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Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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Elftes Kapitel

Eines Nachts erhob sich der Bauer Tien Shi-li, denn er spürte im Schlaf vom Kopf bis zu den Zehen, dass der Zeitabschnitt angebrochen war, in dem man den angekündigten Boten aus Schanghai erwarten konnte.
Vor einigen Tagen hatte sein Enkelsohn die Nachricht gebracht, dass die beiden aus dem Süden abgeschickten Männer, die den Boten in Schanghai abholen und zurückbringen sollten, von Soldaten am Hou-Flüßchen festgenommen und wahrscheinlich erschossen waren. Tien und sein Enkel rechneten aus: Der in Schanghai wird zwei, drei Tage warten, dann aber, da sein Auftrag dringend ist und er vor der Offensive durch muss, wird er allein aufbrechen, nach der vereinbarten, von Dorf zu Dorf bestimmten Route, das wird drei bis, vier Tage dauern.
Tien Shi-li weckte mit seinem schweren, unter Ächzen und Rascheln sich aufrichtenden Körper die ganze Familie. Kaum kamen sie hoch und wimmelten durcheinander, da lag auf ihren Nacken und Stimmen schon der unermessliche Druck des neuen Tages. Alle wussten, in der eben endenden Nacht waren wieder Hunderte von Soldaten über den Strom gesetzt. Die Alten aßen gar nichts oder schweigend. Man hörte das gierige, beinah rasende Schmatzen der Kinder, ihr dünnes Winseln um mehr.
Dann öffnete sich die Hütte auf die bräunliche, wellige Erde, und alle Menschen gingen arbeiten. Tien voraus, sein Sohn und sein ältester Enkelsohn, alle drei gleich groß, beinahe brüderlich, Weiber mit Hacken und Körben und Kindern. Sie überquerten miteinander zwei flache Erdwellen. Aus den Bewässerungsringen war das Wasser in einen kleinen See gelaufen, in dem sich der rosaflockige Himmel spiegelte: ein Granattrichter. Nicht allzu weit weg, gegen den Rand eines größeren, gleichfalls mit Wasser angefüllten Trichters, als hätte es noch einmal saufen wollen, kroch ein elendes, unterwegs gestorbenes Dorf, Stücke leerer Hütten, die bereits in die Erde hineinfaulten. Die Familie machte sich wild über ihr unversehrtes Stückchen Land her, um ihm vor der Ankunft der Soldaten noch etwas Gutes anzutun.
Mittags richtete sich Tien Shi-li zum ersten Mal auf. Gegen sein Dorf kamen ein Dutzend Leute mit Stangen und Körben. Sie kamen vom Hou-Flüßchen, von der Fähre, einige Stunden weit weg. Tien umflog die wohlbekannten Umrisse dieser Leute. Es war kein fremder Strich dabei. - Zum ersten Mal seufzte er über den vergebens Erwarteten, um das vielleicht verlorene Leben. Aber sein Sohn, schon wieder über die Erde gebückt, sagte: „Der kann noch lange kommen." Abends stellte Tien den Napf für den Gast bereit, wehrte mit der Hand die Fliegen weg, horchte. In der Nacht kamen Schritte von Menschen, die vielleicht das letzte Boot verpasst hatten. Bevor Liau klopfen konnte, war die Tür von innen geöffnet. Liau setzte sich und aß; die Kinnbacken der Familie Tien bewegten sich zu seinem Essen. Trotz seinem Hunger und seiner Erschöpfung fühlte er mit jedem Atemzug mehr Sicherheit.
Tien Shi-li sagte: „Du bist hier dreiviertel sicher. Die Hütten rundum sind alles wir.
Mein Sohn wird dich nach Tsi-I bringen. Das war vor dem ersten Feldzug der Sitz der Sowjets für unseren Bezirk. Das nördlichste Dorf war das, aus dem du kommst, an der Anlegestelle. Die Nordarmee hat aber überall ihre Verwalter und Spitzel eingesetzt. Wenn die Soldaten erst nicht mehr hinter dem Hou-Fluß stehen, dann wird unsere Einteilung genauso werden, wie sie vorher war."
Am Morgen ging Liau mit dem Sohn fort. Ihre Schritte passten sich gut einander an. Sie bedauerten beide, dass sie in ihrem Leben nur einen Weg von wenigen Stunden zusammen hatten. Liau erzählte von Russland. Sein Begleiter hörte gierig mit zu. Liau gab ihm auf Jahrzehnte Stoff zum Nachdenken. Der Sohn erzählte: „Du musst in Tsi-I nach dem Nagelschmied A-Sen fragen. Zwar ist die Verwaltung dieses Ortes von Tschiang Kai-schek eingesetzt, sie guckt jedem auf die Finger, aber niemand hat A-Sen angezeigt; wer wird auch sein eigenes Gesicht verschandeln? Dieser A-Sen ist der Führer einer starken roten Formation. Nach allem, was man erzählt, wird er bald wieder seine Schmiede verlassen müssen und die Seinigen zusammenholen."
Sie trennten sich vor Tsi-I. Der Nagelschmied war ein kleines, zerknittertes, schwärzliches Männchen. Seine Schmiede war voll Kunden, als Liau hereinkam. Er reparierte allerlei altes Eisenzeug. Nur am Hochziehen seiner Brauen merkte Liau, dass er begriffen hatte, wer der neue Kunde war. Liau verbrachte die Nacht in der Schmiede. Als sei es zwischen ihnen ausgemacht, fragte keiner den andern. A-Sen sagte nur: „Der Hol-See ist eigentlich eine Erweiterung unseres Flüsschens. Die letzten Einschläge der Kanonenboote auf dem Jangtse sind nie auch nur ein einziges Mal weiter als bis in den Hol-See gekommen. Am anderen Ende des Sees liegt das Dorf Li Tung. Wenn du dort bist, kannst du dich als angekommen betrachten."
A-Sen rappelte schon in der Frühe mit seinem Eisen herum, stocherte an seinen alten Zangen und Nägeln, untersuchte rostige Bütten auf ihre Dichtigkeit. Als Liau aufbrach, war die Werkstatt bereits voll mit allerlei Leuten, die die merkwürdigsten abgenutztesten Gegenstände aus Eisen brachten, schwatzend um A-Sen herumstanden. Liau ging fast unbemerkt, ohne Abschied, aus der Schmiede.
Es war besser, keine Fähre mehr zu besteigen. Er kam noch durch drei oder vier Dörfer, am linken Ufer des Hol-Sees. Er machte nirgends Rast. Zuletzt machte er einen Bogen, weit vom Ufer ab, um keinen Grenzwachen der Regierungstruppen zu begegnen, und kehrte erst bei Einbruch der Nacht auf einem Umweg an den See zurück. Er erreichte ein größeres Dorf. Er war sich im Zweifel, ob er sein Ziel schon erreicht hatte, wagte aber niemand zu fragen. Nachdem er einige Minuten durch das schlafende Dorf gestrichen war, erblickte er auf einem großen hölzernen, neu errichteten Gebäude eine Aufschrift: „Sitz des Sowjets sowie der Schule des Dorfes Li Tung." Auf dem Dach steckte eine Fahne, die freilich von der feuchten Nacht verkrumpelt war. Liau gab es einen Ruck. Einen ähnlichen Ruck wie vor Jahren, als er im Norden zum ersten Mal die russische Grenze durchfahren hatte. Aber dieser Ruck war stärker. Eben war die Erde, auf der er gegangen war, noch ein dunkler und unsicherer Schauplatz gewesen; jetzt war sie Grund und Boden seines Lebens. Er klopfte an die Tür des Holzhauses. Drinnen wurde gebrummt, ein Licht huschte an zwei, drei Fenstern vorüber. In dieser Minute des Wartens dachte Liau an seinen Bruder. Aber der schmerzte ihn nicht mehr. Er dachte auch an seinen Sohn. Gewiss war er gesund und stark. Er brauchte ihn ebenso wenig wie er ihn. Das Licht ging wieder aus, vielleicht weil er nicht gerufen hatte. Liau klopfte ärgerlich zum zweiten Mal mit beiden Fäusten an die Tür: „Ho, ho, ihr da drinnen! Hört ihr! Entschließt euch! Macht auf!"


II
Wo wir auch hingeblasen werden, dachte Pali, diese Bordonis und ich, irgendwo rutschen wir doch mal zusammen in eine Kuhle. „Kennen Sie hier jemand im Haus, der Bordoni heißt?" _ „Da müssen Sie eins von den Weibern fragen, die wissen alles."
Pali suchte im Hof herum. Er stieg die Treppen hinauf und herunter und wollte es schon aufgeben. Endlich hieß es: „Bordoni, es gibt so etwas im zweiten Hof links."
Wie Pali im zweiten Hof links suchte, da stand im Kellerfenster ein Gestell mit Knoblauchkränzen. Das kam ihm bekannt vor. Er rief in den Keller hinunter: „Bordoni!" Eine Frauenstimme antwortete: „Was gibt es denn?" Pali lachte. Jetzt hockt sie da unten und guckt herauf und sieht meine Fresse im Kellerloch, da wird ihr der Schreck in die Glieder fahren.
Eine Antwort kam nicht, aber er hörte Schritte, und gleich darauf wurde die Kellertür aufgemacht. •
Et musste sich wohl auch verändert haben, denn Frau Bordoni erkannte ihn nicht gleich, sondern blinzelte, geblendet vom Abendlicht, das über die Kuppel von Ste-Cathérine über die Dächer von Brüssel strömte, aus den goldenen Rillen der Dachkanten auf das Hofpflaster tropfte. Auch er hätte sie kaum wieder erkannt. Sie war mal anmutig gewesen, das war jetzt weg. Schon das letzte Mal war nichts mehr davon übrig gewesen, aber jetzt konnte man überhaupt nicht mehr glauben, dass etwas davon dagewesen war. Aus ihrem Gesicht war das fahrige, graue Haar in zwei Büscheln hinter die Ohren geklemmt. Nur die Ohrringe klapperten noch immer, als hätte sie vergessen, sie abzulegen.
Dann erkannte sie Pali und lächelte. Nicht nur über ihr Gesicht, durch die ganze Frau Bordoni lächelte es bis in ihre Füße, bis in die Fingerspitzen ihrer ausgebreiteten Arme. „Bist du's denn wirklich, Pali? Komm herein."
Unten war es schon fast dunkel, bis auf einen schmalen gelben Sonnenstreifen, der den Boden in zwei Teile teilte. Eine Holzlatte trennte den Raum vom übrigen Keller; von der anderen Seite drückten sich Kinder dagegen. Unter der Luke stand ein Korb, der Korb der Frau Bordoni aus Bordesiglio. Ein junger Knabe - nicht allzu viel jünger als Pali gewesen war, wie er die Gasse im zehnten Bezirk verlassen hatte - saß dahinter und las. Kisten waren aufgestapelt, und irgendwo erblickte Pali einen bunten Fleck, den er kannte: Bordonis Decke. „Wo ist Bordoni?"
„Bordoni! Der ist längst weg - nach drüben. So setz dich doch, Genosse, habe es nicht so eilig. Wir werden eins dem andern alles erzählen."
Der gelbe Sonnenstreifen wurde dünn, ein Faden, verlor sich. Hinter dem Holzverschlag, der die beiden Familien trennte wie zwei Sorten Geflügel, entstand die verworrene, unnütze Unruhe eines mürrischen Heimkommens, eines kläglichen Abends. Rechts und links wurde Licht gemacht.
In diesem Augenblick kam es über den Hof gelaufen, die Tür sprang auf, Giulia hüpfte herunter. Sie erkannte Pali und errötete. Sie wusste nichts zu ihm zu sagen, aber sie machte sich mit ihren langen dünnen Beinen und Armen um ihn herum zu schaffen mit den frechen und ängstlichen Bewegungen der Halbwüchsigen, die nicht weiß, ob sie sich der kleinen, selbst noch ungewohnten Brust schämen oder sie zeigen will.
„Setzt euch doch", sagte Frau Bordoni zu Pali und ihren beiden Kindern. Sie machte den Korb auf, holte das Brot heraus, das oben lag, und pflückte aus dem Knoblauchkranz ein paar Zwiebeln. Alle fingen still zu essen an. Pali war es jetzt, als sei er mal wieder daheim. Er hing doch sehr an dieser Familie, auch ohne Bordoni. Er hatte das nicht so gewusst. Die andern spürten wohl dasselbe mit ihm, wenn sie auch nicht viel darüber nachdachten.
„Giulia ist so groß geworden - und ich bin ein kleiner Stups geblieben. Wenn ich wiederkomme, können wir uns lieben."
Giulia lachte auch ein wenig, aber ihre Wimpern zuckten auf, ab - warum nicht schon diesmal?
„Wie, Bordoni ist nach drüben gegangen, für ganz?" „Ja, für ganz. Es war sein allergrößter Wunsch, du kennst ihn ja. Du weißt es ja, ganz aus Eisen ist er nicht, mein Bordoni, man muss ihm oft mal einen Schubs geben, auch bei dem, was er selbst will. Es ist da eine Gelegenheit gekommen - ,Fahr', hab ich gesagt - hat er gesagt: ,Aber du, Katarina, wie willst du das machen, und die Kinder?' Hab ich gesagt: ,Lass mich das machen. Wenn von uns allen eins rauskommt, das ist sehr viel wert. Da häng ich mir ein paar Zwiebelkränze um, stell mich rüber auf den Markt, wo Italiener und Juden kaufen. Fahr du nur und sieh, wie es ist, und wir kommen nach.' Sagt er: ,Das ist so eine Sache mit dem Nachkommen. Da kann dir bald der Atem ausgehen, in dieser Stadt, und noch mal so 'n Winter.' Da hab ich gesagt: ,Mir geht schon der Atem nicht aus, denk nicht an meinen Atem, denk nicht und frag nicht und fahr.' Also ist er gefahren. Was sagst du? Ist es gut, dass er gefahren ist?"
„Nun, für ihn ist es gut! Hat er geschrieben?"
„Geschrieben? Ah, er hat einen Brief geschrieben -"
Sie holte ihn aus der Tasche, machte ihn glatt und gab ihn dem Jungen. „Lies du, er kann so gut vorlesen." Giuseppe, mit schüchternem Gesicht und im glühenden Tonfall seiner Muttersprache:
„Meine teure Katarina! Brigelli und ich, wir sind jetzt sechs Wochen in diesem Land. Man hat uns Plätze gegeben in einer Fabrik, sie macht Maschinen, und man hat uns diesen Platz gegeben, weil die Armaturenwerke in Bologna dasselbe gemacht haben. Die Stadt, in der wir arbeiten und welche drei Tage von Moskau entfernt liegt, in der Ebene, ist noch keine Stadt, nur die Fabrik ist da und Baracken und ein Spital, doch hat man der Stadt schon diesen Namen gegeben, und man weiß, wie groß sie sein wird und wie viele Straßen sie haben wird, und man hat den Punkt hingezeichnet, wo die Schule stehen wird, und auch einen Fluss wird die Stadt bekommen, obwohl noch keiner da ist, man wird ihn von einem andren Fluss wegnehmen.
Du musst aber nicht denken, dass wir hier immer Sonntag haben. Im Gegenteil, unsere Gelenke knirschen. Auch ist das Brot ein merkwürdiges Brot, schwarz wie die Erde und gar keine glatten Scheiben, sondern Brocken.
Jetzt, wo Du meine Adresse hast, schreibe schnell, Katarina. Oft denke ich an Euch, meine Lieblinge. Ist die Stadt da - vielleicht könnt Ihr dann kommen, ich weiß nicht, wie lange es dauert. Ich küsse Dich, Katarina, ich küsse Dich, meine kleine Giulia, und Dich, Giuseppe, Euch alle umarmt Euer Vater."
„Ich weiß, was du jetzt denkst, Pali. - Du denkst, es war nicht recht von ihm, uns allein zu lassen."
„Ja, wenn du's schon selbst sagst - so was Ähnliches hab ich gedacht."
„Aber sieh mal, Pali, die Menschen sind doch keine Bäume -man braucht die nicht erst abzuhacken, kann sie nicht hindern, ihre Füße voreinanderzusetzen. Aber der Brief war gut, wie?"
„Ja."
Frau Bordoni räumte zusammen, schüttelte die Decken aus, schimpfte mit Giulia, die am Tisch sitzen blieb. In dem zarten, mageren Gesicht des Kindes war die untere Hälfte lachend und die obere traurig. Denn Pali dachte jetzt nicht an Giulia, sondern sprach leise mit ihrem Bruder.
„O ja, ich arbeite, ich lese, ich lerne, ich arbeite im Jugendverband."
Frau Bordoni rief dazwischen: „Sehr viel arbeitet mein Giuseppe."
Giuseppe runzelte die Stirn. Bordoni hatte in wenigen seltenen Augenblicken ähnlich ausgesehen. Aus diesen wenigen seltenen Augenblicken seines Vaters war Giuseppes Gesicht ganz und gar gemacht.
„Möchtest du auch hinüber?"
„O ja." Seine Antworten waren ruhig, aber er errötete bei jeder Antwort. „Im vorigen Jahr war Brigelli aus Bologna da, auch andere waren da und erzählten von daheim -" „Da sehnst du dich -"
„Nach dahin und nach dorthin. Vielleicht ist es nicht richtig, aber mehr noch -" Giuseppe machte eine schnelle und heftige Bewegung gegen die Latte in der Richtung, in der er Bologna vermutete, die Armaturenwerke, die Illegalität und die Vorbereitung zum Endkampf, „nach dorthin!"
„Jetzt in die Klappe", rief Frau Bordoni. Sie machte das Licht aus, aber nebenan war es noch hell. Man konnte durch die Latte die ganze Familie halb eingeschlafen um einen großen brütenden Mann herumsitzen und -liegen sehen. „Ist das immer so?" „Immer."
Frau Bordoni fing leise von neuem an, als alle verstaut waren: „Sag mal, Pali, wird er uns kommen lassen, was glaubst du?" „Möglich -"
„Aber, wenn nicht - Es heißt was, sich über Wasser halten. Ich sage dir, hart sind in dieser Stadt die Menschen zu einem, ich glaube, so hart waren die Menschen noch in keiner Stadt und noch nie.
Muckst du dich, heißt es: Raus. Wir haben nicht mal für uns und die da oben - wie die Wanzen vom Bettuch - möchten sie dich glatt vom Erdboden abschütteln, wenn du nicht festhältst."
„Hör mal, wenn dir das was nützt, ich kann ein bisschen zusehen, mal hier bleiben, unter die Arme greifen."
„Nicht schlecht, Pali."
Minutenlang schienen alle erleichtert einzuschlafen. Schon ordneten sich ihre Atemzüge in einem breiten Schlaf. Doch fing Frau Bordoni noch mal an: „Als ob Bordoni gewusst hätte, dass du schon kommen wirst Sag selbst."


III
Auf der Landstraße vor den herabgelassenen Schlagbäumen stauten sich die Wagen der Marktbauern. Es regnete in Strömen. Drin in der Stadt war noch tiefe Nacht. Im Inneren der Plandächer, die wie mächtige Hauben die Körbe und die von Kälte verquollenen, verstörten Gesichter der Bauern umspannten, zuckten Laternen. Aber der Rostfleck im grauen Himmel, das war unzweifelhaft Tag. Alle Menschen, die vor den Schlagbäumen warteten, spürten, wie die Stadt bis zum Rande mit etwas Grauenhaftem erfüllt war. Sie starrten fragend in die Gesichter der Wachsoldaten. Aber die Soldaten rührten sich nicht, die Gesichter gegen die Wartenden gerichtet und die Rücken fest angelehnt gegen das Furchtbare.
Jenseits der Schlagbäume, rechts und links der Landstraße, die unter den zurückweichenden Bergen in die Ebene führte, standen zwei oder drei Schenken und kleine Gruppen ineinandergewachsener Hütten. Manchmal gehörte ein Stück Ackerland dazu; doch sahen sowohl die Häuser wie die Menschen in ihnen aus, als seien sie im Begriff, mit der Straße weiterzuziehen. Diese Kneipen waren immer voll: Erntearbeiter, am Rand der Ebene hängen gebliebene Männer, die um Arbeit ins Sägewerk gekommen und nicht eingestellt oder schon weggeschickt waren, aus den Gefängnissen Entlassene, vom Hunger Vertriebene, die hier ihre erste Station machten.
Als jetzt die Bauern, von Regen und Morgenkälte eingeweicht, zögernd in die Kneipen unterschlupften, da redeten diese Eingesessenen ganz klar und nackt von allem, was sich in der Stadt zutrug. „Das, was in der Stadt ist, das ist der Belagerungszustand. Man hat doch auf den Herbst Wahlen ausgeschrieben. Da haben sie auch hier vorher das Komitee der Kommunisten ausgehoben, man hat ein Standgericht gemacht, einen hat man schon gestern gezwungen, aus dem Fenster zu springen, viere hat man heute gehängt. Man hat den Kasernenhof aufgelassen, damit alle, die Lust haben, sie betrachten können. Man hat ihre Namen dazugeschrieben, und das sind ihre Namen: Dimo Straschimiroff, Naiden Siaroff, Iwan Nakoff und Michael Dudorf."
„Hast du gehört?" sagte einer von den Bauern, „sie haben Dudoff gehängt."
Der andere fürchtete sich, eine richtige Antwort zu geben, und sagte nur verdrießlich: „Ja, ich höre schon."
„Sie waren alle ganz lang geworden und ganz verzogen vom Regen und ganz grün angelaufen."
Und wieder fragte der Bauer, ein alter Mann mit einem an den Spitzen geringelten Bart wie der heilige Ignaz: „Und Dudoff, war auch er langgezogen und grün angelaufen?"
„Ja, gewiss. Er hat außen gehangen, an vierter Stelle. Du kannst ihn ja ansehen, wenn du Lust hast."
Seine Gefährten stießen ihn rechts und links an, dass er endlich still sein sollte, aber er zupfte nur an seinem Bart und sagte: „Ja, ihn möchte ich wohl sehen."
Andreas zupfte Dimoffs Finger - der nahm jetzt oft den Knaben mit in die Stadt -, er fürchtete sich, wünschte aber gleichfalls die Galgen zu sehen. Aber Dimoff achtete jetzt nicht auf das Kind. Er saß aufrecht und unbewegt da, auf jedem Knie eine Faust, nur seine Blicke flogen schnell von einem Gesicht zum andern. Die Bauern drückten sich dicht an der Tür zusammen und schwiegen. Die Eingesessenen fuhren fort zu lärmen und zu streiten, wie sie offenbar schon die Nacht durch gestritten hatten. „Alles umsonst, solange es Holz gibt, wird es Galgen geben, man hat sie gehängt, und man wird sie hängen, sie nützen sich nichts und nützen uns nichts."
„Wieso umsonst? Umsonst hängen die Henker. Schluck du deine Umsonste und werde satt davon."
So redeten die Menschen offen und gleichgültig, als gebe es keinen Unterschied, die Schlinge um den Hals zu haben oder das nackte Leben.
„Da haben sie alles abgeschrabbt, aber am nächsten Morgen blühte wieder das Flugblatt wie Schimmel an den Wänden."
Dimoff fragte zwischen den Zähnen, man fand nur seine Frage heraus, aber nicht sein Gesicht. „Was für ein Flugblatt?" -„Gelbes, schwarzrandiges Flugblatt: Wer wählt wen?" Die Bauern drückten sich noch enger zusammen und schwiegen weiter. In ihren Köpfen drehten sich die Gedanken unablässig, ohne leer zu laufen. Aber die andern waren längst mit dem Denken fertig, schrieen und sangen das Spottlied:
„Der pfäffische Malikoff. Der seiltanzende Alexandroff. Der vor Angst naßhosige Kosturkoff."
Dann wurde die Tür aufgerissen, Soldaten sprangen herein, der gesungen hatte, wurde weiß im Gesicht, nicht nur weiß, sein Gesicht fiel förmlich ab von einem neuen weißen, kühnen, auf das Äußerste gefassten. Aber es ging nicht um ihn, um etwas andres - sie hatten sich in der Tür geirrt und stürzten weiter. Manche rannten jetzt fort, um zu sehen, was es jetzt draußen gab. Andre kamen schon zurück, das Flugblatt sei außerhalb der Schlagbäume aufgetaucht. In der offenen Tür standen noch zwei Soldaten. Über das weiße Gesicht des Burschen wuchs das alte gewöhnliche Gesicht zusammen, er zog frech im Angesicht der Soldaten die Harmonika in ellenlangen Tönen, dünn und süß wie Sirupfäden. Dimoff saß noch immer unbewegt, die Fäuste auf den Knien. Nur wie die Tür aufgerissen wurde, hatte er die abgespreizten Daumen nach innen gekrümmt. Jetzt knallte die Tür wieder zu. Die Stille schlug um in Gelächter, die Angst in Hohn. Ein kleiner, hutzeliger Mann mit einem roten Bärtchen, der wie ein verkniffener Bauer aussah, wenn er schwieg, aber sofort ganz anders, wenn er redete, begann - obwohl er mit geschlossenen Lippen sprach, horchten alle sofort: „Spätabends sah die Wache hier einen durchschlüpfen. Sie ließ ihn schlupfen und schlupfte nur hinterher, um zu sehen, wo er hingehörte. Da schlug er ein Blatt an den Schlagbaum, sie wollte zugreifen, aber dann dachte sie, ich muss doch mal sehen, wo er hingeht. Er lief also weiter, und sie immer dicht hinterher. Er schlägt da und dort ein Blatt an, sie kommen auf den Borisplatz, da geht er ganz frech quer über den Platz und klebt sein Blatt an den Reiter, dann geht er in die Markusgasse, die Wache hinter ihm her. Er geht in ein Tor, aber er geht wieder heraus, geht über die Brücke, schlägt sein Blatt an den Brückenkopf und geht gegen die Kaserne. Er schlägt sein Blatt an und wartet, und geht zwischen den Schildwachhäusern in den Hof und schlägt auch innen an. Drinnen im Hof stehen die Galgen, da bleibt er stehen unter dem vierten Galgen und sieht hinauf. Die Wache sieht auch hinauf und erschrickt, denn der vierte Galgen ist leer. Da steigt der Mann auf den Galgen und schlupft in die Schlinge, und da hängt er wieder."
Alle lachten scharf. „Du bist ja gut." Sein Gesicht wurde wieder ein verkniffenes Bauerngesicht. Dimoff packte Andreas bei den Ohren. „Fürchte dich nicht, tot sind die Toten."
Dann wurde wieder lange gestritten, die Herzen aus den Kehlen. Dann fiel einer nach dem andern erschöpft aus dem Streit zurück in das Seinige, grübelte über seinen eigenen kommenden Tag, den brot- und uferlosen. Bis der, der schon mal losgesungen hatte, seine Harmonika krümmte und alle mit stöhnten. Stille. Dann aber, unerwartet, zu seiner eigenen und aller namenlosen Erleichterung, wurde aus der Stille etwas, das aus ihm herauskam:
„Sei ruhig, meine süße Liebste,
Ich werde dich küssen und lieben.
Sei ruhig, meine Liebste,
Ich werde dich schon sehr lieben.
Wenn wir davongescheucht haben
All deine Schmeißfliegen,
Dann werde ich dich lieben,
Oh, wie werde ich dich lieben.
Meine Liebste,
Land zwischen Isker und Struma,
Braunes, goldmähniges, pflaumengespicktes,
Aus heißem Herzen lieben."
Dann wurde die Tür aufgeschlagen, ein Zustrom von Menschen kam herein, Geschäftsleute mit Taschen, Körben und Höckern, die in die Stadt wollten und fluchten, weil sie nicht herein konnten, einerlei warum. Sie brachten klaren, beißenden Tag mit. Alles riss auseinander, die meisten standen auf. Draußen rief jemand: „Der Schlagbaum geht hoch!"


IV
Janek wurde in das Gefängnis St. Michael überführt. Es hatte allerlei Durcheinander gegeben und war spät geworden. Der Aufseher, der ihn abholte und in die Zelle führte, unterdrückte ein Lächeln. „Da sind Sie ja wieder einmal."
Janek drehte sich um, erkannte den Alten. „Was, noch immer hier. Was gibt es hier, wer ist noch da?"
„Seien Sie still, Janek, machen Sie mir keine Scherereien. Kennen Sie Stanski?"
„Ja, ist der hier?"
„Ja. Wie viel gab's denn diesmal, Janek?"
„Acht, zwei hab ich hinter mir, sechs vor mir, wenn nichts dazwischenkommt."
Beide lächelten kurz auf, erloschen.
Die Zelle wurde aufgeschlossen. Drin rief es: „Was gibt es denn noch - halten Sie die Tür auf, damit wir ihn sehen können."
Der Alte wurde plötzlich wütend. „Sie werden noch lange genug Zeit haben, einander in die Gefrisse zu sehen - werden sich einander die Fresse satt sehen!" Er schloss ab, es war jetzt stockdunkel. Janek suchte sich zurecht. Er fragte ins Dunkle hinein: „Ist hier Stanski?" - „Ja, hier bin ich."
„Ich bin's, Janek." - „Ah, aha, Janek." Sie suchten einander im Dunkeln ihre Hände.
„Wie ist's mit dir, wo kommst du her?"
„Was gibt es hier? Wie viele sind wir hier?"
„Die Order ist schon raus. Gleichstellung mit den Kriminellen, soll am 1. Januar in Kraft treten, wird aber schon jetzt durchgedrückt. Man hat die alte Direktion abgesetzt, man kann uns jeden Tag auseinanderlegen."
Sie fragten und antworteten. Es wurde Morgen. Janek konnte allmählich die Gesichter sehen. Die Gefährten richteten sich gleichfalls auf und betrachteten Janek. Aus der triefenden, milchigen Dämmerung der Zelle tauchte Stanskis Gesicht auf, sie reichten sich noch mal die Hand. Janek erblickte einen älteren, finsteren, misstrauischen Menschen, der sich nicht einmischte und keine Lust hatte, etwas zu fragen. Er glich so sehr Dombrowski, dass Janek sein ganzes Leben aus seinem schwärzlichen, verächtlichen Gesicht ablesen konnte. Dann erblickte er einen jungen Gefangenen, der ihn unausgesetzt betrachtete. „Wie heißt du?"
- „Labiak." - „Zum ersten Mal?" - „Ja", erwiderte Labiak verwundert.
Sie fuhren fort, zu fragen. „Hast du Nachricht vom Parteitag?" Sie quetschten ihn aus, es kamen immer noch Tropfen. Seine letzten Nachrichten kamen von Anka, die er in diesem Monat vor dem Umtransport gesehen hatte. Sie war wieder mit dem kleinen Sohn gekommen; das Kind war so ruhig und hell wie Anka, man hätte die beiden wie Holzpuppen ineinanderstellen können. Es fasste ihn an der Hand. „Komm mit." - „Geht nicht." - „Warum?" Die letzten Worte, die er von Anka hörte, zu dem Kind: „Still -unterwegs." - Was wird sie ihm sagen, jetzt, wenn sie herausgehen, diese beiden, in die Stadt, dachte Janek, der gleich nach dem Besuch fortgebracht wurde. In den nächsten sechs Jahren, wenn ich sie dann und wann wieder sehe, wird das Kind jedes Mal einige Zentimeter größer sein, von Ankas Helligkeit wird immer etwas mehr weg sein; werde ich das überhaupt merken? Ach was, nichts wird weg sein, solche Gedanken sind nichts für uns. Er riss seine Gedanken von Ankas Besuch und den sechs kommenden Jahren ab zu den Nachrichten, die sie gebracht hatte
- dieselben Nachrichten, die seine Genossen jetzt gierig aus ihm heraussaugten. Janek wusste, was solche Nachrichten bedeuteten, erzählte so ausführlich wie möglich; „Wie lange hast du eigentlich?"
Janek sagte nochmals: „Acht Jahre, zwei hinter mir, sechs vor mir, wenn nichts dazwischenkommt." Er wandte sich dem jungen Labiak zu, dessen Blick nicht lockerließ. Der Jüngere betrachtete Janek mit offener, fassungsloser Neugierde. Die kurze Haft hatte seiner Haltung und seinen Zügen die Herkunft noch nicht ausgelöscht.
„Dombrowo?" - „Ja."
Sein Vater und seine Brüder und er selbst, Parteilose, hatten sich am ersten Streiktag dem Komitee zur Verfügung gestellt. Die Streikposten waren verhaftet worden, alle bekamen Strafen von sechs bis zehn Jahren. Die bevorstehenden Jahre erschienen Labiak so unausdenkbar furchtbar, dass er sich überhaupt keine Vorstellung über ihren Verlauf machte, Tag für Tag gedankenlos hinnahm. Janeks nächtliche Einlieferung, die Fragen ins Dunkle, sein Gespräch mit Stanski, das hatte alles auf Labiak
tiefen Eindruck gemacht. Er starrte Janek an, der von seinen sechs Jahren sprach wie von gewöhnlichen Jahren, dem unruhigen Lauf des Lebens eingefügt. Dieser selbe Janek aber war ein kleiner runder Bursche, zu Witzen aufgelegt - er hatte zwischendurch mal schnell seine Bürste unter Stanskis Hintern geschoben -, mit flinken, vor Lustigkeit funkelnden Augen. Labiak betrachtete und betrachtete ihn, als wollte er entdecken, an welcher Stelle Janeks Kraft saß.
Janek begriff Labiaks Gedanken. Er konnte im Augenblick nichts andres für ihn tun, als was Solonjenko damals für ihn getan hatte. Er legte seine Hand auf Labiaks Kopf, glatter, fester Kegelkopf. Labiak wusste noch nicht, ahnte aber, dass die gleiche Kraft schon in ihm selbst drin war, während Janeks Hand noch auf seinem Kopf lag.

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