Zehntes Kapitel
Mehrere Wochen nachdem er den Brief an Bató geschrieben hatte, bekam Steiner plötzlich Nachricht, dass Bató ihn auf der Durchreise am Bahnhof erwarte. Bató hatte den Brief auf einer Reise nachgeschickt bekommen und sofort diesen Umweg beschlossen. Steiner konnte sich auf den Inhalt seines damaligen Briefes nicht mehr genau besinnen. Er bereute jetzt, ihn abgeschickt zu haben. Nur weil es keine Möglichkeit mehr gab zu telegrafieren, fand er sich zur verabredeten Zeit in der Bahnhofswirtschaft ein. Bató sah noch genauso aus wie früher. Seine Haltung und seine Züge verrieten ununterbrochene Überanstrengung. Seine ewig zuckenden Backenknochen stießen Steiner geradezu ab. Sein Unbehagen wuchs, als Bató seine Brille abnahm und ihn mit demselben übertrieben aufmerksamen Blick ansah, nach dem Steiner damals verlangt hatte. (Jetzt wird er gleich anfangen, mich zu „retten", dachte Steiner.) Er sagte: „Ich muss Sie um Verzeihung bitten, wenn ich Sie mit meinem damaligen Brief belästigt habe. Sie sind sicher großzügig genug, um eine Stimmung verstehen zu können. Es geht jetzt schon alles sowieso besser." Bató setzte seine Brille auf, erleichtert: „Um so besser."
(Er ärgert sich, dachte Steiner, dass ich seine Rettung nicht brauche.)
„Solche Stimmungen pflegen nun einmal jeden Menschen, der arbeitet, von Zeit zu Zeit heimzusuchen und ihren Ablauf zu haben, wie jede Krankheit."
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen." Mit der Offenheit, die ihn früher zu einem geschickten und beliebten Lehrer gemacht hatte, warf Bató sein ganzes Gewicht auf die Waagschale des anderen: „Mir ist es selbst die ganze Zeit schlecht gegangen. Erst nach und nach, im Grund erst dieses letzte Jahr, bin ich ins Gleichgewicht gekommen."
„Was haben Sie jetzt für eine Arbeit? Verteilen Sie noch immer Flugblätter?"
„Ich redigiere eine kleine Zeitung, schreibe Artikel und gebe Kurse, und manchmal verteile ich Flugblätter -.
Ich habe mich die ersten Jahre krampfhaft bemüht, meine eigne Arbeit fortzusetzen. Ich habe sie jetzt für einige Zeit abgebrochen."
„Ja, warum denn?"
„Warum?" - Bató kam bei seiner Antwort von neuem ins Grübeln. „Das kann man nicht so einfach erklären. Es gibt eine Kluft zwischen Wissen und Leben, die man erst überbrücken muss, bevor man arbeitet, ohne das geht es nicht, verstehn Sie, Steiner, es genügt nicht, das, worüber man schreibt, im Bewusstsein zu haben. Man muss sich in der Wirklichkeit wirklich zurechtfinden, wie ein Blinder in der Nacht ohne Stock -.
Wenn ich in der Partei drinstecke, wie ich in meinem früheren Vorkriegsleben gesteckt habe, nicht bloß mit meinem Kopf, sondern ganz und gar, von oben bis unten, mit meinem ganzen Sein -.
Ja, dann werde ich arbeiten, etwas Gutes arbeiten", fügte er hinzu.
(Dieser Bató war früher ein ernsthafter und nachdenklicher Mensch, jetzt wiederholt er noch immer, wie ein Kranker, Tag für Tag, Jahr für Jahr dieselben Sätze, dieselben Gedankengänge.)
„Ja, solchen Menschen wie euch geht es gut! Geht in die Partei, und dann habt ihr, was gewöhnlich dem Menschen im allgemeinen fehlt. Anschluss, Geborgenheit. Eine einfache Antwort."
„Wieso denn einfach?"
„Natürlich gibt es eine wirkliche und eine verstellte Einfachheit.
Wieso einfach? Eine einfache Antwort auf alle Fragen bereit haben. - Aber alles Lebbare auf der Welt hat hundert Seiten, hundert Möglichkeiten, hundert Lösungen, und der Mensch hat nur ein Leben."
„Hundert? Ich glaube nur zwei."
Steiner wollte etwas erwidern. Seine Erwiderung hätte wahrscheinlich die Mauer durchstoßen, welche zumeist zwischen zwei Menschen am Anfang eines Gespräches aufgerichtet ist, so dass sie sich, wie Gefangene in Zellen, nicht durch Gedanken, sondern zunächst nur durch Klopfzeichen verständigen - aber schon befiel ihn eine Lähmung, Unlust und Müdigkeit.
(Das hat doch alles keinen Zweck, dachte Steiner.) „Wie geht es Ihrer Frau und Ihren Kindern?" - „Danke, ich denke, dass es ihnen ganz gut geht." Bató dachte an das Zimmer, in das er gezwungen war, heute nacht zurückzukehren, an Marie, die dann eilig das Essen aufwärmte, an Andris, sein waches Auge auf die Tür gerichtet. Zum ersten Mal empfand er bei dieser Vorstellung kein Unbehagen, vielleicht war es überhaupt einerlei, in welches Zimmer man zurückkehrte, wenn es nur kein leeres war.
Sie redeten von Neuerscheinungen, von den „Monatsheften", von Bekannten. Steiner zeigte die Photographie seiner Frau, die Bató ebenso aufmerksam betrachtete wie alle Dinge. Beim Anblick dieses schönen ernsthaften Gesichts erinnerte er sich, wie er Marie vor zehn, zwölf Jahren zu sich genommen hatte, nicht durch ihre Schönheit gerührt, sondern durch ihre außerordentliche Ungeschicklichkeit - ein kindliches Gegenstück zu seiner eigenen Schwierigkeit, sich auf Erden zurechtzufinden. Er wünschte sich plötzlich, sie möglichst schnell vor sich zu sehen. Ein wenig besser immerhin war es in diesem Zimmer daheim geworden, seit es mit ihm überhaupt ein wenig besser ging.
„Vielleicht kann ich noch den Vorzug erreichen." Sie packten plötzlich ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich lebhaft, fast herzlich. Steiner rannte über den Bahnhofsplatz, lief mit der ganzen laufenden Straße auf die Universität zu. Ich hätte die Gelegenheit ausnützen sollen, ich hätte noch versuchen sollen, mit ihm zu sprechen, ich werde diesen Menschen ja nie mehr wiedersehen. Aber dieser Gedanke hatte jetzt kein Gewicht.
Eines Abends nach vielen Jahren wird Steiner in seinem Arbeitszimmer in der kleinen Universitätsstadt, in der er sich festgesetzt hat - bis in die Hauptstadt ist er, der ehemalige Emigrant und Ausländer, nicht gekommen -, hinter seinem Schreibtisch unruhig werden. Draußen wird ein Herbstnachmittag zu Ende gehen, sein Dunst wird die Kleinstadtgassen füllen, ihre wohlbekannten Züge auslöschen, die Unruhe der Menschen begünstigen. Steiner wird mit seiner Arbeit an diesem Nachmittag nicht gut vorwärtskommen. Es wird ihm einfallen, dass er an den Bahnhof gehen muss und dort die Abendzeitung kaufen oder einen Brief einwerfen. Draußen im Dunst der Gasse wird er sich wohler fühlen als im Kreisrund der Lampe. Er wird laufen und laufen in zerstreuter, gedankenloser Unruhe. Aber trotzdem wird ihn eine unwiderstehliche Gewalt geradezu an den Bahnhof treiben. Dort wird es ihm einfallen, dass er seinen Brief nicht draußen auf dem Platz, sondern im Briefkasten auf dem Bahnsteig einwerfen muss. Er wird eine Karte kaufen, seinen Brief einwerfen und stehen bleiben. Gleich wird der Expresszug ankommen. Er wird nur wenige Minuten in der kleinen Stadt halten, wo wenige ein- und aussteigen. Der Bahnsteig wird fast leer sein, der Gepäckträger, der immer da ist, wird ein paar Handkoffer übereinander stellen. Vier, fünf Leute werden erregt auf und ab gehen oder wenigstens von einem Fuß auf den andern treten, im Begriff abzureisen oder jemand abzuholen. Steiner wird sich zu ihnen gesellen, er wird gleichfalls auf und ab gehen, es wird so aussehen, als ob auch er abreisen oder jemand abholen will. Es wird nicht nur so aussehen, die Erregung der anderen wird auch über ihn kommen. Es wird ihm selbst erscheinen, als hätte er von dem ankommenden Zug etwas Besonderes zu erwarten. Er wird in die Richtung blicken, in die alle blicken. Er wird sehen, wie sich hinten im Tunnel der Dunst weiß und fest zusammenballt. Er wird wie in seiner Kindheit die glühenden Augen auftauchen und unbarmherzig gerade auf sich gerichtet fühlen. Schon ertönt ganz nahe der Pfiff der Lokomotive. Pfiff der Lokomotive! Wenn irgendeines der Schlösser seines Herzens schlecht verwahrt wurde, bei diesem Pfiff wird es aufspringen, jede Faser wird sich zusammenziehen bei diesem Pfiff in dem einzigen Wunsch: abzufahren.
Dann wird der Zug den Bahnsteig, der noch eben still dalag, mit Lärm und Geknatter ausfüllen. Der Schaffner wird nacheinander die Abteiltüren aufreißen, wie ein gastlicher Wirt alle Türen den Fremden aufreißt. Steiner wird betäubt dastehen, gerade vor ihm wird auch eine Abteiltür aufgeschlagen werden. In Steiners Kopf wird ein Gedanke aufsteigen, sonderbarer als alle Gedanken, die er in den letzten Jahren gedacht hat: er kann abfahren, nichts hält ihn zurück. Kaum wird der Gedanke dasein - wie man zuerst das Geschoß spürt und hinterher erst den Schmerz -, so wird sich sein Herz in unsagbarem, verzweifeltem Heimweh zusammenziehen. Alle diese ehemals widerwärtigen, vom Geruch fremder Menschen vollgesaugten Zimmer, die er je bewohnt hatte, alle Straßen, die er je gegangen war, alle von endlosen Streitigkeiten zerhäckelten Nächte - jetzt ist nichts mehr
davon zurückgeblieben als Heimweh. Einem solchen Heimweh gegenüber wird ihm alles armselig und geringfügig erscheinen. Nichts wird ihn zurückhalten, keine Arbeit, die war nur ein Zeitvertreib, um ein paar abseitige Jahre zu überbrücken, nicht der Körper seiner Frau, der wie der Körper des Mädchens in der Märchenhecke alle Jahre hindurch Glanz und Zartheit vergangener Zeit bewahrt hat. Er wird zurückkehren. Er wird sofort nach seiner Ankunft seinen alten Freund Bató aufsuchen. Bató wird ihn freudig empfangen. Er wird ihn fragen, was er tun muss, sofort, am kommenden Tag. Er wird zu seinen Gefährten zurückkehren. Er wird nichts mehr zu tun brauchen als einen Sprung aufs Trittbrett. Jetzt wird die Lokomotive wieder pfeifen, der Schaffner wird eilig eine Tür nach der andern zuschlagen, Steiner wird eine erschrockene Bewegung nach vorn machen, der Schaffner wird einen Augenblick zögern, dieser Augenblick wird lang sein. Was eben noch ein Gedanke war, wird in harte, scharfkantige Wirklichkeit erstarren. Eben war er noch das Leichteste auf der Welt, jetzt wird er das Schwerste sein, was ein Mensch ertragen kann. Steiner wird sich heftig wehren, er wird in einem Augenblick an alle denken, die das getan haben, was er tun möchte. Manche haben es in der ersten Kraft der Jugend getan, manche in der letzten Kraft des Alters, manche waren dabei, die mehr als er zurücklassen mussten und von niemand erwartet wurden, viele, die schwächer als er waren, von geringerem Verstand. Warum wird es gerade für ihn so schwer sein? Der Schaffner wird ihn ansehn, er wird, da er schon lange mit Reisenden umgeht, mit einem Blick wissen, ob er einsteigt oder nicht. Er wird die Tür vor seinen Augen zuschlagen. Steiner wird einen zweiten Schritt vorwärts machen, aber jetzt wird eine Bewegung durch den Zug gehen, noch keine Fahrt, nur ein Stöhnen. Steiner wird zusammenzucken, er wird aufspringen wollen, aber jetzt wird der Zug schon fahren. Er wird wieder ganz betäubt dastehen. Aus dem Tunnel wird von neuem weißer Dunst herausquellen, zart und dicht wie vor drei Minuten, und geschwind den verlassenen Bahnsteig ausfüllen. Steiner wird sich plötzlich entsetzlich müde fühlen. Er wird erschöpft, wie nach einer langen Reise, über den Bahnsteig ins Freie stolpern. Draußen wird der Bahnhofsplatz ebenso verlassen daliegen. Ein paar Laternen werden im Nebel hängen, unter ihnen auf dem Boden werden ein paar trübe, erlöschende Lichtflecke liegen. Aus irgendeinem Grund wird er zögern, über einen solchen Platz zu gehen. Er wird verzweifelt wie am Rand eines Abgrunds stehen bleiben. So groß wird seine Verzweiflung sein -er könnte sie nicht ertragen, wenn seine Müdigkeit nicht noch größer wäre. Dann wird ihm auf einmal einfallen, dass es irgendwo nicht allzu weit weg, wohl noch heute erreichbar, ein Zimmer gibt, eine Lampe, eine Frau. Dann wird er langsam, ein wenig erleichtert, aber noch immer todmüde, den einzigen mattglänzenden Schienenstrang entlang in die kleine Stadt hineingehen. - Vorbei waren die Möglichkeiten, er war alt geworden.
II
„Was machst du da?" schrie eine der Schwägerinnen Frau Dombrowski an. „Unmöglich, was du da machst." Sie hetzte die Kinder auf: „Seht nur, was sie euch wegträgt."
Die Dombrowski sah die andre Frau an - wo es sonst bei Augen tiefer ins Innere hineingeht, war bei der Dombrowski etwas Schwarzes, Zugeriegeltes, Schluss. Das Gesicht der Schwägerin war grau mit nach unten gezogenen Mundwinkeln, aber gegen das Gesicht der Dombrowski war es doch ein junges Frauengesicht.
Die Dombrowski packte also ein Brot, eine Tüte und eine Konservenbüchse in ihren Korb - aus der Streikkasse an die Familien der Streikenden; seit drei Wochen erschütterten Streikstöße die Stadt - und trug den Korb durch ein Spalier von entsetzten Blicken auf die Straße hinaus.
Einer der Männer kam ihr jetzt nach, legte eine Hand auf ihre Schulter und sagte ganz ruhig: „Es ist nicht richtig, was du da tust, genau genommen." Er ging neben ihr her, da sie weiterging. Er sah sie an, in ihrem Gesicht bildeten sich dünne Rillen, um die Tränen herunterzulassen, aber es kamen keine Tränen. Er zuckte die Achseln und ließ sie gehen.
Später, im Büro der Zuchthausverwaltung, als man die Sachen aus dem Korb in Empfang nahm, fragte der Aufseher, der die Dombrowski wieder erkannte:
„Sie haben doch keinen mehr hier?" „Nein, ich habe keinen mehr hier."
„Für wen?"
„Für die Politischen."
Später ging die Dombrowski um den Block herum, durch die Gassen auf den Bahndamm, schräg gegenüber. Dort setzte sie sich nieder, fror in die feuchtkalte Erde hinein, ein Hügelchen.
Ihr Blick suchte die vergitterten Fenster ab, von oben nach unten, von rechts nach links: hooo!
Aus einer Ritze unter dem Dach, sie hat das Gesicht nie gesehen, kennt bloß die Stimme: „Wie steht's?" - „Unverändert." -„Matthiasgrube?" - „Geht mit!" Sie drehte sich plötzlich scharf um, witterte Patrouille. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, dass es dunkelgrau wurde. Sie seufzte und stand auf. Sie lief den Bahndamm entlang in die Nordvorstadt. Daheim im Zimmer war ein kalter Reif um sie herum. Aber er schmolz langsam ab, trotz des leeren Korbs, wie sie da und dort anpackte, die Kinder unter die Decke stopfte, die Männer ausfragte.
Einige Monate nach seiner Rückkehr aus Russland wurde Janek bei der Wahlarbeit von der Straße weg verhaftet. Er war angezeigt und nach einer Beschreibung von Spitzel zu Spitzel erkannt worden. Aber es lag eine Verwechslung vor, und er wurde auf dem Revier für einen anderen gehalten. Obgleich ihm diese Verwechslung ein fast zehnstündiges Verhör eintrug, war er zufrieden, denn er dachte sich, dass der andere bei seiner Arbeit Spielraum bekam.
Seine Angelegenheit war so verschleppt und verwickelt, dass es lange dauerte, bis er Anka wiedersah, im Zuchthaus in Posen, wohin man ihn zur Verschärfung seiner Strafe gelegt hatte. Er wusste, dass Anka inzwischen abermals geboren hatte. Aber das Leben dieses Kindes war für ihn nichts Wirkliches. Er brauchte seine ganze Kraft gegen die Haft in diesem entlegenen Gefängnis, wo er zeitweise der einzige Politische war. Er war ganz ausgetrocknet. Als er zu Ankas Besuch geführt wurde, klopfte sein Herz unmäßig. Er richtete unwillkürlich den Blick auf Ankas Arm, entdeckte erst einen Augenblick später das Kind auf der Erde, an Ankas Hand. Es war ja über ein Jahr seit dieser Geburt vergangen. Das Kind war kugelrund, seine Augen standen vor Schreck und Neugierde heraus, seine roten Backen waren vor Kälte gesprungen. Der Aufseher rückte seinen Stuhl etwas vom Tisch ab. Anka erzählte geschwind, Janek horchte und betrachtete gierig das Kind. Einmal sagte er: „Das Kind sieht doch stark aus. Glaubst du, dass dieses Kind am Leben bleibt?" Anka erwiderte ruhig: „Ja, diesmal bestimmt." Der Aufseher machte bereits Schluss. Janek fing schnell an: „Und du, Anka, was machst du, wie teilst du dich ein?" Anka sagte aufstehend: „Diesmal geht alles sehr gut. Ich wohne mit einer andren zusammen, die auch ein Kind hat. Es geht alles viel leichter als das letzte Mal." Die ganze Zeit hatte das Kind stumm und puterrot dagehockt. Janek hatte mit dem Aufseher den Raum noch nicht verlassen, die Tür hinter Anka war noch nicht zugeschlagen, da ertönte draußen ein heller, zitternder Freudenschrei, wie von einem Wasservogel, den nur das Kind ausgestoßen haben konnte. In seiner Zelle überdachte und ordnete Janek alles, was Anka erzählt hatte. Er hatte gehofft, nach Ankas Besuch sei es besser, aber nie war das Alleinsein so quälend gewesen. Er war noch nie in seinem Leben so lange allein gewesen. Alle möglichen Bilder von Gemeinschaften und Zusammensein quälten und brannten ihn. Er erinnerte sich an alle Einzelheiten, selbst an solche, die ihm damals entgangen waren: Im Bottich der Färberei, im schmutzigblauen Wasser, schwamm ein zerknäultes Papier, das Flugblatt. Sein Herz klopfte; er spürte sich zum ersten Mal allein, handelnd. Um ihn herum drängten sich brummend und müde fluchend die Färber im frühen Tag. - Von Schnee bedrängt war das Zimmer bei seinem einzigen Besuch daheim. Was war mit Wladek geschehen? Die Schwäche, die einem die Knie und Handgelenke steif macht, bekommt man auf zwei Arten los, im Kampf oder in der Kneipe. Vielleicht hockt Wladek jetzt wieder dort und prahlt, triefend, großmäulig. Vielleicht hat er sich wieder hochgerappelt. Was war mit der älteren Schwester? Er hatte nur mit Sophie gesprochen. Die Ältere war weggegangen und nicht mehr wiedergekommen. Sie war dürr und klapprig gewesen. Wie Pflaster war das Rot auf ihre Backen gesetzt. Warum hatte er nicht noch einmal nach ihr gefragt? Jetzt grämte es ihn. - Das Zimmer der Wronski in Lodz beim Textilstreik, dreitägiger Aufenthalt, hatte ihn mit Menschenwärme aufgefüllt, dass jetzt noch etwas von diesem Zimmer in ihm drin war. -Die alte Zelle mit neun Genossen, wie war die gut gewesen. Dombrowski und immer wieder Dombrowski, aber auch jener, 170
mit dem er nur sechs Tage gesessen hatte in der Zigeunerzelle, mit dem finsteren bleigrauen Gesicht. Die Einsamkeit fraß ihm das Hirn weg, er quälte sich. Einige Monate später wurden drei Politische nach Posen gelegt Sie setzten sich miteinander in Verbindung, nahmen den Kampf um Zusammenlegung auf. Sie mussten acht Tage hungern, bis sie sich durchsetzten. Schließlich saßen sie alle beieinander in der Zelle. Sie waren noch krank und elend, aber zufrieden. Sie fragten einander aus.
Der erste erzählte: „Ich heiße Kuczinsky. Ich bin nicht in der Partei. Am achten Januar, vor den Wahlen, habe ich die verbotene Demonstration mitgemacht. Auf der Wache haben sie noch ein paar Blätter in meiner Tasche gefunden. Seht, wie sie mich zugerichtet haben. Für die Demonstration zweieinhalb, für das Flugblatt zwei Jahre, das macht viereinhalb Jahre."
Der zweite sagte: „Ich war Lehrer in Lemberg. Mein Vater ist jetzt noch Kantor. Ich habe noch fünf Geschwister. Ein anderer Lehrer gab mir eins nach dem andern zu lesen, immer weiter - voriges Jahr trat ich in die Partei ein. Wie bei uns die Druckerei aufflog, flog ich mit auf."
Der dritte sagte: „Ich heiße Janek, ich war Färber. Ich bin mit neunzehn in die Partei gegangen, mit meinem Bruder, der schon drin war. Jetzt sitze ich zum dritten Mal. Das erste Mal im Jahre 21 beim Flugblatteinschmuggeln. Das zweite Mal bei dem großen Streik in Lodz, drei Jahre. Diesmal bin ich bei der Wahl verhaftet worden. Ich bekam acht Jahre."
Der vierte sagte: „Du wirst schon von mir gehört haben: Jasiensky, ich habe auch schon von dir gehört. Ich wurde im Jahre 19 nach dem Abzug der Russen geschnappt und bekam acht Jahre wegen Landesverrat. Kaum bin ich draußen, haben sie mich wieder. Nun, da bin ich."
Ja, Janek hatte schon von Jasiensky gehört, in den Zellen, wenn jeder von jedem erzählte. Er freute sich, dass er gerade mit ihm zusammen war. Er war ein kleiner zäher Mann mit besonders brauner Hautfarbe, trotz der Haft. Seine dicken Brauen fingen schon an, grau zu werden. - So begann Janek das zweite Jahr seiner dritten Haft und das neunundzwanzigste seines Lebens.
III
Frau Bordoni füllte die Säcke, einen nach dem andern, mit neuen Kartoffeln. Aber Bordoni, der in der Mitte zwischen der Kartoffelablade und dem Wagen zu stehen hatte, war noch nicht da. Frau Bordoni lief also mit den Säcken selbst hinüber, schnell, damit der Kartoffel-Peuval nicht merkte, dass Bordoni wieder zu spät kam. Im Gebrüll der Markthalle, im betäubenden Sommergeruch hantierte Frau Bordoni mit offnem Mund und eingeknickten Knien, die auch eingeknickt blieben, wenn sie die Säcke einfüllte, als koste es zuviel Zeit, zwischendurch die Beine zu strecken.
Auf einmal stand Bordoni auf seinem Platz, die Frau schwenkte ihm die Säcke zu, und er beförderte sie im Gleitflug in den Wagen. Frau Bordoni schnaufte und dachte wieder einzelne Gedanken. Sooft sie sich gegeneinander wandten, riefen sie sich halbe Sätze zu, gerade noch verständlich im Lärm des Marktes, auch war es für Mann und Frau die beste Sprachgelegenheit. „Rate, wen ich getroffen habe?" „Ich weiß nicht." „Rate." „Pali."
„O nein, ihn nicht, Brigelli." „Brigelli aus Bologna?" „Ja, ihn."
„Was erzählt er denn?"
Bordoni wartete, bis der Karren vollgeladen und ein neuer eingeschoben wurde. In der Zwischenzeit half er der Frau die Säcke füllen.
„Er erzählt, wie es jetzt so zugeht in Bologna. In der Armaturenfabrik und auf der Gasse: Sooo hält man einem die Hände kreuzweise unter die Nase, wenn einer losflucht. Das bedeutet: Halt's Maul, gleich hast du Handschellen weg." - „Weiß er, wer jetzt in unserer Wohnung wohnt?" - „Das hab ich ihn nicht gefragt. Aber in der Armaturenfabrik haben wir eine Zelle, wir haben dort zwanzig Mann, Brigelli hat auch dort gearbeitet, er hat dann erzählt, wie er eine Angeberei gerochen hat und wie er ausgerückt ist, er hat viel hinter sich, und jetzt will er nach Russland fahren, das wäre auch für mich eine gute Gelegenheit."
Seit Jahr und Tag war es Bordonis Wunsch gewesen, herüberzufahren.
Der leere Wagen hielt auf den Schienen an, die aus der äußeren Markthalle zu den Verkaufshallen führten. Bordoni sprang an seinen Platz. Frau Bordoni schwenkte den Sack und rief: „So fahr doch."
„Ist das dein Ernst?"
„Ja, fahr doch."
„Was wirst du machen?"
„So fahr doch schon."
Bordoni trat wieder neben sie. „Aber was willst du machen, du und die Kinder? Vielleicht kommt ihr später nach?"
„Hör mal, Bordoni, all die Jahre über hast du dich nie groß um uns geschert. Weiß Brigelli einen Rat, fahr!"
Bordoni trat an seinen Platz. Eine halbe Stunde arbeiteten sie schweigend, Frau Bordoni dachte, dass es nichts sei, tags nichts, nachts nichts, diese Woche hielten sie bei Peuval aus, die nächste Woche konnten sie sich die Finger saugen, hinter ihnen war kein Punkt, auf den man zurückkommen konnte, vor ihnen war kein Punkt, auf den man zukam, aber wenn er fuhr, ihr Bordoni, aus dem doch kein Brot heraussprang, wenn er wirklich nach drüben fuhr, das war doch etwas, ein Punkt. Sie schwenkte den letzten Sack und rief: „Also fahr!" Bordoni sprang neben sie. „Wenn es drauf und dran geht, wirst du nicht weinen?" Frau Bordoni sah ihn groß an. Bordoni erschrak furchtbar, als sähe er jetzt zum ersten Mal, dass sie hart und grob war, und Tränen unvorstellbar in ihrem misstrauischen Gesicht. Sie sagte selbst: „Kannst du mir vielleicht sagen, wann ich zum letzten Mal geweint habe?
Habe ich vielleicht geweint, wie das mit dem Kind passiert ist?"
Der leere Karren war einrangiert. Bordoni sprang zu. Als das neue Kind kurz nach ihrer Ankunft in Brüssel bei der Geburt starb, war Bordoni ziemlich erleichtert, es war ihm auch gar nicht aufgefallen, dass die Frau nicht geweint hatte. Jetzt packte ihn der Jammer um das sinnlos geborene Kind, um die nicht vergossenen Tränen. Er donnerte wütend einen Sack nach dem andern in den Wagen. Später, neben ihr, sagte er weich: „Werde ich dir nicht fehlen?"
» Hör mal. Wie oft wir im letzten Jahr zusammen geschlafen haben, kann man ausrechnen. Im Bett wirst du mir nicht fehlen.
Und sonst? Du bist ja nicht aus der Welt verloren. Du musst schreiben, versprichst du?"
„Versprochen."
„Da kommt Giulia", sagte Frau Bordoni. Das Mädchen, dünngliedrig, lockig, hickelte auf einem Bein, eine Sandale in der Hand, mit zum Spaß aufgeblasenen Backen. Bei ihrem Anblick fiel es Bordoni plötzlich und zum ersten Mal ein, dass aus ihr etwas werden musste wie die Frau, etwas Breites, Hartes. Er packte sie am Haar und küsste ihr wie einem Weib Gesicht, Brust und Hals mit verrückter Zärtlichkeit. Er setzte zwei Säcke aus, die die Frau an ihm vorbeischleppte. Schließlich wartete Frau Bordoni, indem sie starr mit zusah, ungefähr seine Gedanken erriet, den Grund seiner maßlosen Zärtlichkeit.
Bordoni stellte das Kind auf den Boden, trat, da der volle Wagen abfuhr, neben die Frau und füllte Säcke. Giulia, zappelig, gierig auf neue Küsse, drängte sich zwischen die Eltern, aber jetzt stieß er sie weg. „Lauf uns nicht bei der Arbeit zwischen den Füßen herum!"
IV
„Sag doch, Mutter, warum hat man ihn erschlagen?"
„Lass doch! Du weißt ja doch, warum!"
„Hat er sehr geschrieen?"
„Er lag ja mit dem Mund auf der Erde, dein Vater, er stöhnte nur mmmm, mmmm, ein Soldat saß auf seinem Hals."
„Wo ist er jetzt, dieser Soldat?"
„Weiß ich? Sitzt vielleicht jetzt auch bei seiner Mutter, häckelt vielleicht jetzt auch Zwiebel, denkt an das, was er jetzt getan hat, denkt und denkt, und es würgt ihn."
„Und zuletzt war es sehr furchtbar mit dem Mund auf der Erde?"
„Nicht sehr furchtbar, er starb froh, in vollkommener und gewisser Hoffnung -"
„Dimoff sagt doch, dass es nichts ist mit dem weiten Himmel."
„- mit dem Mund auf der Erde, über seinem Kopf, über seinen toten Schultern, über dem Ködesch das Land der Bauern und Arbeiter."
Zwischen den Augen der Mutter und des Knaben liefen wie flinke, geschmeidige Eidechsen ganz ähnliche listige Blicke.
„Aber Dudoff haben sie nicht totgeschlagen?"
„Nein, ihn nicht."
„Wo ist jetzt Dudoff?"
„Sitzt mit Lenin unter einem weißen Kastanienbaum -"
„Der ist tot, sagt Dimoff."
„Was willst du wissen?"
„Ist es Frühling oder Herbst, wo sie sitzen?"
„Was soll es sein, Herbst wie hier, und die Kastanien, bambam, kullern auf ihre Köpfe."
„Aber du hast gesagt: weiße Kastanien."
„Wenn du alles kennst, erzähl ich nichts mehr."
„Doch, doch, doch. Ich weiß noch genau, wie unser Vater aussah, stehend, ohne Blut, ich weiß auch, wie Dudoff aussah.
Viel, viel früher als alles geschah, was du erzählt hast, waren wir einmal alle zusammen, es war das letzte Mal, als ich aus deiner Brust getrunken habe, ich stand zwischen deinen Knien und du sagtest: ,Zum letzten Mal.' Du und ich, wir weinten, aber der Vater und Dudoff lachten, sag doch, warum haben sie gelacht?"
„Weiß ich, worüber alles die Männer lachen -"
Dudoff fuhr aus der Krim, wo man ihn den Sommer über als Gast empfangen und gepflegt hatte, im Herbst nach Moskau. Sein Körper war jetzt ziemlich gesund und kräftig. Aber je gesünder er körperlich war, desto mehr spürte er die Enge, in die sein Körper hineingezwängt war, wie den Druck einer unsichtbaren Mauer. Er versuchte zu verstehen, was um ihn herum im Abteil gesprochen wurde. Soldaten, die aus dem Manöver auf Urlaub fuhren, die Bauern, die mit Saatgutproben in die nächste Stadt fuhren, das schlitzäugige Mädchen, das auf eine Schule kommandiert war, alle hatten ihren festen Platz, ihre zugemessene Aufgabe. Sie versuchten gleichfalls neugierig, auch mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber Dudoff antwortete kaum, erzählte nichts über sich selbst.
Er erinnerte sich, wie er auf seiner Pritsche nachts in der Kasematte gelegen hatte; irgendein Genosse, der kurz nach seiner Rückkehr aus Russland verhaftet war, erzählte von solchen Fahrten, wie er sie jetzt selbst machte. Ein einziger seiner Sätze hatte damals genügt, um seine kranken Sehnen anzuspannen, seine Kraft zu erneuern. Jetzt fuhr er quer durch dieses Land - die jungen und runzeligen Gesichter der Mitfahrenden sahen verwundert und beinah vorwurfsvoll auf sein schweigendes Gesicht.
Sie hielten auf einer kleinen Station, der sechsten oder siebenten dieses Tages. Der Aufenthalt dauerte übermäßig lange. Irgendein Schaden an der Lokomotive musste ausgebessert werden. Die Soldaten schimpften, die Bauern stiegen aus und ließen sich in der Sonne schmoren, das Mädchen lief zu der Lokomotive, um zu fragen. Der Ort selbst, von dem keine Dächer, nur ein paar Bäume sichtbar waren, musste ein gutes Stück von der Station entfernt liegen. Es hatte keinen Zweck, auszusteigen. Das Stationsgebäude warf nur einen kümmerlichen Schatten, war aber frisch gestrichen. Ein ebenfalls frisch gestrichener Zaun führte ein Stück die Böschung entlang, umzäunte nichts, sondern brach nach ein paar Metern ziellos ab. Dudoff war auf den freien Fensterplatz des Mädchens gerückt. Er betrachtete alles bloß mit den Augen; im Grunde war es für ihn einerlei, was hinter dem zwecklosen grünen Lattenzaun lag; einerlei war es, ob der Zug weiterfuhr oder stecken blieb. Eine Angst, die er nicht kannte, die er noch nie in seinem Leben, nicht einmal als kleiner Knabe gespürt hatte, deren Ursprung ihm unverständlich war, drückte ihm die Kehle. Zwei Bäuerinnen liefen um die auf dem offenen Bahnsteig lagernden Passagiere herum, jede ein gerupftes Huhn in den Händen. Dudoff kaufte gedankenlos eins ab. Er sah einen Augenblick gedankenlos in die hellgrauen, erstaunten Augen der Bäuerin. Er sah wieder hinaus. Hinter dem Zaun waren zwei hohe, das Stationsdach überragende Stangen aufgestellt, die ein Schild trugen. Dudoff las das Schild: „Wir Einwohner von Mokroje haben zum Lenintag den Sumpf ausgetrocknet und die Malaria ausgemerzt." Dudoff beugte sich zurück. Er hörte die leise klare Stimme in der Dunkelheit der Zelle dieses Schild nacherzählen. Ein Ruck ging durch ihn, ging durch den ganzen Zug. Die Bauern drängten sich zu. „In Ordnung", schrie das Mädchen und klatschte in die Hände, als hätte sie selbst den Schaden repariert.
Als Dudoff am nächsten Mittag in den Klub trat, traf er dort Petrow, den er zuletzt in Paris gesehen hatte. Sie gingen ein Stück in die Stadt. Dudoff sagte: „Ich werde nicht mehr lange hier bleiben, ich werde alles tun, um so schnell als möglich heimgeschickt zu werden." Petrow wusste, dass es irgendwelche Widerstände gegen Dudoffs Heimreise gab, er galt seit einiger Zeit als verbraucht und kränklich. Petrow dachte nach, was er ihm antworten sollte. Dudoff fuhr fort: „Ich habe lange genug brachgelegen. Ich weiß gut, es gibt da Widerstände. Aber wir werden schon zusammenkommen, meine Arbeit und ich, wir beide."
V
Als der ältere Liau nach Schanghai kam, hoffte er, jemand zu sprechen, der über seinen Bruder Bescheid wusste. Aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Es wurden wohl Freunde aus Kanton erwartet, die vielleicht genauere Angaben hatten, aber inzwischen bekam Liau Yen-kai selbst den Auftrag, nach den roten Provinzen abzufahren. Zwar verzögerte sich seine Abfahrt noch: die beiden Männer blieben aus, die von unten geschickt waren, ihn abzuholen.
Liau ahnte ungefähr, dass etwas mit dem Jüngeren geschehen war. Zuweilen schüttelte ihn ein plötzlicher krampfhafter Schmerz, wie ihn Menschen in Gliedern empfinden, die sie längst verloren haben. Dagegen dachte er fast gar nicht an seine Frau und an sein zurückgelassenes Kind. Schließlich fuhr er ab, ohne die Kanton-Leute gesprochen zu haben. Die Truppenansammlungen in Schanghai bedeuteten einen neuen Vorstoß gegen die roten Provinzen. Er musste mit seinem Auftrag vorher unten sein. Da seine Begleiter ausblieben, musste er eben allein durch.
Von einer Stunde in die andere in das klare Licht der Gefahr hineingestellt - das war eine Erleichterung. Seit er auf dem Dampfer stand, dachte er fast ohne Schmerz an den Bruder. Nicht nur vom Ufer, von allem, was ihn dort festgehalten, sein Herz beschwert hatte, trennten ihn die wenigen Windungen dieses Seiles, das sich beruhigend schnell ablöste. Er spürte sich selbst auf dem Deck des Schiffes, seine eigne Gestalt scharf abgehoben von der Luft, vom frühen Morgen. In der Gefahr gab es immer einen Augenblick, wo alles von ihm, nur von ihm abhing. Unlösbar an seine Gestalt geknüpft, kamen Tausende durch, wenn er durchkam. Irgendwo auf einer blanken Messingglocke erblickte er flüchtig sein eigenes Gesicht, straff und ernst, ein getreuer Helfershelfer.
Im letzten Augenblick wurde der Dampfer gesperrt für eine Abteilung Soldaten, die stromaufwärts fuhren. Die Zivilisten bekamen eine Kabine zugewiesen, Beamte, Kaufleute in speckige Röcken. Alle fingen sofort zu essen und zu spielen an. Liau schwatzte und spielte ein paar Kartenspiele. Es war ihm zumute,| als sei eine Glasglocke über ihn gestülpt. Er saß darin, spielte] und lachte, aber von allen abgetrennt. Bei einer heftigen Bewegung musste sie klirren. Ein Kahlköpfiger entdeckte, dass das Klappfenster zur Kantine gehörte. Das nützten sie aus, obwohl sie schon die ganze Zeit gegessen hatten. Der Tisch belud sich mit Gläsern und schmierigem Geschirr. Der Dampfer stampfte los, drei Fresssäcken wurde übel, die Wache ließ sie nicht durch, und es gab ein großes Gelächter. Sie versuchten die Luke zu öffnen, aber die Schrauben waren vergipst, und sie waren betrunken und kraftlos vor Lachen. Liau Yen-kai warf einen Blick durch die Luke. Über dem Wasser stand der Bug eines Kriegsschiffes, die riesigen Lichtkegel seines Scheinwerfers kreisten über Himmel und Erde, blendeten in Abständen die Kabine auf. Einer holte aus seinem Rock Photographien, dicke und dünne Weiber, schraffiert von den Abdrücken fettiger Daumen. Eine Weile belustigten sich alle, dann wurden sie verdrießlich und müde. Es wurde Tag, im Frühlicht drehten sich kraftlos die blassen, abgemagerten Scheinwerfer.
Bei der nächsten Station wurde ein Teil der Soldaten aus- und neue eingeladen. Sie durften aus der Kabine nach oben gehen, Luft schnappen, dann wurden sie wieder eingesperrt. Sie fraßen und spielten. Der Kahlköpfige zeigte Kartenkunststücke. Alle Gesichter waren verquollen. Liau blickte durch die Luke. Auf dem dunstigen Ufer, auf einzelnen Booten gingen schon Lichter an, die zweite Nacht.
Am nächstfolgenden Tag hielt der Dampfer in Ti-Kiang.
Ungeduldig horchten sie auf das Scharren der Soldaten, bis alle ausgeladen waren. Das Klappfenster der Kantine wurde von innen zugeschlossen. Sie hockten vergessen um die fleckigen Tellerberge. Endlich wurden einzelne herausgelassen, aber dann mussten sie wieder warten. Schließlich wurde geöffnet, ein Offizier sperrte die Schwelle, Soldaten hinter sich, suchte mit flinken Blicken die Kabine ab. Der Kahlköpfige wurde gepackt. Sein Doppelkinn hing ihm wie ein loser Lappen am Hals. Auf einmal, als dringe der Augenblick mit scharfem Licht in die Vergangenheit, fiel es Liau Yen-kai ein, wo er den Kahlköpfigen schon mal
gesehen hatte: im Ausschuss der Seeleute-Gewerkschaft. Der war auch mit einem Auftrag nach dem Süden geschickt. Aus dem Schwammgesicht, aus den Kugelaugen stachen zwei glühende Spitzen. Er hatte Liau gleichfalls erkannt.
Sie durften jetzt alle heraus. Die kleine Stadt war zum Bersten voll Soldaten. Die Luft roch nach Soldatenessen. Als würden sie hineingepumpt, strömten alle Menschen, auch Liau, nach dem Marktplatz.
Auf den Tribünen erklärten Funktionäre der Tschiang-Kai-schek-Armee den neuen Feldzug. Liau Yen-kai beobachtete die Soldaten. Ihre stumpfen, ledernen Gesichter schienen mit den Uniformen aus einem festen Stoff geschnitten. Der letzte Feldzug war an der Unzuverlässigkeit der Soldaten gescheitert. Sie waren wild geworden, auseinander gefallen, als sie die Sowjetfahnen und Inschriften beim Einzug in die von ihnen selbst eroberten Dörfer erblickten. Aber diese neuen Soldaten sahen nicht aus, als ob sie irgend etwas wild machen könnten. Sie sahen aus, als seien sie bereit, nach der Stoppuhr jeder auf sich selbst loszuknallen. Auf die Tribüne sprang ein junger Redner, der mit seinem ganzen Körper weit ausholte. Über die gleichmäßige Fläche aus Gesichtern flitschte ein langer Schattenarm. Helle, schon im Aufklang zerbrechende Stimme: „Genossen, Soldaten -" Die eben noch starre Menge bäumte sich auf und sackte zusammen. Ein paar Arme rissen ihn herunter, vielleicht war er schon tot, als sie ihn wegschleppten. Liau erblickte noch einen Schimmer seines Gesichts - unsagbares Erstaunen lag drauf. Liau Yen-kai wusste plötzlich, dass sein Bruder tot war; es war zwecklos, auf ein Wiedersehen zu hoffen. Ein scharfer Schmerz brannte ihn durch, erlosch.
Mittags verließ er die Stadt mit einem Haufen Bauern, die querfeldein zur nächsten Anlegestelle an den Hou-Fluß Hefen.
|
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |