sie rutschen, immer längelang, bis ihre Knie blank durchkamen.
Die Asztalos hielt ihren Leib mit beiden Händen zusammen und rief den Soldaten mit junger schallender Stimme entgegen, als stünden sie nicht vor ihr, sondern am Rand der Ebene: „Hier gibt es keinen Asztalos!" Die Soldaten tippten lachend mit den Stiefeln ihren Leib. „Er war doch da, wo ist er?" Die Asztalos stellte sich breit hin. Das Kind in ihrem schweren Körper musste mitschützen, ihn, der draußen hinterm Feld in einer Furche lag. Denn die Soldaten stießen zu, sie fiel und rief mit schwacher, in viele Scherben zerspringender Stimme: „Hier gibt es keinen Asztalos!"
Sebö hinter dem Tisch rührte sich nicht. Sein Kopf war ganz kahl und glänzte, vor ihm auf dem Tisch lagen seine beiden riesengroßen Hände. Er bekam einen Schlag auf den Kopf, das duckte ihn nicht, er richtete sich erst jetzt zu seiner vollen Größe auf. Wie war er überhaupt hereingegangen, in diese vier Wände, all die Jahre über? Mit seinen eignen beiden Händen schob er die heulende Frau von sich weg; die seine. Hände banden, schleifte er hinter sich ins Freie. Eins der Kinder packte mit beiden Armen einen Soldaten um den Stiefel und biss ihn ins Knie. Sebö hörte dann hinter sich schreien, wie er noch nie ein Kind schreien gehört hatte, und das Geheul der Frau, unbegreiflich, maßlos.
Aber Sebö konnte sich nicht umdrehn, er erfuhr es nie mehr. Die Kolben schoben seinen Rücken, und das Geheul floss hinter ihm ab. Er drückte seine Schritte in die Erde ein, zärtliche, glühende Schritte. . Der Dorfrichter sagte: „Jetzt bringen sie den Sebö."
Der Leutnant Jákó und der Dorfrichter standen auf der Treppe, wie sie einen nach dem andern brachten. „Wart mal, du bist doch der Sebö." Sebö hob mit Mühe seine von geronnenem Blut schuppigen Augenlider. „Red doch! Reden kannst du wie ein Bischof." Jákó wurde bleich, und. auch Sebö erbleichte plötzlich in seinem dunklen Gesicht. Jákó duckte sich, sprang ihn an, packte ihn an der Kehle und schüttelte. Sebös Gesicht, aus so wenigen Strichen gemacht, wie man braucht, um das Gesicht eines Mannes zu machen, blieb unverändert. Da fiel nichts heraus, alles war fest. Jákó holte aus und schlug mit voller Kraft. Sebös Gesicht, von der Braue bis zum Mundwinkel, lief sofort blau an, ohne seinen Ausdruck finsterer Ruhe zu verändern. Sie stießen ihm von hinten die Kolben in die Kniekehlen. Jákó sah herunter auf den kahlen, glänzenden Schädel. Er drückte ihm mit dem Schuh das Kinn zurück. Sebös Gesicht blieb unverändert, einen halben Meter tiefer, ruhig und finster.
Draußen, hinter dem Korn, krümmte sich Asztalos in seiner Furche, Mund und Augen voll Erde. Die Schüsse knallten im Hof des Dorfrichters. Ins Herz getroffen, bäumte sich das ganze Dorf noch einmal auf, und Asztalos bäumte sich mit dem Dorf in seiner Furche. Er hielt sich mit beiden Händen an der Erde fest, aber die Erde war auch nicht fest und bäumte sich auch. Er hob sein von Erde beschmiertes Gesicht; der helle, fast weiße Himmel hielt alles still zusammen in seinem heißen Nachmittag.
Jákó trat aus der Tür in den Hof. In dem unordentlichen Durcheinander von Köpfen und Armen und Rücken toter Bauern, die so lagen, wie sie gefallen waren, erblickte Jákó Sebös kahlen, glänzenden Schädel. Er trat ein paar Schritt näher, Sebös nach der Seite gedrehtes Gesicht vor seinen Füßen auf der Erde war unverändert, ruhig und finster.


II
Das dritte Regiment unter dem Kommando des Genossen Faludi, bisher am rechten Theißufer stationiert, lauter Metallarbeiter aus dem zehnten Bezirk Budapests, hatte den Rückzugsbefehl ausgeführt. Es kam nachts im Lager an, als dort die Verwirrung am größten war. Die Nachricht vom Durchbruch der Front, von der befohlenen Auflösung der Roten Armee war schon eingetroffen. In die zerfallenden Haufen, die nichts mehr zusammenhielt als die Todesangst, hämmerten umsonst die alten Stimmen die glühenden Worte. Die Worte versanken spurlos in einem Brei von kranken weißen Gesichtern. Sie brachten nichts mehr zusammen. Zuweilen setzte die Internationale ein, versackte; es war schrecklicher, sie versacken zu hören, als wenn sie niemand angestimmt hätte. In den Gesichtern der Bauernsoldaten waren die Augen bodenlose Löcher. Manche rissen sich die Uniformen in Stücke und trampelten darauf. Manche rannten blind davon, einzeln oder zuhauf, in der vermeintlichen Richtung ihrer Dörfer. Man hörte offene Flüche und Drohungen.
Das dritte Regiment, Metallarbeiter aus dem zehnten Bezirk, machte sich mit den Kolben den Weg durch das Lager frei. Geschlossen in Reih und Glied, wie beim Ausmarsch, zog es quer durch. Nur hatten alle Stirnen schwarze Striche zwischen die Brauen bekommen. Rechts und links seines Wegs steiften sich die Rücken, und die Blicke wurden dunkler und die Herzen kälter, wie ein Eisberg rundum die Luft gefrieren macht.
Aber zwei Stunden vor der Stadt erfuhr das dritte Regiment, dass die Rumänen bereits eingezogen waren. Faludi gab den Befehl, zu halten. Er redete die Soldaten an und dankte ihnen, Einer der Soldaten trat vor und dankte dem Genossen Faludi. Dann mussten sie sich auflösen.
Faludi und Böhm erschossen ihre Pferde. Sie liefen zu zweit über Felder, von den Bauern verlassene, auf denen das Korn in nutzloser Reife für sich allein rauschte und duftete. Hell war es lange, jetzt wurde es warm. Auf einer sanften, kaum merklichen Erdwelle war das Korn nach der Sonnenseite gemäht. Vom Kamm ab stand es noch - wie eine üppige schimmernde Mähne auf braunem Rücken. Hinter dem Hügel lagen ein paar Hütten. Eine alte Frau rief sie an: „He, ihr Roten in euren Röcken!"
„Wir können doch nicht nackt weiter."
Die Frau holte sie ohne viel Worte herein und gab ihnen Bauernkittel. Sie überquerten die zweite, noch ganz goldene Erdwelle. Sie gingen schneller, die Stadt war jetzt nahe. Sie hörten aus zwei Richtungen Gewehrfeuer. Wahrscheinlich war es schon immer dagewesen, sogar stärker, sie horchten erst jetzt darauf. Sie schnauften sich aus unter einem Ahornbaum. Der Ahorn war grün und dicht, noch keine Spur von Herbst, da gab es nur an einem Zweig einen langen, weißen Faden, das Leichteste auf der ganzen Welt. Das werde ich nie vergessen, dachte Böhm. Ob ich nun heute sterbe oder über viele Jahre, das werde ich nie vergessen. Er wusste selbst nicht, was er damit meinte, alles oder diesen Faden.
Faludi war kriegsgefangen in Russland gewesen, dort vor zwei Jahren zur Revolution gekommen. Peter Böhm war im März noch ein Knabe gewesen. Ihn, den kleinen Studenten, hatte das erste Nachdenken aus dem Hörsaal auf die Straße geworfen und von der Straße an die Front. Faludi hatte ihn lieb gewonnen und bei sich behalten. Immer hatte Böhm den Sturm im Rücken gehabt. Jetzt war in seinem Rücken kein Sturm mehr, sondern die leere, grausame Luft. Faludi sagte zu ihm: „Es ist richtig, wir trennen uns jetzt. Wir kommen leichter jeder allein weiter." Er betrachtete ihn lächelnd und küsste ihn dann schnell rechts und links.


III
Am nächstfolgenden Tag um die Mittagszeit - ein goldener, fast heißer Spätsommermittag - lief Böhm in Budapest auf dem Elisabethring herum. Er war vor zwei Tagen heil in die Stadt hereingekommen. Er hatte nicht gewagt, zu seinen Eltern zu gehen, weil ihn dort jeder kannte. Er war zu seinem Freund, dem Studenten Kelen gegangen. Kelens Mietsherr, ein bis dahin friedlicher, pfiffiger Kleinbürger, hatte gedroht, sie anzuzeigen, wenn sie nicht beide sofort das Zimmer räumten. Sie hatten sich dann getrennt, aber besprochen, sich am nächsten Nachmittag im Metropol-Cafe zu treffen und gemeinsam die Stadt zu verlassen. Böhm war noch zu Bekannten gegangen, die ihn zunächst aufnahmen. Mitten in der Nacht bekamen sie Angst, beschworen ihn, „um ihrer kleinen Kinder willen" freiwillig wegzugehen.
Seit dem frühen Morgen lief Böhm kreuz und quer in der Stadt herum. Er hatte schon viele Stunden hinter sich, viele Kilometer, er hatte keine Füße mehr - als schüttle ihn jemand wie einen Würfel in einem hohlen Becher. In den Straßen war der Morgen blau, dann golden geworden. In der Innenstadt schwärmten die Menschen, die meisten waren besser und lichter gekleidet, mit erwartungsvollen Gesichtern. Auf der Rákóczi-út schnurrten die Läden hoch. Da waren über Nacht die Auslagen aufgeblüht, und die Frauen starrten hinein wie in Wunder. Böhms kranker Kopf tauchte in Wolken unbekannter Gerüche und Farben. Er lief durch die Üllöi-út, eine kleine Kolonne Arbeiter kam zwischen Gendarmen. Sie trugen Arbeitskittel, ihre Hände waren kreuzweise übereinander gebunden. Die Passanten, die gestern bei diesem Anblick Mitleid oder Schadenfreude gezeigt hatten, blickten heute schon gleichgültig. Er lief auf den Donaukai. Auf einer Flut von heiteren, bunten Menschen schwammen die goldenen Achselstücke der Offiziere. Das Metropol-Cafe war überfüllt. Er musste sich umsehen, bis er einen leeren Platz fand. Die Marmortische, Spiegel und Tabletts glänzten, viele Dutzend Hände hatten sie diese Nacht in furchtbarer Eile blank gerieben. Böhm schlug mit dem Knöchel in einem fort gegen die Tischplatte. Es kostete ihn eine ungeheure Anstrengung, diese Bewegung zu unterdrücken. Er zählte fünf Minuten vor vier - drei Minuten. Jetzt musste Kelen vor ihm stehen. Er sah auf, Kelen stand vor ihm. Ein eiserner Vorhang fiel, deckte alles zu, Musik und Menschen. Er war allein mit Kelens ernstem, vertrautem Gesicht. „Aber ich kann nicht mit dir fahren. Ich habe Auftrag, zu bleiben." Er gab Böhm noch ein paar Ratschläge, wie er fortkönnte; aber der hört nur halb mit zu; er weiß, dass er nicht heraus kann, allein, ungeschickt, zu Tode erschöpft. Der eiserne Vorhang ging wieder hoch, die Musik trällerte wieder, Kelens Gesicht war nur irgendein Fleck, aufgegeben, schon unbekannt. Später lief Böhm hinaus auf den Kai, auf und ab, wieder in die Stadt hinein. Es wurde Nachmittag. Längs der Dächer, in goldenen Rillen, lief das Licht zu Ende. „Wo soll ich heute nacht hin? Ich kann doch nicht immer laufen. Soll ich mich aufs Pflaster setzen? Dann wird man mich verhaften. Besser laufen." Die Straßen waren noch voll, nicht bunt, grau voll. Vor den Schaufenstern, die jetzt beleuchtet waren, stauten sich die Menschen. Ecke Fürdö-utca war ein Auflauf. „Sie haben wieder einen." Böhm wurde hineingedrängt. Einmal riss es, da sah er mitten im Knäuel etwas Rohes, Rotes unter den Stiefeln der Polizisten. Der ganze Menschenauflauf stapfte plötzlich in einer großen Blutpfütze. Ein paar traten sich mit entsetzten, angeekelten Gesichtern die Schuhe am Rinnstein ab. Die Stimmen der Peiniger und des Gepeinigten klangen zusammen in einem einzigen dünnen, schon müden Schrei.
Böhm lief weiter. „Wo soll ich hingehen? Alles ist zu Ende." Er lief über den Josephsplatz. Seine Beine knackten, als seien die Schrauben aus den Kniegelenken gezogen. In der Menschenmenge, die aus dem Kino strömte, erkannte er Mosonyi aus dem Studentenausschuss. Er lief auf ihn zu, hängte sich an seinen Arm, ließ sich schleifen. „Was denn, was denn, können Sie nicht mehr gehen?" Mosonyi zog ihn ein Stück durch die Straße. Plötzlich blieb er stehen, schüttelte ihn ab. „Gehen Sie doch zum Teufel auf Ihren eigenen Beinen!" Böhm packte seinen Arm: „Genosse -" Mosonyi spuckte: „Ah pah, Genosse." Am Ende der Straße, an der gegenüberliegenden Ecke, stand ein Posten. Mosonyi ließ ihn plötzlich los und ging quer über die Straße auf den Posten zu. Böhm hätte jetzt rennen müssen, aber er war wie gelähmt von ungeheurem Erstaunen. Das letzte, was er hörte, war ein Pfiff, das Signal zu völligem Abbruch. Dann schlug die Stadt über ihm zusammen, Knüppel der Polizisten, Dächer und Himmel.


IV
Böhm stand nicht mehr auf, er wurde immer tiefer ins Pflaster hineingeknüppelt. Er kam zu sich in einem von Menschen vollen, düstern, von wenigen Glühbirnen erleuchteten Raum. Dass dieser Raum zutiefst unter der Erde war, wusste Böhm sofort; alle andren wussten es auch. Von diesen Menschen erwartete keiner Hilfe mehr. Böhm erblickte plötzlich zwei bekannte Gesichter: Jucze, dem die Tränen über die Wangen liefen, während er in einem fort das Wort Gott kaute, Mezei Margit, eine weiße Blume der Angst. Über ihren Schläfen lag das feuchtglänzende schwarze Haar wie die Flügel einer Amsel. Obwohl es eng war, drängten alle gegen die Wand und ließen ein Stück frei vor der großen Tür. Wurde aufgemacht und ein Name gerufen, dann stieß der Gerufene wie ein Hammel mit dem Kopf in seine Gefährten. Nach einiger Zeit wurde wieder aufgemacht und über die Schwelle geworfen, was von einem übrig blieb.
Böhm saß auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Er krümmte sich inwendig, als sei er in seinen Leib hineingestopft wie in einen zu engen Sack. Alles drängte sich in die Ecke, wo das Bündel lag, das man zuletzt aus der Tür geworfen hatte. Es war doch längst nicht der tiefste Punkt, denn das Zimmer wurde immer noch schwerer und sank und sank. Einmal wurden zwei Neue eingeliefert, Arbeiter in blutigen Hemden. Diese beiden setzten sich sofort auf den Boden, und zwar auf das freie Stück dicht vor der Tür, und redeten zueinander. Bei ihrem Anblick war es aus irgendeinem Grund still geworden, unwillkürlich horchten alle, was diese beiden, schwer atmend, sich zu sagen hatten. „Horvát wird doch die Listen zerrissen haben?"
„Mach dir keine Sorgen, der ist schon recht."
Böhm horchte hin, einen Augenblick hörte der Raum auf, tiefer zu sinken.
Auf einmal flog die Tür auf, sein Name ertönte mit scharfer, erschreckender Deutlichkeit, schallte in seinem Kopf, als gäbe es darin einen weiten, unermesslichen Raum.
Nebenan, hinter der Tür, war es ganz hell, ganz oberirdisch. Hinter dem Tisch stand einer und stemmte die Arme auf, in schwarzem Rock, Krawatte, Kragen. Ein paar saßen und standen in Röcken und Uniformen. Alle sahen ihn an, ihre Augen lösten sich ab und schwirrten um ihn herum, ein Kaleidoskop aus Augen. Er fürchtete sich und zitterte und konnte seine Zähne nicht zusammenbringen. Alle sahen, wie er sich fürchtete, und lachten. „Brauchst frische Hosen, Jungchen? Lass sie lieber gleich aus - wart mal."
Böhm dachte: Wenn sie mich wieder auf dieselbe Stelle schlagen, dann kann ich nicht weiter, dann sage ich alles.
„Komm mal näher, so. Du bist der Student Peter Böhm -" Böhm brachte nichts heraus. Nickte. „Also pass mal auf. Du bist in die Rote Armee eingetreten?" - „Ja." - „Gut. Unter dem Kommando von Faludi Pal?" - „Ja." - „Gut."
Böhm zitterte noch stärker, dann hörte er zu zittern auf, als hätte ihn etwas von außen geschüttelt, eine Faust, die plötzlich erlahmt war. Einen Augenblick war alles ganz klar, die Umrisse aller Dinge schienen mit übertriebener Deutlichkeit nachgezeichnet.
„Sie sind mit Faludi zusammen in die Stadt gekommen?" Böhm dachte: Ich kann nicht mehr weiter, ich werde alles sagen. Jetzt, wo nichts mehr von einem verlangt wird, jetzt wo alles zu Ende ist. Da ertönte plötzlich, wer weiß woher, eine furchtbare harte, überlaute, unbekannte Stimme, die der kleine Böhm nie in seinem Leben gehört hatte: „Ich sage von jetzt ab nichts mehr!" Nur an einem Dröhnen in seinem Kopf, am Gefrieren seiner Mundwinkel merkte Böhm, dass diese Stimme aus ihm kam.
Später lag Böhm auf dem Boden hinter der Tür. Alles an ihm war wund und offen. Wenn ihn jemand berührte, schrie er laut auf. In den Gesichtern, die sich über ihn beugten, war Grauen und Schrecken. Aber in seinem Innern war er erleichtert, ruhig.


V
Der Express Budapest-Wien sollte in einer Minute abgehen. Ein Reisender mit einem Lederkoffer stieg in ein Abteil zweiter Klasse. Er setzte sich ans Fenster. Ihm gegenüber saßen zwei junge Mädchen, Schwestern, Hand in Hand. Die Abfahrtszeit war jetzt schon überschritten. Viele Reisende wurden ungeduldig und sahen heraus. Auf einmal packte der Mann seine Reisetasche, überquerte, ohne sich umzusehen, den Bahnsteig und verschwand im Wartesaal. Gleich darauf kamen zwei Fremde, fragten: „Ist jemand ausgestiegen?" Eins der Mädchen erwiderte schnell: „Ja, hier herum."
Die beiden liefen über die Schienen gegen den Bahndamm. Die Mädchen saßen schweigend, bis der Zug abfuhr. „Warum hast du gelogen?" - „Hast du nicht erkannt, wer das war?"
Am Büfett im Wartesaal, auf den langen Bänken, über den schmierigen Tischen lungerten Menschen mit Koffern, Bündeln, Kindern. Faludi drückte sich herum, stemmte sich auf das Büfett, seine Spannung ließ nach, er fühlte fast körperlich, wie die Gefahr von ihm abglitt. Auf einmal tippte ihm jemand auf die Schulter. Ein langer, schludriger Kerl im Gummimantel. Sie starrten einander an. Aus den Augen des jungen Burschen, hellblauen, kindlichen Augen, spritzten helle Pünktchen dem andren ins Gesicht, juckten ordentlich, sengten. Er sagte: „Still, gehen Sie nur immer hinter mir her, ich werde Sie schon bestimmt irgendwo hinbringen." Faludi zögerte, aber dann folgte er. Sie gingen hintereinander durch das weitläufige Bahnhofsgebäude durch eine Seitentür ins Freie. Dann liefen sie nebeneinander. Die Laternen brannten schon. Faludi dachte angestrengt nach. Der andere sagte: „Wozu denken Sie nach, Sie kennen mich doch. Glauben Sie, dass ich Ihnen was tun werde? Nein, ich will Sie auf den Dampfer bringen, seien Sie nur ruhig, Sie werden dort Bekannte treffen, Sie sind nicht der erste und nicht der letzte. Aber Geld müssen Sie mir geben, denn Sie haben reiche Verwandte und ich bin arm. Ich habe mich gleich bei denen gemeldet, bevor die sich bei mir gemeldet haben. Wem nützt es denn, wenn ich mir den Bauch vertrampeln lasse? Jetzt habe ich Bahnhofsdienst, genau wie ich angefangen habe im ersten Kriegsjahr. Die Katze fällt immer auf ihre vier Füße." Faludis Gesicht verzog sich vor Schmerz und Ekel. Auch über seines Begleiters Gesicht zog zwar kein Kummer, aber der Schatten eines Kummers. Er redete: „Diese drei Monate, die ich bei Ihnen gearbeitet habe, die werde ich nie vergessen. Ein großartiger Sommer." Faludi dachte nach, ob er ihn ausnutzen könnte, ausfragen. Der andre fing von selbst an: „Wissen Sie schon, was aus Bató geworden ist?"
Faludi fuhr herum, sein Herz stand ihm still. „Alles in Ordnung. Er ist seit gestern in Wien. Doch gut, wenn einer wie ich beim Bahnhofsdienst ist. Ich habe auch Wagner geholfen. Aber mit dem ist es schiefgegangen. Es hat was gekostet, ihn herauszubringen. Wir haben ihn auf die tschechische Seite bekommen. Da sind ihm die Nerven durchgerissen, er hat sich eine Kugel durch den Kopf geschossen, auf der tschechischen Seite." Faludi dachte: Wagner hat sich erschossen.
Er drehte die Worte in seinem Kopf herum, aber er konnte den Sinn nicht verstehen. Der andre legte den Arm in den seinen. Er ließ es, sie gingen schon den Kai entlang. Der Fluss funkelte von Lichtern.
Der andre sagte: „Können Sie das mit Wagner verstehen? Ich kann so etwas nicht verstehen. Mir ist alles eins. Seit zehn Jahren bin ich gewöhnt, immer auf der Kante zu leben. Immer ist's einem zum Umkippen, aber es hat doch auch was für sich, es spannt einen, man will's nicht anders. Ich habe auf diesem Schiff den Steiner untergebracht, den Doktor Steiner. Sehen Sie, der grüne Dampfer, der dritte, rechts von der Brücke."
Steiner und Faludi hockten in einem Verschlag im Lagerraum. Es war schrecklich heiß. Steiner sagte: „Werden wir durchkommen?" Faludi sagte: „Ich für meine Person habe in solchen Sachen Glück." Steiner kauerte sich zusammen und starrte hinauf in die Wand, in die winzige Luke voll tintenfarbigem Wasser, das sich gerade im Licht einer Schiffslaterne mit hellen Kringelchen überzog. Diese Handvoll Licht erfüllte sein Herz mit Verzweiflung, mit dem hoffnungslosen Wunsch nach Leben und Sicherheit.
Aber ich habe doch alles einbezogen, dachte Steiner, alles habe ich durchdacht, bevor ich im April herauf bin und gesagt habe, ich stelle mich euch zur Verfügung, Genossen, ich, mit meinem ganzen Wissen und Können, da habe ich alles vorgedacht, alle Möglichkeiten, auch das Ende, auch die Flucht, aber das nicht, so nicht, diesen heißen Verschlag, dieses Loch voll Kringel, die Maschine, die so stößt -
Er legte seine Hand auf Faludis Knie. „Was glauben Sie? Werden wir durchkommen?" - „Ja, wir werden. Wir werden schon irgendwie aus diesem Land herauskommen, wir beide. Es war viel schwerer, in die Stadt zu kommen. Das ist das letzte Stück, da wird es uns nicht schnappen. Die letzte Nacht." -„Worüber lachen Sie?" - „Wie wir von der Front kamen, der kleine Böhm und ich, da zogen wir Bauernkittel an. Später, als ich allein war - denn wir trennten uns, weil es leichter war, allein in die Stadt zu kommen -, sitzt ein Bauer vor seiner Tür, beguckt mich und sagt: ,Bruder, du hast dich gut zurechtgemacht, dir sieht niemand mehr an, dass du ein verkleideter Rotarmist bist.' "
„Was ist aus dem kleinen Böhm geworden?" - „Ich weiß nicht, ich musste ihn wegschicken. Wenn man uns beide zusammen gefunden hätte, dann hätte man ihn totgeschlagen, weil man mich totschlägt, aber ich fürchte, man hat ihn auch so totgeschlagen."
Steiner fragte, und der einzige ausschließliche Gedanke an die Rettung seines Lebens quälte und beschämte ihn: „Warum glauben Sie, werden gerade wir durchkommen?" Faludi sah Steiner schnell an, unterdrückte seinen Widerwillen. Es dauerte eine Zeitlang, bis er antwortete: „Ich für mein Teil habe wenig Phantasie. Kann mir nur vorstellen, was ist, nicht, was nicht ist. Denke, ich muss wohl durchkommen, jetzt, wo die schwere Arbeit erst anfängt."
Sie waren schon viele Stunden unterwegs. In der Luke war das Wasser grünlich geworden. Helle Sonnenkringelchen blitzten und schlugen zurück auf Steiners graues, ausgelöschtes Gesicht. „Jetzt wissen wir bald, ob wir durchkommen." - „Aber Sie sagen doch immer ja, wir werden." - „Gut, aber ich habe doch keine Versicherung abgeschlossen." Steiner zog seine Hand von Faludis Knie weg, bedeckte sein Gesicht. Das ist alles nicht wahr, dachte er, nur im Traum fährt man auf einem Dampfer mit Faludi und weiß, dass man sterben muss. Ich muss aufwachen, bevor sie uns einfangen.
Faludi fing zu erzählen an, sein Gesicht war auf einmal streng, als horche er gespannt seinen eigenen Worten. „Einmal drüben im Bürgerkrieg an der Wolga stießen wir bei einer Erkundung zu dritt auf eine Streife von zwanzig. Dass das unser Ende war, davon waren wir alle überzeugt, wir drei und die zwanzig vor uns. Wir platzten aufeinander. Es gab einen winzigen Augenblick Überraschung. Lauter Bauernjungens - die hatten zum ersten Mal Rote vor sich. Also so sahen wir aus, keine Schwänze, keine Hörner, Sowjetsterne über den Stirnen, das ging ihnen durch und durch. Wir brüllten los: ,Genossen!' Wir kamen abends zu dreiundzwanzig zurück. Es hätte aber auch passieren können, dass es ihnen erst beim dritten- und vierten Mal durch und durch gegangen wäre, ja, aber auch das ist Durchkommen."
Steiner behielt die Hände vor dem Gesicht. Er versuchte anfangs zuzuhören. (Das kann ich jetzt nicht mehr brauchen, was der erzählt, gestern noch, vor zwei Stunden noch, aber jetzt nicht mehr.)
Ihm schien es, die Stöße der Maschine wurden von Minute zu Minute heftiger. Er leistete diesen Stößen keinen Widerstand mehr, sondern ließ sich von einer Seite auf die andere werfen. Auch Faludis Körper schien leichter geworden, wackelte.
Das Wasser im Guckloch war blau. Das Netz aus Sonnenkringelchen wurde dichter. Faludi sagte: „Ja, aber es reißt einen doch aus, es spannt einen. Seit Jahren ist man daran gewöhnt, immer so zu leben, immer auf der Kante." Und er dachte: Was sind denn das für Worte, wo habe ich denn die aufgefangen? Wenn man sich nur auf dieser Erde noch einmal satt schlafen könnte. Er entschloss sich, rollte sich zusammen und legte seinen Kopf auf Steiners Knie. Er war noch nicht aufgewacht, als der Dampfer hielt. Es war die letzte Station vor der Grenze. Steiner packte Faludi an den Schultern und rüttelte. Aber Faludi schlief jetzt so fest, dass es nichts nutzte. Steiner versuchte die Beine unter Faludis Kopf wegzuziehen. Er hämmerte mit den Fäusten auf ihm herum, er konnte es nicht ertragen, jetzt allein wach zu sein. Aber Faludi war nicht aufzuwecken. Steiner stöhnte, es zog und zog in seinem Innern und riss plötzlich durch - es war ihm auf einmal alles einerlei Auf dem Schiff war Gelaufe und Gepolter, hinter den Latten ging ein wildes Geschimpfe los - vielleicht war außer ihnen noch wer versteckt und wurde gefunden. Werde ich durchkommen? dachte Steiner auf einmal ganz ruhig, und er dachte sofort: Wozu eigentlich? Und er wusste, dass dieser zweite Gedanke viel schrecklicher war als der erste.
Faludi wachte von den Maschinenstößen auf. „Also wo sind wir?" - „Über die Grenze hinaus." Faludi lachte: „Nun, also."
Steiner fragte: „Wann, glauben Sie, werden wir zurückfahren?"
„Ich weiß es nicht. Ich muss vielleicht in diesem Monat wieder zurückfahren. - Schlafen Sie jetzt!"
Steiner legte widerstrebend seinen Kopf auf Faludis Knie. Aber die Ruhe, die aus Faludis Körper strömte, wie Wärme aus einem Ofen, war größer als seine Abneigung. Er schloss die Augen, schlief nicht, sondern versuchte wach die Sicherheit auszukosten, die ihn endlich überkam, seine erstarrten Gedanken auftaute. Sein Kopf füllte sich mit Hoffnungen und Möglichkeiten, seine Todesangst war ausgelöscht, es gab keine Grenzen und kein Ende mehr. Heiße Vorfreude auf alles Kommende durchzuckte ihn, brannte hell auf, schlug plötzlich um und erlosch. Nichts blieb zurück als Enttäuschung, ja Trauer. Steiner stellte sich schlafend, um nichts zu sagen, und er dachte angestrengt weiter: Wozu eigentlich?
Jemand rüttelte von außen an der Latte. „Fertigmachen, Wien!" Droben in der Wand war die Luke voll Licht, Abfall einer leuchtenden Stadt, nächtliche Einfahrt.


VI
In Budapest vor der Schuhfabrik in der Váczistraße, auf deren Toren noch die Anschläge des Arbeiter- und Soldatenrats klebten, lagen sechs oder acht Proleten mit den Gesichtern auf dem Pflaster. Büttel mit Stöcken droschen zuck, zuck die Reihen ab. Aus einem Fenster sauste etwas Schweres, Dunkles und klatschte nieder. Hinterher wurde gebrüllt, ganz nahe, in wilden furchtbaren Stößen, das Gebrüll wurde zu einer richtigen Stimme, oh, oh, aus. Pali riss seinen Kopf nach der Stimme; sofort kniete ihm jemand auf dem Nacken und schleifte sein Gesicht hin und her, als erfülle er den Auftrag, Palis Gesicht vollkommen auszulöschen. Einer, der neben ihm lag, berührte ihn mit dem Knie: „Pali." Pali versuchte zu lächeln, den Mund voll Blut. „Bist du da, Józsi?"
Hinter einem der grauen, blinden Fenster packten welche die Eri. Einer drückte ihre Knöchel zusammen, der andere fragte. Drunten im Hof hatte eine Frau in ihrer Angst geschrieen: „Fragt da oben, fragt die Eri!"
Eri war allein, ihr Vater war bei der Armee, die Brüder waren versteckt. Eri und ihre Brüder hatten alle drei zur „Arbeiterjugend" gehört. Sie war allein in der Gasse geblieben, sie hatte in der Nacht alles verbrannt.
Sie wurde dann unter den Achseln hochgenommen und auf die Füße gestellt. Sie wurde gegen die Wand gedrückt und ausgefragt. Sie steckte die Zungenspitze zwischen die Zähne, bekam einen Tritt und knickte zusammen. Bei jeder Frage glänzten ihre Augen auf, der eine fragte und der andre trat, ihr graues Gesicht zersprang, ein neues, fremdes Gesicht glänzte schon hell in den Sprüngen des alten. Eri öffnete zum ersten Mal den Mund und rutschte auf den Boden. Die Männer drehten sie um und suchten im Herausgehen Bett und Schrank ab mit gewohnten Handgriffen. Eri blickte aus den Augenwinkeln nach dem Wandbrett. Unter der Tasse liegt ein Zehnkronenschein. Jugendgruppe zehnter Bezirk. Kassenrest Juli. Die Männer schlugen die Tür hinter sich zu. Eri dachte: Ich habe doch nichts gesagt. In ihrem sterbenden Gesicht versickerte aller Glanz. Sie aber glaubte, dass dies das Leben sei, dies und nichts anders.


VII
„... beschlossen wir, uns aus sämtlichen Institutionen der Sozialdemokratie zurückzuziehen und in die Illegalität einzutreten; gaben uns einander die Hand, denn wir wussten, dass inzwischen die Rumänen, die Vorhut der Gegenrevolution, in die Vorstadt eingezogen waren und einer den andern nicht mehr wieder sehen wird." Kovács gab auch allen die Hand, die ihn anhörten. Er war noch einmal in seinen Bezirk zurückgekehrt, um die Arbeit aufzuteilen. Er entkam schließlich mit zwei Arbeitern durch ein Kanalrohr. Sie klopften nachts an einem der kleinen Häuser über der Landstraße. Der Besitzer, er hatte etwas Gartenland und einen Laden, war nie in die Gassen gekommen; er war furchtsam und hatte sich von allem zurückgehalten. Wie er jetzt einen winzigen Spalt öffnete und die drei erblickte, riss es in ihm. Er ließ sie nicht nur ein, er gab ihnen auch alles Geld, was er hatte. Einige Stunden später war er, von Nachbarn angezeigt, im Polizeigefängnis gelandet, sein Besitz zertrampelt, sein Weib halbtot geschlagen.
Die drei Männer waren ein Stück in die Felder gelaufen und hatten sich dann getrennt. Die zwei Jungen wollten in die Dörfer, Kovács wollte an den Westbahnhof. Er kannte sich dort im Bezirk aus, dort gab es welche, die ihm weiterhalfen. Die ganze Zeit über war er ruhig gewesen. Wenn er ein wenig gelächelt und ein paar Worte gesagt hatte, waren auch die Menschen um ihn herum ruhiger geworden. Jetzt war er zum ersten Mal allein. Er war nie aus den Gassen herausgekommen. Seufzend, mit kleinen, engen Gassenschritten, auf dünnen, ausgeleierten Beinen lief Kovács den Stadtrand entlang. Manchmal konnte er einzelne, schnurgerade Straßen hinuntersehen, bis in ihr Innerstes, als sei die Stadt an dieser Stelle angeschnitten und bloßgelegt. Auf einer Straße war ein Menschenauflauf. Kovács weiß, was der Mittelpunkt ist: ein blutiger Leib unter den Stiefeln der Polizisten. Vielleicht ist es sein eigener Leib in der nächsten Stunde. Er sehnt sich nach seinen Kameraden, die er eben verlassen hat. Er versucht sich klarzumachen, dass es kein Unterschied sein kann, ob sie neben ihm hergehen oder zehn Kilometer weiter auf derselben Erde. Er wiederholt in einem fort seinen eigenen Bericht im Bezirk, während er rund um die Stadt steigt.
Er kommt mittags auf die Station. Im Schalterraum der Güterabfertigung findet er seinen Freund Ligeti, über die Waage gebeugt, mit zitternden Händen die Eisenteile ölend. Er wagt nicht, ihn offen anzusehen, aus einem Augenwinkel huscht ein Blick, wie die Maus aus dem Mauseloch - Kovács' Hände zittern schon mit Ligetis Händen, bevor er hört:
„Man hat die alte Belegschaft zusammengekoppelt weggetrieben. Man hat eine neue Belegschaft eingesetzt. Was gestern und heute nacht hier war, gestern und heute nacht. Sie suchen die Lagerhäuser mit Hunden nach Flüchtlingen ab. Sie haben welche von uns auf die Schienen gebunden. Sie haben welche von uns auf die Puffer gebunden. Sie haben zwei Heizer in die Kessel geworfen. Aber das ist auch furchtbar -", Ligeti sah plötzlich Kovács voll an, mit Menschenblick, trotzdem stutzte Kovács, ob das Ligetis Gesicht war, „dass ich trotzdem hier stehe und Eisenteile öle, das ist doch ganz furchtbar, dass ich hier weiterstelle und Schräubchen öle, dass ich hier stehe und Schräubchen öle."
Kovács knotet seine Finger zusammen, damit sie endlich still sind. „Da kann ich also nicht fort."
„Doch, doch, doch. Ich kenne da zwei von der neuen Belegschaft -"
Sie versteckten ihn im tschechischen Güterzug. Vor der Einfahrt verließ Kovács den Zug. Er musste durch ein Wäldchen bis zum Fluss gehen. Die zittrige Uferlinie war von den Lichtern der Grenzwache punktiert. Noch nie in seinem Leben hat er den Tag im Freien anbrechen sehen, mit schwachem und schreckhaftem Licht über nebligen Hügeln. Er erschrak, wie schwer und zäh das Wasser war. Drüben griff ihn die tschechische Grenzwache auf, packte ihn, weil er schwach war, unter den Armen, sagte aber: „Das wird schlecht ausgehen, gestern wärst du noch durchgekommen, heute ist eine Order da, dass alles wieder zurück muss."
Ungarische Grenzwache nimmt ihn der tschechischen ab, packt ihn, trampelt. Von Station zu Station rollt sein zertretener Körper in die Stadt zurück.

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