Drittes Kapitel
Faludi, nachdem er fertig war - nach ihm stiegen noch andre auf den Holzstapel -, machte sich sofort auf den Weg nach Akna Zlatina, Dorf am Eingang des alten Salzbergwerks. Seit seiner Ankunft in Russinsko war er schon viele Tage in den Bergen, von Ort zu Ort, schlaflos.
Früher war Akna Zlatina ein Haufen schmieriger Hütten gewesen, ein Klumpen Menschen war aus den Kneipen in das Bergwerk gerutscht, aus dem Bergwerk in die Kneipen. Inzwischen hatten sich aus dem Klumpen Fäuste und Gesichter herausgeschält.
Seit Wochen stand das Bergwerk still. Gendarmen waren gekommen, es hatte Schießereien und Verhaftungen gegeben. Aber plötzlich waren die Gendarmen zurückgezogen worden. Auf den Holzplätzen in den Bergen glühten wieder die Feuer der Bauernversammlungen. Etwas Dunkles, Schweres war ganz nah, man sah es noch nicht, aber der Schatten war schon über einem, man spürte schon den Luftzug. Sprang einer auf den Tisch und rief, dann horchten die Menschen, denn jeder Ruf konnte der Ruf sein. Manchmal sprang einer hoch und redete in einem Zug mehr als bisher sein ganzes Leben lang. Jetzt hieß es, die Partei schickt uns den Faludi, der weiß es. Faludi kam, seine Stimme schlug auch hier über die Menschen weg, schwemmte von allen Gesichtern Zweifel und Müdigkeit. Vom Allerletzten sagte er nichts, das sie erwarteten, er war auch noch nicht zu Ende, das kam noch. Auf einmal gab es eine Unruhe, viele drehten die Köpfe weg, nach der Tür. - Faludi rief: „Was gibt es?" Jemand rief zurück: „Die Versammlung, von der du kommst, ist gesprengt worden!" - Weiter hinten riefen viele durcheinander, es hat Tote gegeben, viele sind verhaftet worden! Jemand kletterte auf einen Tisch an der Wand und fing laut zu erzählen an.
Faludi drückte sich durch und fragte. Alle möglichen Gerüchte waren schon im Umlauf, wie er von Uzhorod wegfuhr. Langsam verhallte das Echo vom Eintritt der Roten Armee in Polen, Stimmen kamen auf, dass die Offensive vor Warschau stockte. In diesen Tagen schlug die Stimmung in einem fort um. Vielleicht war die Schwere in seinen Gedanken, die es ihm plötzlich zur Qual machte, weiterzureden, nur eine gewöhnliche Erschöpfung. Aber wenn die Versammlung wirklich gesprengt war, war etwas Entscheidendes geschehen. Er gab sich einen Ruck und ordnete seine Gedanken. Was heißt das, etwas Entscheidendes? Die Feder in seinem Innern, die bei allen Nachrichten leiser oder stärker anschlug, hatte eben heftiger gezuckt! Vielleicht war der Vormarsch wirklich abgebrochen. Vielleicht sogar waren die Russen entscheidend geschlagen!
Er riss sich zusammen und kehrte an seinen Platz zurück. Er überdröhnte das Durcheinander von Stimmen. Wieder waren nach wenigen Minuten alle Gesichter ähnlich. Abwarten, Beschlüsse, Partei. Die Stille war so groß, dass beide etwas Drohendes, beinah Feindliches hatten, seine Stimme gegen die Stille. Da, wo auch vorher die Unruhe hergekommen war, schrie jemand wild: „Abwarten!" Faludi rief in dieselbe Richtung zurück, von verschiedenen Seiten wurde gerufen. Immer wieder fasste seine Stimme die Versammlung zusammen.
Jemand nahm ihn mit nach Hause. Faludi sagte: „Lass nur, da leg ich mich nieder." Er merkte, wie der Mann mit der Frau flüsterte, wie die Frau seufzend aufstand und etwas hervorsuchte. Er war zu müde, um noch mal: „Lass gut sein", zu sagen. Um ihn herum war der Schlaf von vielen Menschen. Draußen hörte man eilige Schritte, die Tür wurde wieder aufgerissen, jemand fragte, ob sie mitkämen. Faludi trat in die Tür und sah ihnen nach. Über den niedrigen Hütten war der Himmel dunkel, und die schweren Regenwolken waren schwärzer als die ausgehende Nacht. Die Berge lösten sich langsam ab. Sterne gab es keine, und die Dörfer schliefen. Nur in der Richtung nach Ust, nicht allzu weit weg, glühte ein winziges, seltsam durchdringendes Licht. Faludi starrte in Gedanken darauf, bis es sich ablöste, herumschwirrte und wieder auf seinen alten Platz zurückkehrte. Einen Augenblick schien es ihm, die Bergkämme allein hinderten ihn, das Kommende zu erkennen. Er hatte Lust, loszurennen. Aber viel größer als dieser Wunsch war eine schreckliche Erschöpfung, aufgesammelte Müdigkeit, nicht von Tagen, sondern von Jahren. Er schloss die Tür und legte sich nieder. „Aber es soll nicht aufhören, es soll mich nicht loslassen. Was wird aus mir, wenn es mich loslässt?" Er fühlte noch einschlafend, wie die Frau eine Decke über ihn breitete und etwas darunterstopfte, eins ihrer Kinder, das warm war und ihm Brust und Beine kitzelte.
II
„Seien Sie versichert, mein Herr", sagte der Gepäckträger, „dass Sie mit diesem Zimmer zufrieden sind. Ich kenne dieses Zimmer, weil ich immer den Koffer von Herrn Doktor Winter an die Bahn gebracht habe, der Assistent von Professor Panzer war und jetzt mit ihm nach Berlin gefahren ist; der Herr hat in diesem Zimmer sechs Jahre gewohnt."
Es roch nach Wald und Regen. Sie gingen hintereinander fast durch die ganze kleine Universitätsstadt, dann eine steile Straße hinauf, zwischen tropfenden, nach Jasmin duftenden Gärten. Steiner betrachtete mit Gewissensbissen den unter seinem Koffer gekrümmten Rücken. Sonst war alles unwahrscheinlich still -müder, behaglicher Regen. „Hier droben." Sie hielten, Steiner sah auf das Fenster hinter den Baumkronen, bekam sofort Angst, sein Zimmer könnte besetzt sein.
„Gewiss, das Zimmer ist frei", sagte die breite, weißhaarige Frau, „lassen Sie nur Ihren Koffer herauftragen. Mein früherer Mieter, der Assistent von Herrn Professor Panzer war und jetzt mit ihm nach Berlin gegangen ist, hat in diesem Zimmer sechs Jahre gewohnt." Sie betrachtete ihn von oben bis unten, als vergliche sie ihn mit seinem Vorgänger, erforschte sein Gesicht und seine Kleidung nach Anzeichen für die Dauer seines Aufenthalts.
Sie ging vor ihm her, gleich war das Fenster geöffnet, die Kanne frisch gefüllt, das Bett weiß bezogen. Steiner dachte aufatmend, er hätte schon lange nicht mehr einen Baum so nahe gesehen, hunderttausendtropfig.
Wenn sie draußen ist, werde ich sofort anfangen zu arbeiten, auf der Stelle.
Er schloss auf, legte seine Bücher vor sich hin. Er trat noch einmal ans Fenster, sein Gepäckträger lief durch den Garten und klinkte hinter sich zu. Fertig.
Steiner setzte sich, aber es war schon dämmrig vor lauter Baum. Jetzt war er auch zu müd, um nachzudenken. Er sah sich rund um, das gleichsam jungfräuliche Zimmer bedrückte ihn, der Tisch, der beladen war mit Gedanken, die er noch nicht gedacht, mit Ehrgeizen, die er noch nicht befriedigt hatte, das für ihn hergerichtete Bett, in dem er sich quälen und freuen sollte, allein oder mit jemand, in Traurigkeit, die unweigerlich mit dieser Nacht beginnen und mit der letzten hier verbrachten enden sollte. Er trat zum zweiten Mal ans Fenster. Er hatte Heimweh und Reue, dass er abgefahren war. Ob denn in dieser Stadt der Regen nie aufhört? Was musste das für ein Mensch gewesen sein, der vordem hier gewohnt und es fertig gebracht hatte, sechs Jahre in diesem Zimmer zu leben?
III
Frau Bordoni wartete inbrünstig darauf, Pali möchte ein anderes Quartier suchen. Wenn Pali nur nicht mehr da war, glaubte Frau Bordoni, dann sei das Leben besser zu ertragen. Das Leben in der Mariengasse, das seit September immer drohender wurde und unverständlicher. Dazu konnte Pali nichts, dass alles so ging wie es ging, in allen Nächten Schüsse und Messerstiche, die Gassen der Arbeiterviertel voll fremder schludriger Burschen, Faustschläge an die Türen und Steine in die Fenster des Gewerkschaftshauses. Da konnte der kleine Pali nichts dafür und nichts dagegen. Aber er konnte etwas dafür, wenn Bordoni in solchen Nächten, statt die Tür abzuschließen, erst recht ausging, wenn er Plakate abriss und anklebte und Posten stand für den Arbeiterselbstschutz in der Mariengasse, mit einem Soldatengürtel und Pistolen. Niemals wären ohne Pali allabendlich in ihr ordentliches Zimmer diese Männer hereingeströmt, die Bordonis ehemaligen Sonntagsgenossen in nichts mehr glichen.
Frau Bordoni glaubte, wenn Pali weg war, dann könnte sie das Loch doch noch irgendwie zustopfen.
Mitten in der Nacht kam Pali herein, ohne Bordoni. Es hatte Streit gegeben, Schüsse. Die Polizei hatte ein Auto voll mitgenommen, auch Bordoni.
„Lange werden sie ihn nicht behalten", meinte Pali, „man kann ihm ja nichts nachweisen."
Frau Bordoni starrte in sein rundes Gesicht. Das Herz stand ihr still, sie war zu verzweifelt, um zu schimpfen. Es ging aber alles gut aus. Bordoni kam schon am frühen Morgen wieder, er war gleich entlassen worden. Frau Bordoni atmete auf und schleuderte mit freier Kehle freche, spitzige Schimpfworte gegen Pali. Bordoni erzählte: „Wen, glaubst du, treffe ich da unter diesen Gagalacken auf dem Revier? Unseren kleinen Maffi. Der hat noch vor vier Wochen auf unseren Versammlungen herumgeplärrt und ,Hoch, hoch' geschrieen. ,Nun, Kleiner', hab ich gesagt, ,wer hat dir denn dein schönes seidenes Hemd geschenkt?'"
Pali hatte seit dem ersten Tag nie mehr auf Bordonis Gesicht geachtet. Jetzt sah er ihn an und dachte, dass Bordoni überhaupt ganz anders aussah, als er gedacht hatte. -
Nein, so sieht er nicht aus, dachte Pali, so war sein Gesicht gar nicht, damals auf dem Heimweg, oder es hat sich so verändert.
Frau Bordonis Wunsch, Pali möchte sein Quartier wechseln, ging in Erfüllung, acht Tage nach der Bürgermeisterwahl, nach dem Faschistenputsch in Bologna. Da wurde er ausgewiesen. Ihm machte es nichts. Eins, zwei, drei hatte er seine paar Sachen zusammengeschnürt, die Kinder geküsst, den Bordonis die Hand gegeben. Bordoni biss die Zähne zusammen, und Frau Bordoni dachte: Er hat mir alles durcheinander gebracht und alles kaputtgemacht, alles, alles, und nicht einmal ordentlich die Hand gegeben.
Kurz vor der Grenze wurde der Waggon, in dem Pali mit anderen Ausgewiesenen untergebracht war, abgehängt. Posten standen auf den Trittbrettern. Sie warteten im heißen, staubigen Nachmittag. Erst gab es ein großes Gefluche, dann wurden sie still, durstig, müde. Eine ältere Frau und Pali bekamen die Erlaubnis, Wasser zu holen. Sie gingen langsam, um die frische Luft auszukosten. Hinter dem Stationsgebäude begann das neue Land, sanft, hinterhältig, ein Hügel mit einer Wolke aus weißem Schlehdorn. Sie ließen sich das Wasser über die Handgelenke laufen. Pali sah sich um: rund um die kleine Station türmten sich Berge, ungeheure Berge, wie Pali nicht geahnt hatte, dass es Berge auf Erden geben könnte.
In dieser Nacht jedenfalls gelang es Frau Bordoni noch nicht, die Tür hinter Pali abzuriegeln. Die Genossen, die mit Bordoni abends kamen, blieben bis zum Morgen, weil es verboten war, nachts auf die Straße zu gehen. Seit gestern war der Aufruf des neuen Magistrats angeschlagen, die Waffen distriktsweise abzugeben. Am Nachmittag war die Protestdemonstration vor dem Stadthaus mit Schüssen empfangen worden. Bordoni saß auf Palis Platz auf der Bank und versuchte, was im Zimmer gesprochen wurde, mit Palis Gedanken durchzudenken: Wir haben hergegeben, was wir in der Hand gehabt haben, wir haben einen Bissen von ihnen geschluckt, dafür werden sie unser ganzes Fleisch schlucken. Wer das Hemd hat, der will auch die Haut haben. Diese Spitzbuben in diesen Verhandlungen haben uns unsere jungen Leben wegverhandelt
Als morgens alle fortgingen, blieb Bordoni unschlüssig auf der Schwelle stehen. Er war weich, es tat ihm weh, dass Pali nicht mehr da war. Er war entschlossen, aber sein Entschluss tat ihm weh. Er hatte Widerwillen, in sein eigenes Zimmer zurückzukehren. In diesen morschen Wänden, in diesem faulen Brei aus Frau, Hausrat und Kindern gab es nur eine feste Achse, an die man sich halten konnte, sein Armeegewehr unter dem Bett.
IV
Bató, am Anhalter Bahnhof in Berlin, wartete auf den Zug aus Wien, auf Frau und Kinder. Er selbst war am vorigen Abend aus Russland angekommen. Vor drei Tagen in Moskau auf der Twerskaja: Rückkehr von Betriebsformationen von der Front. Sie waren abgerissen, zerlumpt, aber ihre fliegenden Lumpen hatten etwas Ehernes, wie die Bronzefetzen von Standbildern. In unbestechlicher Eile, als sei dies nicht die Heimkehr, sondern erst der Aufbruch, marschierten sie kalt durch eine Feuersbrunst von Fahnen. Von den Tribünen herab dröhnte die Macht des proletarischen Staates, das Leben Lenins, die Größe der Roten Armee. Bleicher und bleicher, bis zur Weißglut erglühten die Gesichter. Wohl tausendmal hatte er selbst an diesem Tag „Es lebe!" gerufen. Er war in die Masse eingekeilt, dass er weder seine eigene Stimme noch seinen eigenen Körper herausfand. In diesem Augenblick gab es auf der Erde keinen Platz mit besserer Sicht. Aber er hatte nicht dort zu bleiben, sondern nach dem Westen zu fahren, er hatte diese Stelle als zweiter Redakteur bei der „Neuen Welt" in Berlin anzutreten. Er hatte seine Frau und seine Kinder abzuholen, sich in einem Zimmer mit ihnen einzurichten, unter allen Menschen gerade mit diesen. Das ist alles schwer zu verstehen, dachte Bató, aber es ist nicht für lange. Es ist einerlei, wie man sich einrichtet für eine Nacht, für zwei Nächte.
Bató lief den Bahnsteig hinauf und herunter, hinter sich selbst her, in einem Trubel abreisender und ankommender Menschen. Es ist nicht für lange. Oh, wie wird alles vorbeigehen und durchreißen, es wird uns alle bald durcheinander rütteln, sowieso. Plötzlich fiel ihm ein, dass der Zug in wenigen Minuten eintraf. Er erschrak.
Marie im Eisenbahnabteil packte ihre Kinder und ihre Sachen zusammen. Sie fuhren gerade quer durch die ersten rohen, rußigen Häuserblocks. Sie fing schon an, sich vor Batós Gesicht zu fürchten.
Diese Frau, diese Stelle, schwer ist das alles, dachte Bató. Wenn nicht sowieso alles durchreißt, bald, über Nacht.
Er blieb jetzt stehen, grübelnd, während alle Menschen um ihn herum nach den Abteilen des bereits angekommenen Zuges rannten, der Bahnsteig leer wurde. Marie redete ihn zaghaft an, die Kinder von ihm weghaltend. Sie blickte schnell einmal in sein Gesicht - ihre Furcht war begründet. „Wo sollen wir jetzt hin?"
Bató war heute morgen ausgegangen, um ein Zimmer zu mieten. Beim ersten Schild „Möbliertes Zimmer" war er heraufgegangen und hatte gemietet. Es war das Atelier eines Malers, der im Winter seine Studien in Italien wieder aufnahm.
Jetzt stiegen sie von Absatz zu Absatz höher mit Gepäck und Kindern. Bató hielt Andris' Hand, ließ sie gedankenlos auf der Hälfte der Treppe. Als er aufgeschlossen und den großen Kronleuchter des Malers angedreht hatte, standen sie ratlos, von Licht übergossen, zwischen Haufen von bunten und goldenen Bildern, Spiegeln und Bronzen und Staffeleien. „Für ein paar Nächte geht es wohl, mach dunkel."
V
„Zum ersten Mal?" fragten sie Janek. „Ja", sagte Janek, „zum ersten Mal." Er saß auf einer Pritsche und versuchte ebenso auszusehen und sich ebenso zu benehmen wie die andern. Er war so klein und rund, dass alle, wenn sie ihn ansahen, lächelten. Häufig fuhr eine Hand über seinen dicken, kugelrunden Kopf. Er schämte sich ein wenig, begriff nicht, warum man ihn oft mit einem Lächeln ansah. Er war so verbeult, ausgelaugt, von allem abgeschnitten. Er hatte viel Prügel auf dem Fell. Ihm war bös zugesetzt worden während der Untersuchungshaft. Später beim Prozess war niemand von seinen Leuten dabei gewesen. Sie hatten kein Geld, um hinzufahren und Abschied zu nehmen. Er sehnte sich im geheimen nach Zuhause. Seine Schulter war so kahl, ohne dass Wladeks Arm manchmal darüberhing. Am meisten sehnte er sich nach dem Betrieb, nach der Appretur. Er verstand nichts aus der Zeit zu machen, allein, die Hände auf den Knien. Ihm war, als sei sein Kopf voll Luft.
Doch gleich nachdem man diese Zelle hinter ihm abschloss, fürchtete er sich weniger vor den bevorstehenden vier Jahren. Sie hockten dicht zusammen, acht Politische, auf den beiden untersten Pritschen, dass die Knie zusammenstießen. Auf dem Tisch aus Knien lag ein gelbes, zerknülltes Heft.
„Also fangen wir an", hieß es. Alle drehten sich von ihm weg. Jemand las vor, von Absatz zu Absatz. Zwischen jedem Absatz gab es Streit, Gebrodel. Janek saß still auf seinem Platz. Er verstand wenig. Trotzdem begannen schon wieder kleine Würzelchen aus ihm zu wachsen, sich an der neuen Umgebung festzusaugen. Einmal sah ihn Solonjenko an. „Wie weit bist du? Verstehst du?" Janek schämte sich. Sein runder Kopf wurde puterrot. „Wenig." Solonjenko legte ihm eine Hand auf den Kopf, eine fast erschreckende Hand, Aderstränge statt Knochen. Janek wusste damals noch nichts von Solonjenko, er sah nur einen alten, kleinen, zähen Mann mit weißem, wie vereistem Gesicht und fröhlichen Augen, mit herausgedrückter Brust und aufrechter, fast steifer Haltung.
„Du musst immer fragen, Janek, frage viel. Da lies was! Frag mich morgen. Unterbrich uns ruhig, wenn du nicht verstehst. Wir werden dir jedes Wort erklären. Wenn du nach vier Jahren herauskommst, willst du doch weiterarbeiten, verstehen, was vorgeht. Wenn du Glück hast, wenn wir eine Zeitlang zusammenbleiben, kannst du hier viel lernen. Ob man vier Jahre hier bleibt wie du, oder acht wie ich, oder lebenslänglich - zwischen uns und draußen darf es nie eine Kluft geben, verstehst du, was ich dir sage?"
„Ja, das verstehe ich", sagte Janek verstört, in Solonjenkos ruhige Augen hinein. Aber er dachte, dass es schwer zu verstehen war. Er staunte Solonjenko an. Er wusste noch nicht, dass alles, was er anstaunte, schon in ihm selbst drin war, während Solonjenkos aus Adern geknotete Hand auf seinem Kopf lag.
Janek setzte sich allein, mit zusammengezogener Stirn fing er zu lesen an, mit dem einzigen Wunsch, zu verstehen, was er las.
Solonjenko setzte sich noch einmal zu ihm, fragte ihn aus, sprach lange zu ihm. Solonjenko horchte aber auch gierig auf Janek - er war kurz nach seiner Rückkehr aus Russland verhaftet
worden, zum vierten Mal, er hatte die polnischen Kerker schon abgewohnt, als sie noch zaristisch waren. Ganze Generationen junger Gefangener waren durch seine Zellen gegangen. Er brauchte Janek, frische Wirklichkeit - ließ sich alles erzählen, die Appretur, den Betrieb, Wladek, das Flugblatt, die Verhaftung. Noch nie hatte jemand so zu Janek gesprochen. Bis jetzt hatte Janek, ohne viel zu verstehen, ohne viel nachzudenken, immer gehandelt, wie sein Bruder Wladek handelte. In dieser Nacht lag er ganz benommen da, zu erregt, um einzuschlafen. Es war ihm zumute, als hätte er bis jetzt in der Dumpfheit und Enge einer Zelle gesessen, und Solonjenko hätte sie mit einer Faust entzweigeschlagen, und Luft und Helligkeit drangen von außen ein.
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