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Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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Sechstes Kapitel

Janek bekommt fünf Jahre. Er kommt nach dem Gefängnis Mokotow. In seiner Zelle liegen fünf Kriminelle. Zwei davon sind Zigeuner, die im Stadtwald einen Mann erschlagen und beraubt haben. Einer von beiden, der junge, liegt immer still und erloschen, der alte ist geschwätzig und lebhaft. Man kann sein Geplapper nicht mehr anhören. Bronski springt ihn dreimal am Tag an und hält ihm die Faust ins Maul. Bronski war Fuhrmann auf einer Landstraße in Dobre gewesen. Er zitterte um das Leben seines mageren, eigentlich zum Abhäuten reifen Braunen, bis es über ihn kam, den Fahrgast zu würgen, den er an der Station beim Wechseln eines Scheines beobachtet hatte. Korzak hatte in der Trunkenheit seinen Kumpan erschlagen. Das war schon ein Jahr her, aber er schaute immer so stur und glasig vor sich hin, als hätte er seinen Rausch noch nicht ausgeschlafen. Faruga hatte im Güterbahnhof geraubt. Er sowohl wie die Zigeuner waren schon mehrmals vorbestraft. Janek vertrug sich mit allen ganz gut. Im selben Gefängnis waren noch etwa zehn Politische. Kurz nach seiner Ankunft bekam Janek Nachricht, man muss uns zusammenlegen, fangt zu hungern an. Er begann am folgenden Tag. Zuerst, als er das Essen zurückwies, kümmerte sich niemand darum, nicht einmal die Mitgefangenen. „Was schon, der wird krank sein." Am zweiten Tag wurden sie unruhig. Faruga, der schon öfters mit Politischen eingesperrt war, verstand Janek sofort. Janek hörte oft, wie er dem Fuhrmann alles erklärte. „Zäh sind diese Politischen, die geben nicht bei, die kauen Eisen." Sie starrten ihn an, als besäße er, der kleine runde Janek, ein ihnen versagtes Recht zu kämpfen, eine geheimnisvolle Kraft, Nahrung abzuweisen. Die beiden Zigeuner - sogar der Junge hatte bei diesem Anlass seine träge Trauer abgelegt - betrachteten ihn neugierig, eine Merkwürdigkeit mehr in ihrem Leben. Fünf Tage hörte Janek um sich herum die Teller schrabben und kratzen, während er still dalag. Faruga drehte ihm den Rücken, aß mit gerunzelter Stirn, als sei er verurteilt zu essen und sinne über dieses seltsame Urteil nach. Die Zigeuner beobachteten Janek gleichmütig - wer sich hängen will, mag sich hängen, - ob er nicht doch anfing. Der Alte hielt ihm sogar den Napf unter die Nase.
Faruga war überzeugt, dass Janek nicht anfing, und aß finster und nachdenklich. Mit Faruga und wahrscheinlich auch mit dem Fuhrmann hätte man manches erreichen können, dachte Janek. Hetzte man die Kriminellen gegen die Politischen, dann wären die Zigeuner und Bronski zu bestechen, mit schnellerer Freiheit oder besserem Essen; aber Faruga war unbestechlich, und unter seinem Einfluss auch der Fuhrmann. Wissen nicht, aber eine Ahnung, wo er hingehörte, quälte Faruga, quälte sein dunkles Gesicht, das im Zuchthaus nicht blass, sondern schwarzgrau wie Blei geworden war. Janek dachte später in anderen Zellen oft an Faruga, von dem er nie mehr erfuhr, als dass er im Winter 1923 Waggons und Bahnlager beraubt hatte.
Am fünften Tag gab die Gefängnisverwaltung nach. Janek wurde umgelegt. Er verabschiedete sich von seinen Gefährten, Farugas Blick begleitete ihn, ein schwerer, trauriger, aus irgendeinem Grunde vorwurfsvoller Blick.
Mindestens zwanzig mussten in der neuen Zelle sein, in die man ihn spätabends hineinquetschte. Ein paar Hände langten nach ihm, schoben ihn auf seinen Platz. Er lag auf dem Rücken in Erschöpfungswachheit, in einer prickelnden, flimmernden Dunkelheit - die erste Mahlzeit gab es erst morgen früh. Er fuhr hoch und fragte: „Was gibt es Neues von draußen?" Einer antwortete: „Hast du schon den Brief der Exekutive an die Parteileitung gelesen?" Sofort fing es rundherum zu streiten an. Janek mischte sich nicht ein, horchte nur, um ein frisches Bild zu bekommen.
Plötzlich brach die Erschöpfung mitten durch, nach fünf Tagen Hunger, sie schliefen alle gleichzeitig ein.
Nachdem die ersten Tage der Eingewöhnung vorüber waren, fingen sie an, ihr Leben einzuteilen, voneinander zu lernen. Alle merkten schnell, dass Janek ein guter Ofen war, an dem man sich wärmen konnte.
Im selben Monat sah er auch Anka wieder. Er hatte sie zum letzten Mal im Gerichtssaal gesehen, bei der Urteilsverkündung. Eigentlich hätte Anka erst im dritten Monat kommen können, sie hatte Erlaubnis erlangt, vor ihrer Niederkunft zu kommen.
Der Aufseher, der mit Janek kam, schloss das Gitter auf. Anka verstand es, mit zehn Minuten umzugehen, die bittere Kürze der einen, die bittere Länge der andern Zeit, das war nichts, was ihr Furcht einjagte. Sie kam heiter und ruhig, auf leichten Füßen, einem kleinen Mädchen gleich, das einen Ball unter der Schürze versteckt trägt. Sie hatte sich auf dem Hinweg alles ausgedacht, was sie Janek sagen musste, einen großen Vorrat sollte er bekommen, bis zum nächstenmal. Über den Tisch, an den sie gesetzt wurde, zwischen Janek und den Aufseher, erzählte sie frech mit unglaublicher Geschwindigkeit. Sie verschachtelte geschickt in belanglose Familiennachrichten den ganzen Bericht der vierten Konferenz, die Lösung der Parteikonflikte. Später in der Zelle wunderten sich die Genossen, wie viele Nachrichten Janek mitbrachte.
Als die Besuchszeit abgelaufen war, zog Anka ihr Tuch über
den Kopf und ging schnell weg, schroff. Der verregnete Platz, die Kasernen, die Menschen mit ihren Schirmen, alles war schraffiert von Gitterwerk. Ihr Körper war jetzt schwer, als sei dieses Kind aus Blei, aber Anka war es, als beobachtete sie jemand unablässig, ob sie auch jetzt noch lächelte. Mit kleinen, flinken Schritten, stärker lächelnd, lief sie in die Stadt hinein.


II
Als Liau Han-tschi die Müllerstraße in Berlin hinunterging, versuchte er sich vorzustellen, dass diese Stadt einige Breitengrade östlicher lag als die Stadt, die er verlassen hatte. Sein Bruder hatte ihm geschrieben: „Fahr zunächst nach Berlin. Dort kannst du mehr lernen als sonst in einer Stadt. Geh zu dem Studenten Sun Fo-li, der mein Freund und ein guter Genosse ist. Er wird Dir helfen.
Ich weiß nicht, wie viel Du von uns weißt. Du wirst wissen, dass der große Boykott noch immer anhält. Hongkong ist völlig vom Festland abgeschnitten. Es kommt keine englische Ware mehr herein, und die Arbeiter und Handwerker und Ladenbesitzer verlassen die Stadt. Das Streikkomitee hat wirklich Regierungsgewalt, und es übt seinen Druck aus, wenn die Regierung in ihren Maßnahmen schwach ist. Überall hält die gewaltige Erregung an und wächst noch. Kein Dorf und keine Stadt ohne Versammlung. Es ist, als ob auf einmal alle Wasser zusammenlaufen. Alle Menschen und Dinge haben über Nacht ihr Gesicht verändert, selbst die Toten."
Liau hatte die erste kindliche Stufe seines Heimwehs längst überwunden. Wie er die abendliche Straße hinunterging -Mauern und Pflaster und Menschen waren von einer dicken, gelben Schicht Sonnenstaub überkrustet -, fühlte er zum ersten Mal diesen Stich nicht mehr: eine fremde Stadt.
Die kahle, kärgliche, unabsehbar lange Straße schien rund um die ganze Erde, um alle Städte gewunden. Das grelle Gekreisch einer Drehorgel in einem Schwarm entzückter Kinder begleitete sie gleichfalls rundum von Anfang bis Ende. Überall war sie gesäumt von Fenstern voll erschöpfter, ins Abendlicht blinzelnder Gesichter, von Gruppen breitbeiniger Proleten, streitend um das Brot und den Sinn des vergangenen und des morgigen Tages. -
Ich werde auf dieser Straße schon heimkommen, dachte Liau Han-tschi benommen, weiß jemand von diesen Männern und Frauen, was jetzt in meiner Heimat vor sich geht?
Er trat in die Torfahrt Nr. 12. Von selbst rief ihm jemand zu: „Willst du zu Sun Fo-li?" - „Ja, dorthin." - „Dritter Hof, ganz hinten, ganz oben."
Im dritten Hof geriet er in eine Schar Mädchen, die aus einer dort eingebauten Spinnerei strömten. Eine fasste ihn am Arm: „Du willst zu Sun Fo-li, zu uns, komm mit." Auf der Treppe sagte sie: „Wir haben einen Brief, wir erwarten dich. Fo-li wohnt zwei Jahre bei uns. Er suchte damals in dieser Straße ein Quartier, du kannst auch bei uns wohnen."
Liau dachte: Wie sich heute abend alles fügt, die Häuser und die Menschen.
Fo-li wohnte bei der Familie Balke auf den dritten Hof hinaus. Liau Han-tschi sah sich neugierig um. Mit dem kleinen Studenten war eine Flut chinesischer Bücher und Zeitungen über die Familie hereingebrochen, die ihre Betten, ihre Tische und Stühle und ihr Plüschsofa überflutete.
Dem Fenster gegenüber hing das Bild von Tschen Tu-hsiu, dem chinesischen Parteiführer, aus einer Zeitung ausgeschnitten, neben den Bildern von Liebknecht und Rosa. Dreimal hieß es: „Ein Brief ist da, wir haben dich erwartet." Fo-li war klein und behend und lustig. Balke, Eltern und Tochter, waren gleichfalls klein und fröhlich. Alle wussten so gut Bescheid über alles, was sich in seiner Heimat zutrug, als sei es im nächsten Bezirk geschehen. Fo-li krempelte seine Ärmel hoch und half der Frau, ein Abendessen nach seinen Angaben richten. Die Jüngere bändigte mit zwei dünnen Holzstäbchen die auf der Pfanne tanzenden Kohlblätter. Fo-lis zweijährige Anwesenheit in diesen Wänden hatte die ganze Familie verändert, wie ein Tropfen Tinte einen Eimer Flüssigkeit färbt. „Gut?" „Sehr gut."
Klappern der Stäbchen, Aufschlagen der Löffel. „Was ist das für ein Brief?" „Ein ganz neuer Brief, hör:
Bei uns in Kanton zieht sich alles zusammen. Der faktische Leiter der Whampoa-Militärschule ist jetzt ein gewisser Tschi-
ang Kai-schek. Er ist gerissen und hart und hat Geldgeber. An diesen Menschen knüpfen sich jetzt eine Menge Erwartungen und Befürchtungen. Dieser Tage wird Dich mein Bruder besuchen, ich bitte Dich, hilf ihm -"
Fo-li brach ab und lachte: „Soll ich weiterlesen?"
„Ja, lies."
„Er war früher ein sehr weicher Mensch - ,sag selbst, bist du ein weicher Mensch?'" Liau lachte: ,,,War' und ,früher', heißt es im Brief! - Weiter."
„- Vollgestopft mit Gelehrsamkeit. Aus seinen Briefen sehe ich, dass er anfängt, nachzudenken. - ,Fängst du an, nachzudenken?' "
„Ja, ich fange an."
„Es liegt mir sehr viel daran, dass er mit Dir zusammenkommt - ,Also, Liau, bleibe hier, du kannst hier wohnen. - Wie, er kann doch?'"
„Gewiss, kann er."
„Hier kannst du viel lernen. Deutsche Parteiarbeit, wie man Menschen zusammenhält. Wann willst du heimfahren?"
„Sobald das Geld da ist."
„Hab es nicht so eilig. Es gibt auch hier viel zu tun. Wer von uns nach dem Westen fährt, hat die Pflicht, viel Wissen nach Hause mitzubringen."
„Schlaf bei deinen Eltern", wandte sich Fo-li an die junge Frau, „lass Liau und mich beisammen, wir brauchen diese Nacht zum Durchschwatzen.
Die nächste Woche wohnst du allein hier. Wir fahren nach Rotterdam, Treffen chinesischer Seeleute. Das Treffen ist beschickt von Vertretern der Rechten Kuomintang im Ausland. Wir müssen alles dransetzen, unsere Landsleute über die wirkliche Lage aufzuklären. Wir haben einen schweren Stand. Ich wünsche, du wärest schon ebensogut eingearbeitet wie meine deutsche Genossin, hörst du?"
Liau Han-tschi, mit dem Rücken zum Zimmer, betrachtete die Höfe: tiefe Schatten auf dem Pflaster, Licht im Büro der Spinnerei, und der Himmel eigentlich noch ganz blau. Aber der blaue Streifen zwischen den Dächern, der schattige Hof, das Licht, alles erschien Liau nicht wie die Wirklichkeit selbst, sondern wie ihre Erinnerung. „Vor langer Zeit, bei der Heimreise, habe ich mal bei meinem Freund Fo-li in Berlin, in Deutschland, übernachtet. Ich stand am Fenster in einem Zimmer, in welchem die Bilder von Liebknecht und Rosa und Tschen Tu-hsiu nebeneinander hingen. Ich kann mich sogar noch erinnern, dass es Abend war und drunten im Hof eine Laterne brannte."
„Hast du gehört", zupfte ihn Fo-li am Ärmel, „ich wünsche, du wärst hier halb so gut eingearbeitet wie meine kleine deutsche Genossin."
„Ist das gut für dich, mit ihr zusammen?"
„Gewiss ist es gut. Sie hat sich ganz mit mir eingearbeitet. Fährt mit nach Rotterdam, versteht unsere Sprache. Sieh doch selbst, wie sanft und gut sie ist. Überhaupt, sie und ihre Familie, das ist ein gutes Nest."
„Du hättest dich in diese Stadt nicht tiefer hineinwühlen können."
„Das hab ich auch gewollt, das hab ich für meine Pflicht gehalten."


III
Als Frau Bordoni abends aus dem Hotel kam, in dem sie über Tag Aufwaschstelle hatte, und in die Rue Mazarine einbog, um ihren Mann abzuholen, der Konzession hatte für einen Obstwagen Rue Mazarine, Rue de Seine, da erblickte sie zu ihrer Verwunderung einen ganzen Auflauf um den Karren. Sie war beunruhigt, denn Bordoni war kein großer Anpreiser von Waren, sondern schwatzte lieber und döste und wartete, bis jemand von selbst Lust auf Feigen und Knoblauch hatte. Wie sie näher kam, da erblickte sie mittendrin das kleine, runde, sanfte Gesicht von Pali; ihr Herz blieb vor Schreck stehen. Sie dachte, näher kommend: Der hat mir grad noch gefehlt. Der wird ihm den letzten Rest geben, der wird dem Bordoni seinen letzten Verstand aus dem Kopf reden.
Sie puffte sich durch, begrüßte Bordoni nicht, schien Pali nicht zu sehen. Sie begann sofort, den Karren abzuräumen. Die Männer blieben um den leeren Karren stehen. Pali versuchte angestrengt, ihnen etwas klarzumachen. Er wiederholte in einem fort die französischen und italienischen Brocken, die er wusste -¦ aber seine Hände erfanden immer neue, eindringliche Bewegungen. Verwickelt in Palis Hände, horchten die Männer geduldig, als lohne es sich, hinter seine Worte zu kommen, Männer aus den Werkstätten der Rue Mazarine, die zum ersten Mal an dieser Ecke mit ihm zusammentrafen.
Frau Bordoni packte den leeren Wagen an den Deichseln und zerrte ihn in den Hof. Jetzt bröckelten die Menschen wirklich auseinander und gingen heim.
Drinnen im Hof drängten sich die Weiber aus den Nachbarhäusern um Frau Bordoni und handelten um die Reste von Gemüse und Obst, die vor der Nacht abgesetzt wurden, damit sie nicht verfaulten. Frau Bordoni hatte einen kurzen Blick in das Gesicht ihres Mannes geworfen. Er hatte das Gesicht, das er die letzten Monate in Paris trug, wo er ganz gut verdiente, plötzlich an diesem Abend gegen das Gesicht ausgewechselt, das er in Bologna vor ihrer Ausweisung getragen hatte. Mit niedergeschlagenen Augen, mit zusammengepresstem Herzen feilschte sie wie verrückt. Sie war erschöpft, ihr Kopf, ihre Stimme, ihre Beine, alles war bis aufs Mark verbraucht. Einen Augenblick blitzte in ihr ein Gedanke auf, den Korb umzustülpen, mögen sie sich ihre verdrückten Feigen vom Pflaster auflesen, sie wird indessen an den Kai gehen und ihre morschen Beine in die Sonne strecken. Aus ihren vor Ekel zusammengepressten Lippen zischten spitzige Zahlen. Umsonst, umsonst wollen sie alles von ihr haben, diese frechen französischen Weiber, vom Hotel die Patronin, das gemeine, stinkende Frauenzimmer.
Schluchzend vor Müdigkeit, die Fäuste voll Kupfergeld trat Frau Bordoni in die Tür. Am Tisch beim Essen saß die Familie des Patrons. Auf ihrem eigenen Bett saßen Bordoni, Pali und zwei junge Burschen aus der Nachbarschaft. Bordoni sagte unsicher: „Seht mal, wen ich da mitbringe. Ich sehe bei Chazelle hinein, und da sitzt unser Pali." Pali dachte belustigt, dass die Frau ihn am liebsten mit Krallen und Zähnen verjagt hätte. Bordoni sagte: „Gib mal was zu beißen her, Katarina, wir haben Hunger." Frau Bordoni sagte: „Alle vier?" Der Mann erwiderte nichts. Sie schämte sich jetzt, weil sie gefragt hatte, alle vier, hätte am liebsten einen ganzen Kübel voll Fleisch und Suppe auf den Tisch gebracht. Aber dann stieß sie die Teller vor die Männer hin wie vor Hunde. Pali dachte: Warum ist sie nicht besser geworden? Wenn ich italienisch verstünde, könnte ich öfters mit ihr reden und ihr viel erklären. Er liebkoste die Kinder, aber sie lächelte nicht. Der Junge lehnte sich an seinen Vater und betrachtete ihn stumm. Aber Giulia prustete vor Lachen, weil sie ihn erkannt hatte. „Bleibst du für immer hier?" - „Nein, nur einen Tag." Frau Bordoni war erleichtert - wenn der nur bloß mal wieder draußen war. Pali sagte: „Gehst du morgen mit? Bordoni sagte: „Weißt du, ich muss etwas achtgeben. Wenn sie mich irgendwo sistieren, dann nehmen sie mir die Konzession für meinen Stand weg." - „Wenn du darauf achtgibst, kannst du nie und nirgends mitgehen."
Bordoni erwiderte nichts, fast den ganzen Abend hörte er schweigend zu, quälte sich. Die ersten Wochen nach seiner Ankunft war er immer überall dabeigewesen. Seine Frau und seine Kinder hatte er einzeln bei Genossen untergebracht. Dann hatten sie Arbeit gefunden, waren wieder zusammengezogen. Die letzten Wochen war er nur selten ausgegangen, allmählich hatte er sich gefürchtet, sistiert, zurückgeschickt und eingesperrt zu werden.
Die Frau dauerte ihn, er trug ihr das Geschimpfe nicht nach. Eine gewöhnliche Frau, gewöhnliche Kinder, ein Korb voll Wäsche, eine Konzession auf einen Obstwagen. In diesem Augenblick begriff er nicht mehr, was er im vorigen Augenblick zu verlieren gefürchtet hatte.


IV
Auf der Halde, in die der morsche Wall hineingebröckelt war, standen Stojanoff und sein Weib und mähten. Das winzige Geviert Erde, das ihnen gehörte, hing fast senkrecht auf der Bergwand. Mit jedem Sensenschwung sah es aus, als flögen sie ab, in den niedrigen, nicht allzu entfernten Herbsthimmel. Aber Stojanoff verlor den Boden nicht unter den Füßen. Seine Sense stieß niemals auf den Stein, wie mächtig er auch ausholte, traf immer haarscharf jeden Grasbüschel im Geröll. Stojanoff stieß einen dumpfen, klagenden Ton aus, sein Weib folgte sofort mit einem leichten Schwung und einem höheren Ton. Es waren immer die gleichen Töne, doch klangen sie jedes Mal wie der Ansatz zu einem stürmischen Lied, das aus irgendeinem Grund stets an derselben Stelle abgebrochen wurde. Stojanoffs Weib war unansehnlich, klein, struppig, verknorpelt. Unter dem hochgebundenen Rock waren die nackten, zu kurzen Beine, gleichförmig gedrungen von den Knöcheln bis zu den Knien. Aber ihre Zehen waren geschickt und beweglich, und ihr Blick war hell und listig. -Sie wollte mit ihrem Kind auf den Winter nach Varna. Da wollte sie eine Ziege unterstellen und Futter dazu.
Andreas kam herauf und brachte seinen Eltern Brot. Er hatte es schon geteilt, in jeder Hand ein Stück. Er glich der Mutter, klein, struppig, krummbeinig. Seine Zehen waren lang und ungeheuer beweglich, und sein Blick war hell und listig.
Auf einmal waren in der Luft viele Schritte von der Straße her, schwacher Gesang. Andreas lief weg und lief zurück. „Oh, oh, kommt."
Aus dem Dorf, aus der Mahd liefen sie gegen die Straße. Zwei Dutzend Holzfäller rückten langsam, seltsam schlurfend, herunter, in einer dicken Staubwolke. Aus der Wolke strömte dunkler, einförmiger Gesang wie Brummen aus einem Bienenschwarm. Sie rückten näher, erreichten das Dorf. Die Bauern am Straßenrand starrten unwissend, bestürzt. Vier und vier waren aneinandergekettet, vorn und hinten marschierten Soldaten. Stojanoffs Frau rief: „Iwan, Iwan!" Einer der Gefangenen drehte den Kopf und lächelte. Hinter ihr sagte jemand: „Halt's Maul, Weib." Die Frau fragte ihren Mann, mit schrägem, listigem Blick. Der sagte leise: „Ruf!" Die Frau rief, und ihre Stimme traf den Rücken des Gerufenen: „Iwan, Iwan, vergiss uns nie. Nie vergessen wir dich!"
Die Kolonne streifte die Hütten, verschwand hinter dem Massiv des Ködeschfelsens. Stojanoff sagte zu seiner Frau: „Wer war denn das?" Die Frau erwiderte: „Was weiß ich? Ihr Männer wart alle wie zugenagelt. Ich dachte, rufen musst du, ruf nur, wird schon ein Iwan dabeisein."
Die Bauern warteten schweigend vor der leeren Straße. Nichts geschah als schwere Regentropfen, die sie ans Heu gemahnten, an die karge, gefährdete Mahd.
Später ging Stojanoff zu Petscheff hinüber in die Schenke. Es war ungewöhnlich, Montag abend. Er nahm seine Frau, sein Kind und seinen Hund mit. Alle kamen von selbst an diesem ungewohnten Abend. Der Regen rauschte in Strömen.
Das schwache Licht von der Decke über dem Kopf des Wirtes Petscheff blinzelte und erhellte nichts als sein verhasstes Gesicht. Auf das Brett gestützt, das über seine beiden Fässchen gelegt war, war er nur gegen Kupfer bereit, an die Verzweifelten Trunkenheit abzugeben. Wer später kam, legte sich hinter den Ofen, der den Raum in zwei ungleiche Hälften teilte, eine halbdunkle und eine stockdunkle. Da hinten war es gar nicht wie eine Schenke, sondern zwecklos, wie ausgestoßen.
Sie fluchten über den ungerechten Regen, der ihnen die Mahd verdarb, sie fluchten über den nahen Winter, über den Hunger und über das ganze Leben. Sie fluchten über den König, über seine Minister, über alle Herren in goldenen Uniformen und in schwarzen Röcken. Andreas, zwischen den Knien seines Vaters, saugte mit offenem Mund alle Flüche ein. Bei jedem Faustschlag hüpften seine Augenlider. Der Brustkorb seines Vaters dröhnte, als er sich selbst verfluchte, weil er im Herbst 19 sein Gewehr abgeschnallt und auf die übrigen Gewehre des Königs gelegt hatte.
Gewehre. Auf einmal, als ihre Flüche so hart waren, dass man sie packen und schleudern konnte, gerade an dieser Stelle, als sei das Ganze nutzlos und eine Schande in seiner Nutzlosigkeit, brachen sie ab im Fluchen und, abgebrochen, aus, wennschon, dennschon, zupfte eine Hand ein paar Saiten an. Sie seufzten beschämt, erleichtert, als sei eine unerträgliche Last weggenommen, duckten sich zusammen und wiegten sich. Jemand begann mit leiser, aber ganz reiner Stimme:
„Siebenhundert Glocken läuten
abends auf dem Grund des Kjolsees. Siebenhundert Frauen schlafen abends auf dem Grund des Kjolsees."
Die Zither kam in eine andere Hand, zu einer starken, rauhen Stimme:
„Siebenhundert Schwerter klirren
abends auf dem Grund des Kjolsees. Siebenhundert Rosse wiehern
abends auf dem Grund des Kjolsees."
Sie neigten sich allesamt herüber und hinüber, brummten. Nur Stojanoff saß aufrecht, drückte hart das Kind zwischen seinen Knien. Eine Frauenstimme, der man das Erröten anhörte, sagte, mehr als sie sang:
„Siebenhundert Männer kämpfen
abends auf dem Grund des Kjolsees. Siebenhundert Pfeile fliegen
abends auf dem Grund des Kjolsees."
Jemand fuhr fort mit deutlicher, etwas gepresster Stimme:
„Siebenhundert Morgen Weizen
hat der Herr, der Jeffim Lawitsch. Siebenhundert Morgen Wälder hat der Herr, der Jeffim Lawitsch."
Alle stutzten, hörten auf, sich zu wiegen.
„Siebenhundert weiße Huren
hat der Herr, der Jeffim Lawitsch. Siebenhundert goldne Münzen gibt der König jeden Monat seinem Freund, dem Jeffim Lawitsch."
Es war dunkel, sie konnten sein Gesicht nicht sehen. Wenn gemäht wurde, gab es immer ein paar Ortsfremde, Verwandte aus den Dörfern. Er riss ein wenig an den Saiten, seine Stimme hämmerte, deutlich, gepresst:
„Der die Erde durchgerissen und geteilt in ihre Teile, liegt in seinem Grab in Moskau. Doch auf seinem Grabe lauert die Partei und wird nicht müde."
Alle horchten starr mit angehaltenem Atem, nur Stojanoff wiegte sich jetzt, er wiegte das inzwischen auf seinen Knien eingeschlafene Kind. Plötzlich machte Petscheff Licht an, vielleicht, weil er sich fürchtete. Es waren ein paar fremde Gesichter da, nichts Besonderes. Alle sahen sich ähnlich. Blinzelnd, frierend vor Erregung.
Als sie einzeln heimgingen, kam schon der Tag hinter dem Regen auf. Stojanoff trug das Kind, seine Frau kam, der Hund und noch ein Mann.
Stojanoffs Hütte, in die Halde hineingeweicht, verschluckte sie alle. Stojanoff hatte kein Licht, und sein Gefährte fluchte, weil er sich überall anstieß, tölpisch vor Müdigkeit. „Allein an Weg habe ich dreißig Kilometer hinter mir." -
„Leg dich doch."
Er legte sich da nieder, wo er stand. Stojanoff forderte ihn auf, sich an eine bessere Stelle zu legen, aber er war zu müde. Von was klopft denn die Erde in Stojanoffs Hütte? dachte er erschrocken. Dann merkte er, dass er auf seinem Herzen schlief, war aber zu müde, sich auf die rechte Seite zu drehen. Stojanoff sagte: „Dudoff ist jetzt wirklich auf und davon. Es heißt, nach Russland." Der andere wusste, dass nichts an dieser Flucht war. Er sagte noch nichts, sondern ließ Stojanoff weiterreden; obwohl er zu müde war, ein Glied zu rühren, war er nicht zu müde, ihn anzuhören. „Einmal ist Dudoff mit einer Eisenstange, in die man seine Hände gezogen hat, in die Berge gelaufen. An der Marjakoyer Straße gibt es eine Waldschmiede, sie gehört dem Schmied Iwan Dubrow, möge er lange auf dieser Erde leben bleiben. Du wirst gleich begreifen, warum ich ihm ein langes Leben wünsche. Eines Nachts hört Dubrow etwas klappern. Er meint, etwas Eisernes ist umgefallen, steht auf, um nachzusehen. Da steht Dudoff vor ihm mit seiner Stange. ,Wirst du mir die Stange abnehmen, ja oder nein?' - Ja.' Dann aßen sie zusammen ihr Brot, aber Dudoffs Hände waren noch taub, man musste ihm die Bissen in den Mund schieben. Dudoff fragte: ,Weißt du, wer ich bin?' Darauf erwiderte Dubrow nichts. Dudoff sagte: ,Du kennst mich nicht und ich dich nicht. Ich muss fort, ich habe nichts. Ich kann dir nichts anderes zurücklassen als diese Stange.' Dubrow sagte: ,Genug, übergenug. Ich lege diese Stange unter meine Schwelle, wer heraus- und hineingeht, muss darüber.' So hat es Dubrow gemacht. Ich bin selbst diesen Sommer über seine Schwelle gegangen."
Der andere sagte auch jetzt nichts. Vielleicht schien es ihm, dass Stojanoffs erfundene Nachricht fruchtbarer als seine war, außerdem wusste er nicht, ob Stojanoff zu ihm oder Andreas gesprochen hatte. Denn jetzt, wo es hell wurde, merkte er erst, dass Andreas die ganze Zeit zwischen ihnen lag. Stojanoff sagte in verändertem Ton: „Die hören nie mehr auf, uns zu jagen, seitdem dort unten in Sofia ihre Kirche in die Luft geflogen ist. Wo soviel Blut fließt, sollte man denken, kommt es auf dieses Blut nicht an. Es gibt noch viele Dudoffs. Aber wie sollte es gerade auf Dudoffs Blut nicht ankommen?"
„Als er seine Rede beendet hatte, zogen die Delegierten der Großbetriebe in bewaffneten Formationen an der Tribüne vorüber. Achtzigtausend Menschen. Sie trugen alle Patronengürtel und Gewehre. Ein Arbeiter nach dem andern betrat die Tribüne. Eine Wolke von Flugzeugen kam über den Himmel gesaust. Dieser Tribüne gegenüber, auf einer andern, besonderen Tribüne, saßen die Gesandten aller Nationen, und sooft ein Redner den Staat der Arbeiter und Bauern hochleben ließ, waren sie genötigt, die Hand zu erheben."
Nikoloff brach ab. In dem steinernen Gang, der die Kasematten voneinander trennte, dröhnten die Schritte einer Patrouille. Es war um diese Zeit verboten, zu sprechen. Die Schritte näherten sich der Tür und entfernten sich gegen den Kreuzgang zur Ablösung. Ein Kommando rollte den Gang herunter, lärmend wie eine Kegelkugel. Im Kasernenhof ertönten Hornsignale, ein langes und zwei kurze. Nikoloff hatte sich flach ausgestreckt, er horchte zum ersten Mal auf alle Töne, die nun Abend für Abend kamen, vielleicht auf Jahre. Er war vor zwei Monaten aus Russland zurückgekommen und beinahe sofort verhaftet worden. Als alles fertig war - als sei Nacht endgültig beschlossen -, fuhr Nikoloff fort:
„Vor dem Leningrab steht Tag und Nacht eine Menschenschlange, sie nimmt niemals ab. Ich habe mich oft eingestellt -
Die neue Ernte drüben verspricht gut zu werden -"
„Weiter, weiter." - Sie lagen je drei übereinander, rechts und links. Der Mann, der gegenüberlag, drehte ihm das Gesicht zu. Nikoloff konnte sein Gesicht nicht erkennen, es. war vollkommen dunkel. Er wunderte sich, woher trotzdem die hellen Punkte in diese Augen kamen. In der vollkommenen Finsternis hatte keins Lichter außer des anderen Augen. „Unser Parteikonflikt ist beendet. Man hat sie alle miteinander vorgeladen. Schließlich ist es zu einer Einigung gekommen, und zwar folgendermaßen -"
Dudoff spürte es selbst, wie seine Augen brannten. Der neue Genosse starrte ihn unverwandt an, auch seine Augen glänzten, so schien es Dudoff, in drohendem, unerbittlichem Glanz. „Man hat der Minderheit zugebilligt, einen Delegierten ins Komitee zu schicken. Also ist es jetzt so verteilt:------" In diesem Augenblick fasste Dudoff den Entschluss, als hinge es von seinem Willen ab, am Leben zu bleiben. Nikoloff brach ab. Man hörte wieder Schritte, aber nicht nebenan, sondern im nächsten Laufgang. Auf einmal fragte Dudoff mit gepresster, seiner alten ganz unähnlichen Stimme: „Wer macht jetzt meine Arbeit in der Prutka?" Seine Gefährten krümmten sich zusammen, das waren Dudoffs erste Worte. Schrecklicher als alles andere war es, Dudoff zwischen sich zu haben, ihn verkommen und verfallen zu sehen. Jetzt drehte sich die Zelle um ihre Achse. Nikoloff, der nicht so erregt war, erwiderte: „Ich glaube, Kondoff." Dudoff sagte: „Ist das der Kondoff, der früher in Plevna war?" - „Ja, es wird derselbe sein." Dudoff fragte nichts mehr. Es wurde überhaupt still. Jemand knetete stöhnend seine Füße.
Dudoff dachte an die Flucht. Er dachte an die Vergangenheit - nicht an eine Möglichkeit, zu fliehen. Seine Flucht in die Berge mit einer Eisenstange, die letzte Fahrt auf dem Boden des Waggons - einschlafend vermischte sich spielend Unvermischbares. Aber selbst im Traum verließ ihn keinen Augenblick der Gedanke, dass von ihm verlangt wurde, wenn es nur eine Möglichkeit gab, zu fliehen und weiterzuarbeiten. Sein ganzer Körper sträubte sich, wünschte sich nichts, als endlich liegenzubleiben, wo immer, wie lange immer, sieben Jahre, zehn Jahre, lebenslänglich.


V
An einem Abend des Sommers 26 machte die Parteizelle 15/16 Haus- und Hofpropaganda in Berlin um das Schlesische Tor.
„Da drüben", deutete der Zellenleiter auf einen Häuserblock. Gerade als er „da drüben" sagte, gingen in zwei oder drei Fenstern Lichter an. Sie gingen durch die Torfahrt in den ersten Hof. Innen war es schon dunkel. Helle Fenster klebten wie Pflaster auf den kahlen Wänden. Der kranke weißliche Himmel sah aus, als müsste Mörtel aus ihm herunterfallen auf die kleine Gruppe atemschöpfender Menschen, drunten auf dem Viereck.
Ihre Stimmen setzten ein, die Parole knallte in den Hof, im nächsten Augenblick waren die Fenster gesprengt, Männer und
Frauen guckten heraus, wütend, erstaunt oder begrüßend, alle Zimmer, alle Löcher warfen ihr Innerstes in den Hof, fluchend, schimpfend, beifällig.
Drei oder vier aus der Gruppe gingen sofort weg in die Stockwerke. Bató ging mit einer ganz alten Genossin, die auf jedem Absatz schnaufte, aber immer flink weiterstieg und ihn antrieb.
Mit der ihm eigenen, brennenden, ihm selbst schmerzhaften Aufmerksamkeit starrte Bató in die Türspalten, in die Gesichter der Einwohner, horchte auf die Antworten.
Vor einer Tür stand ein junger Bursche, wartete und lachte.
„Guten Abend, Bató!"
„Böhm! Was, wieso bist du hier?"
„Weil ich hier wohne."
„Wie, hier wohnst du?"
„Ja, warum soll ich nicht hier wohnen? Ich habe dich unten im Hof stehen sehen und auf der Treppe gewartet, bis du an meine Tür kamst. Verkauf deine Hefte fertig. Dann warte auf der Straße, ich gehe ein Stück mit."
Auf der Straße wechselten sie die Sprache und sagten auch Sie zueinander. Bató wunderte sich, dass sich ein Mensch so verändern konnte. Böhm war förmlich in das Haus hineingewachsen. Böhm wunderte sich, dass sich ein Mensch so wenig verändern konnte. Noch immer war Bató der kleine vergilbte Hochschullehrer.
Nun erzählte Böhm von seinem Häuserblock. Er kannte die Zusammensetzung der Bewohner, ihre Berufe, Einzelheiten aus ihrem Leben. Seit er hier wohnte, hatte er so oft die Straßenecken mit Plakaten bekleben helfen, Flugblätter verteilt und Versammlungen beigewohnt, dass es keine Häuserwände und keine Gesichter gab, die er nicht kannte. Ja, er wusste sogar alle Ereignisse, die die Straße betroffen hatten, bevor er selbst hierher gekommen war. Bató hätte ihn beneidet, wenn ihm Böhm nicht auf besondere Art teuer gewesen wäre. Man beneidet nicht einen Sohn, wenn er das erreicht, was man selbst nicht erreicht. Er fragte: „Mit unseren Leuten kommen Sie wenig zusammen?"
„Dann und wann, mit einzelnen fast nie. Zum Glück", setzte er lachend hinzu. „Hören Sie etwas von Faludi?" - „Ja, der ist doch hier." - „Was, Faludi ist hier?" - „Ja, haben Sie das nicht gewusst? Er ist lange abgehängt, das wissen Sie doch. Das war eine böse Sache. Er war immer gewohnt, im Brennpunkt zu stehen, in einer Arbeit, wo es scharf auf scharf ging, auf Tod und Leben. Wo der Mensch ganz deutlich gesehen wird. Wenn die Lage nicht danach war, wenn es keine solchen Aktionen gab, dann versuchte er, sie herbeizuführen."
„Ich habe mal gehört, man hat ihm seine Funktion abgenommen."
Böhm wunderte sich jetzt, dass er nie mehr nach Faludi gefragt hatte. Seitdem er hier lebte und eingewurzelt war, vermied er es, auf die Vergangenheit zu stoßen, als drohe ihm von dort eine Gefahr.
„Was macht er denn jetzt?"
„Gar nichts mehr, irgend etwas Belangloses. Redaktion."
Böhm lachte. „Ich kann mir Faludi schlecht als Redakteur vorstellen. Wenn er in ein Zimmer eintrat, hatte man immer das Gefühl, er hätte draußen ein Pferd angebunden."
„Jetzt hat er kein Pferd mehr angebunden."
„Und Steiner?"
„Sitzt in einer kleinen Universitätsstadt. Schreibt mir manchmal einen Brief, dass er es nicht mehr aushält und im Begriff ist, abzufahren. Aber er wird bestimmt nicht fahren."
Böhm hörte nur noch halb mit zu. Er hatte keine Lust, weiterzugehen. Er erinnerte sich an endlose Gespräche in Batós Zimmer in Wien, an quälende, sinnlose Streitereien. Die streiten sich gewiss noch immer über die alten Scherben. Wie kann sich ein Mensch so wenig verändern. Bató dachte: Soll ich ihn fragen, ob er heute abend mit mir kommen will? Aber Böhm hat sicher alle Abende über und über ausgefüllt. Weshalb soll er gerade mit mir in meinem Zimmer sitzen?
Sie warteten nebeneinander an der Haltestelle, nachdenklich. Aus verschiedenen Richtungen kommend, schnitten sich ihre Gedanken in einer Frage, die der Ältere aussprach: „Haben Sie Rákosis Rede vor dem Standgericht gelesen?" - „Gewiss, ja." Beide hatten unablässig darüber nachgedacht, seit Rákosis Rede vor dem Militärgericht in Budapest am vorigen Tag. Sie dachten auch gleich wieder darüber nach, aber schweigend, nebeneinander.
Böhm fing noch einmal an: „Ihm ist es wirklich ziemlich gelungen, alles zu sagen, was heute einer von uns sagen muss, bevor man ihn in ein Grab oder eine Zelle einsperrt."
Bató sagte: „Ja, ihm ist das gelungen."
Als sie sich verabschiedeten, fragte Böhm zum Abschluss: „Und Sie, was machen Sie?"
Bató erwiderte: „Ich habe meine kleine Stelle in der Redaktion der ,Neuen Welt'. Nach wie vor. Sonst mache ich nur die geläufige Parteiarbeit. Seit einigen Jahren habe ich nichts mehr geschrieben." Auf einmal bekam er Lust zu sprechen, weil es dann belanglos wurde, in Böhms junges, ruhiges Genossengesicht. Böhm hörte gleichmütig mit zu, widerwillig. Jetzt fängt er bestimmt von sich selbst an, findet kein Ende.
„Können Sie sich das vorstellen, ich quäle mich ab, nutzlos. Ich fühle förmlich eine taube Stelle, hier, körperlich, wo früher meine Gedanken herauskamen. Ich habe doch keine andere Möglichkeit, mich auszudrücken. Können Sie das begreifen?"
Böhm betrachtete ihn von der Seite. Eine flüchtige Erinnerung stieg in ihm auf, wie man einen Menschen langsam wieder erkennt, der einem einmal einen großen Dienst geleistet hat, dessen Angesicht und Gebärden aber nichts Außergewöhnliches hatten, um sich scharf einzuprägen. Sie gingen langsam nebeneinander die Straße hinunter. Bei jedem Schritt, mehr und mehr, als trüge Bató diesen Stoff in seiner Gestalt mit sich, sickerte die Vergangenheit in Böhms Denken. Er bereute, dass er Bató fast gewaltsam vergessen hatte; vergessen, dass Bató sein Lehrer war. Ihn, den kleinen Studenten, hatte er damals gepackt und gerüttelt und nicht lockergelassen. Als hätte sich mit einem Schlag Gerechtigkeit seines jungen Herzens bemächtigt, sah er Bató wie er war: ein kleiner, vergilbter Mann mit vor Müdigkeit zitternden Backenknochen. Nur seine Augen brannten mit unverminderter, schmerzhafter Aufmerksamkeit, doch auch sie brannten hinter trüben Brillengläsern.
Die Bahn kam. Am liebsten hätte Böhm gefragt, ob er mitfahren könnte, aber er dachte: Bató hat sicher alle Abende besetzt. Warum soll er sich gerade mit mir in ein Zimmer setzen?
Bató stieg also allein die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er zögerte vor der Tür, jeden Abend drehte er unschlüssig die Klinke in der Hand. Hineingehen oder für ganz fortbleiben?
Er trat ein. Marie saß wie immer auf dem gleichen Fleck und nähte. Andris hatte sich aufgerichtet und starrte seinen Vater an. Bató betrachtete alles kalt und höflich, wie man eine Umgebung betrachtet, mit der man gezwungen ist, in engem Raum eine weite Strecke zu reisen. Marie ging sofort leise hinaus und brachte einen Teller voll dampfendem Essen. Das ganze Zimmer füllte sich mit scharfem Geruch. Bató aß gierig, in dieser Minute erschien ihm der Geschmack des Essens die einzige Wohltat. Marie trug den Teller hinaus. Bató setzte sich unter die Lampe, Marie kam zurück und nahm ihr Nähzeug. Aber jetzt erschien ihm der Lichtkreis der Lampe quälend eng für die Frau und ihn. Marie rückte auch von selbst heraus. Dann sagte Marie, und man hörte ihrer Frage an, dass sie Angst vor der Antwort hatte: „Entschuldige, dass ich dich etwas frage, vielleicht willst du nichts davon sagen. Sage mir doch, ob dir etwas Schlechtes geschehen ist."
Bató antwortete nicht gleich, dann erwiderte er ruhig, etwa so, wie er vorhin Böhm erwidert hatte: „Es ist nichts Besonderes geschehen, es quält mich, dass ich nicht arbeiten kann."
Marie sah erleichtert aus, als hätte sie ein größeres und sonderbares Unglück erwartet: „Was wirst du jetzt machen?"
„Ich weiß nicht, vielleicht nach Russland fahren." Marie sagte: „Bald, mit uns allen." Bató sagte: „Du sollst nicht mitgehen, Marie. Willst du nicht mit den Kindern zu deiner Familie zurückkehren?" Marie wurde weiß, es war, als erkenne er erst jetzt auf schneeweißem Grund ihr wirkliches Gesicht. Sie sagte: „Ich weiß, dass du uns wenig liebst. Aber ich habe nicht gewusst, dass du deine Kinder gar nicht liebst. Niemals, ob du weggehst oder nicht, werde ich mit deinen Söhnen in dieses Land zurückkehren." Bató erschrak. Er sagte: „Es ist nicht wahr, dass ich euch wenig liebe. Aber du weißt, dass es etwas gibt, das ich viel mehr liebe."
Marie sagte leise: „Du hast nie Freude an uns, warum denn nicht? Sieh mich doch an." Sie stand auf, als ob sie ihm ihre Gestalt zeigen wollte. Bató trat auf sie zu und küsste sie.
Später, als sich die Frau niedergelegt hatte, setzte sich Bató an seinen alten Platz. Er beschloss, nicht eher aufzustehen, bis er seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte. Andris beobachtete ihn mit einem zugekniffenen Auge. Auf was wartet er eigentlich? dachte er, und er dachte weiter: Jetzt ist es schon ewig, schon unglaublich ewig her, dass fremde Männer plötzlich heraufgekommen sind und alles zerwühlt und zerschlagen haben und ihn dort, ihn dort mitgenommen. Bató verstand es tagsüber nicht, mit seinem Sohn zu sprechen, doch in diesem Augenblick waren ihre Gedanken die gleichen.

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