ZWEITER TEIL
Viertes Kapitel
Winter 1924. Janek, vier Jahre Gefängnis hinter sich, wartete an der Station auf seinen Zug nach Bialystok. Es war scharf geheizt. Um die Stiefel der Menschen schmolz der Schnee in Pfützen. Janek hielt sich an der Tischkante fest, weil ihm schwindlig war, so weit und bewegt war alles. Gegen die breiten Fenster trieben riesige Schneemassen. Drei Bäuerinnen breiteten ihre Tücher am Ofen zum Trocknen aus. Die Soldaten, die rundherum auf den Bänken lagen, bedrückten den ganzen Raum mit ihrem schweren Schlaf.
Allmählich kamen alle Dinge in Ordnung, als ob sich ein Sturm beruhigt hätte. Janek ließ die Tischkante los und fing an nachzudenken. Vor diesem ersten besten Fetzen Wirklichkeit - wie man sein Gesicht nach langer Zeit in irgendeinem Spiegelscherben sieht - spürte er plötzlich, was die letzten vier Jahre aus ihm gemacht hatten. Er stand bewegt auf und ging hinaus.
Um die Weichenlichter kreisten Schwärme von Schneeflocken. Die Schienen verschwanden schon gleich hinter dem Vordach im Schnee. Aber Janek wusste, hinter dem Schnee war die Ebene -unermessliche Weite. Er lehnte sich ruhig an die Wand und schloss die Augen.
Später im Zug schlief er ein zwischen kartenspielenden Bauern; er erwachte erst eine halbe Stunde vor der Ankunft. Er war ausgeruht, alles prickelte ihm vor Freude. Er beteiligte sich am Geschwätz der Bauern: Steuern, der Skandal um den Bischof von Lowicz, Pferdemarkt, 20 Zloty das Pferd. In Bialystok sagten sie: „Die ganze Nacht schläft er, und jetzt steigt er aus, wo man anfängt, warm zu werden."
Janek ging in die Stadt hinein. Die letzten Schneeflocken blätterten vor einem fahlen Frühhimmel. Die leeren, kahlen Straßenzüge zeigten ihre ganze Schadhaftigkeit, wie die Gesichter von Schlafenden. Janek war hier geboren, er kannte keine andere Stadt. Aber als hätte er die Zwischenzeit nicht in der Zelle, sondern wunder wo verbracht, schien es ihm jetzt eine Strafe für einen Menschen, in einer solchen Stadt zu wohnen.
Er war Mitte August 20 verhaftet worden, kurz danach waren die Russen hier gewesen, dann zurückgegangen. Als sei nur eine Nacht seit seiner Verhaftung verflossen, bewachten die alten Polizisten die alten Straßenkreuzungen, die eisernen Schritte der Patrouillen quetschten die niedergeknüppelten Straßen, stumm erwartete die Stadt einen nutzlosen Tag.
Janek kam in das Färberviertel, seine Fabrik war stillgelegt, als Lagerräume verpachtet, aus dem Hof der Färberei ragten ein paar Dutzend Deichseln von ramponierten Kutschen. An der Mauer schnupperte Janek an einem Fetzen Plakat herum, abgerissen oder von selbst aufgeweicht, eine ganz gewöhnliche Bekanntmachung. Er bog in seine eigene Gasse, es war eigentlich schon Tag, aber niemand hatte Lust danach. Janek verbrauchte wartend seinen letzten Vorrat an Freude. Schließlich wurde von innen aufgeriegelt, ein großer Schneebesen kam heraus, und dann seine jüngere Schwester Sophie, fremd, kein Mädchen mehr, dickbäuchig. Sie warf den Besen weg und küsste ihn. Hinter dem Ofen guckte die Mutter hervor, was in der Tür los war. Sie fing nicht zu weinen an, sondern sog die Lippen nach innen. Und sie sagte: „Luft hast du in den Backen und kein Fleisch mehr, aber womit dich aufprusten?" Ein Janek wurde weich und kroch in ihre Röcke, ein Janek machte sich hart und beobachtete alle und alles. Sophies Mann, den Janek noch nicht kannte, schlug ihm mit hellen Augen auf die Schulter und sagte: „Willkommen, Bruder!" Die Alten waren vollends blöd geworden und verstanden gar nichts. Manja war wohl nur zufällig hier - mit roten Flecken und gelbem, fahrigem Haar, das einzig Bunte im Zimmer -, tat, als sei er nur eben fortgewesen, beachtete ihn gar nicht und trällerte. Sein Bruder hatte ihm schnell die Hand gegeben und sich dann hinter den Tisch gesetzt. Ihre Augen suchten einander. Wieder wurde ein Janek klein, schrumpfte zusammen unter dem Arm des großen Bruders, ein Janek machte sich hart und beobachtete unablässig den anderen hinter dem Tisch. Irgend etwas war aus Wladeks Gesicht herausgefallen, vielleicht war es auch nur gewöhnlich grau. Janek setzte sich dicht zu ihm, um ihn besser zu betrachten. Wladek legte den Arm um seine Schulter, sein Arm war leichter geworden.
Er begann: „Bist geschunden worden all die Zeit, und was wird jetzt werden?"
Janek sagte: „Mir geht's gut. Und du?"
„So -"
„Sie haben dich gar nicht geschnappt damals, das war gut, erzähl mal was."
„Was willst du, dass ich erzähle?"
„Freilich am besten von vom, wie die Russen hier waren."
„Was willst du, dass ich erzähle? Sie waren eben hier, ich habe sie selbst anreiten sehen, mit Hoi und Ho, und eh man's noch recht verstanden hatte, waren sie wieder fort, und das Nachher war wie das Vorher, bloß schlimmer."
„Was ist das für eine Erzählerei? Damals, als ich geschnappt wurde, auf der Wache, als ich die Zähne in den Schlund geschlagen kriegte, dachte ich immerfort, das hat mein Wladek hinter sich, so oder so, nu erzähl doch schon mal."
Wladek zog den Arm von Janeks Schulter herunter und hakte die Finger ineinander:
„Damals, am Abend vor dem Morgen, an dem sie dich verhafteten, ging ich in das Geschäft von Sutin und holte das Paket ab, ich habe es heimgebracht, in den Ofen gelegt. Dann bin ich gleich weggegangen, um die anderen Flugblätter zu holen, in einer Wohnung in der Antonsgasse. Es war schon ziemlich still, die Patrouille Ecke Veitsgasse überholte mich und dann kreuzte sie die Patrouille, die von der Antonsgasse herunterkam, und ich habe in meinem Rücken gespürt, wie sie die Köpfe nach mir umgedreht haben, da bin ich in eine Kneipe hineingegangen, als sei ich deswegen in der Antonsgasse. In der Kneipe saßen zwei aus der Färberei, und wie sie mich sahen, holten sie mich ran und sagten: ,Dank deinem Schöpfer, dass du deine Nase heute abend in nichts drin hast; hast du gehört, was mit Paul ist?' - ,Nein', sage ich, ,ich habe nichts gehört.' - ,Den haben sie geschnappt in Nummer 18 unter dem Dach, sie haben ihn zusammengebunden und die Treppe hinuntergeschubst von Absatz zu Absatz; wie der unten angekommen ist, da hat er ausgesehen wie umgestülpt, und dann haben sie ihn in die Wache hineingeschleift, und er war nur ein Kloß und kein Gesicht mehr.' Und sie sagten: ,Wart mal, Wladek, wir gehen alle zusammen.' Da gingen wir ein Stück zu dritt, und sie erzählten immerfort weiter; mit mir war aber was los, und ich dachte, es ist bloß in den Knien, bisher habe ich doch immer meine Pakete geholt, wie Brote vom Bäcker -"
Wladek seufzte. Janek berührte seinen Arm, da redete er weiter: „An der Veitsstraße habe ich sie gelassen, da ist eine Kaffeestube mit Mädchen, wo ein Schild heraushängt mit Tanzen, es wurde aber nicht getanzt, nur das Schild war noch da. Kommt der Genosse Stefan heraus, sieht ganz komisch aus und packt mich am Arm und sagt: ,Ich bin ganz verrückt vor Warten, jetzt geh mal da runter und drück dich rum, dann geh weiter, du kannst nicht nach Nummer 7, die sind aufgeflogen. Und ich weiß nicht, ob sie hinter uns her sind.' Da bin ich heruntergegangen, es war knallvoll, und habe mich da herumgedrückt, eine halbe Stunde, eine Stunde, ich weiß nicht, ich bin dann heimgegangen, und da bist du schon fort gewesen."
Alle anderen im Zimmer drückten sich zusammen und ließen die beiden hinter dem Tisch leise miteinander sprechen.
„Wart mal, Wladek, da war eine Anweisung herausgegeben, wenn im vierten Bezirk das Lager auffliegt, dann soll man im nächsten Bezirk vom anderen Lager die Flugblätter abholen."
„Ja, es gab eine solche Anweisung."
„Aber du, Wladek, hast dann nicht mehr abgeholt?"
„Nein, dann habe ich nicht mehr abgeholt."
Er schwieg, ihre Köpfe rutschten auseinander, die Mutter dachte, dass sie fertig seien, und legte die Löffel hin.
Janek sagte: „Unsere Mutter, unsere Schwester und ich, wir haben damals nachts gefaltet. Ich habe dann alles in die erste Schicht mitgenommen, mein gutes Paket. Für dieses Paketchen haben sie mich vier Jahre eingesperrt, zwei davon saß ich mit Solonjenko, von dem habe ich viel gelernt, das war für mich ein großes Glück. - Aber du, Wladek, was hat es seitdem mit dir gegeben?"
„Was soll es geben - Unsere Bude ist zu, ich sitze mir den Hintern durch -"
„Was ist mit unserer Arbeit?"
„Frag mich." - Wladek zog sich den Topf heran - graue, schlappe Hände, es war lange her, seit diese Hände von Ultramarin gebeizt waren. Aber es musste auch lange her sein, dass sie als Fäuste im Schritt der Demonstration gependelt hatten! -„Iß dich mal voll, Janek - Zähne brauchst du keine -"
Alle warteten, bis Janek anfing zu essen, ob er etwas dazu sagen würde. Aber Janek aß still und dachte nach; hinter dem Fenster zerfiel der Tag in eine Asche aus grauem Schnee. Das Zimmer schien immer enger und enger zu werden, einem um die Kehle zu ziehen. Aus den Gesichtern der Mutter, der Schwester und des Schwagers schien eine eigene Helligkeit auf den Tisch; nur Wladeks Gesicht war kahl und grau wie der Tag draußen. Im Stroh schnupperten die Alten nach dem Essen auf dem Tisch. Wie am vergangenen Abend auf der Station, war Janek plötzlich alles viel zuviel, er hätte am liebsten den Kopf auf den Tisch gelegt und geschlafen, aber Sophies Mann sagte: „Heute gehe ich nicht auf den Markt, heute tu ich das nicht, da musst du erzählen."
Janek sagte: „Ja, ich habe viel gelernt diese vier Jahre." Er warf seine Erschöpfung ab und zwang sich, zu sprechen. In den Gesichtern der drei zwischen den aufgestützten Händen glühten die Augen hell, und die Augen der Mutter hinter den grauen Zotteln standen Janeks Augen nicht nach.
Nur sein Bruder hörte mit niedergeschlagenen Lidern Zu. Heiße Freude strömte durch Janek, weil er daheim war. Er sagte: „Wenn sie auf der Wache nach mir fragen, sagt, ich war die Nacht über hier, bin aufs Land und komme wieder." Sophies Mann sagte:
„Du kommst und gehst, kommst und gehst. Willst du schon wieder weg?" - „Ja, ich muss -" Die Mutter sog ihre Lippen nach innen. Sophie drückte sich an ihn, schimpfte und streichelte sein Haar. Ihr Mann ging weg und brachte etwas zum Trinken, alle tranken, auch die Alten im Stroh verkleckerten kichernd etwas auf ihre Kittel. Janek wollte die Nachbarn nicht haben. So feierten sie Janeks Ankunft und Abschied eng aneinandergedrückt, und innen im Knäuel drin sang Sophie leise, was Janek sich wünschte.
Zuletzt setzte sich Janek neben seinen Bruder hinter den Tisch, er legte seinen Arm schwer auf Wladeks Schulter - „was quälst du dich ab, was ist denn in dich gefahren? -"
„- Es ist nicht in mich, Bruder, es ist aus mir raus -" Als ihre Gesichter auseinanderglitten, hatte etwas Helles auf Wladeks Gesicht abgefärbt.
Nachts kam Manja heim mit nassem, gelbem Haar und ausgelaufenen Flecken. Sie hatte niemand gefunden und musste sich zu den anderen ins Stroh legen. Sie machte Licht und schnüffelte nach Essbarem; sie fand nichts, erblickte aber die Gläser auf dem Tisch, goss die Tropfen in eins und leckte. Auf einmal fuhr sie zusammen, sah sich um und begriff, dass Janek fort, ja, begriff erst jetzt, dass er dagewesen war. Ihr Gesicht verzog sich kläglich.
II
„Pali, Pali!" Die Frau packte ihn schließlich an den Schultern und rüttelte zornig, weil er den Söhnen das Bett wegnahm. Die beiden Söhne standen am Fußende des Bettes mit nackten Oberkörpern - ihre Hemden waren schon in der Bütte - und warteten verdrossen auf den Schlaf, von dem Pali ein Stück zuviel für sich selbst nahm. Es kostete Pali eine schreckliche Anstrengung, aufzuwachen. Frau Bordoni war das nicht, die kleine Frau mit den weißen Zotteln. Jetzt war er schon viele Tage hier in Enzéres, das Zimmer war wie gewöhnlich frühmorgens bei Schichtwechsel: die einen räumten das Bett, und die anderen warfen sich darüber; in den Gesichtern der Frauen hatte sich die Müdigkeit wie grünlicher Schimmel angesetzt. Hinter dem trüben Fenster auf dem Weg war Schatten und Unruhe. Die Hemden trockneten über den Stuhllehnen, Pali zog seins über, steif war es, aber warm, ah! Die dicke, zottelige Frau drehte sich um, ihr Gesicht glänzte plötzlich weich auf im Lächeln der Gastfreundschaft.
Es war spät, Pali stürzte hinter den Letzten her, den Weg zwischen den Baracken. Ein scharfer, rieseliger Schnee nahm ihm den Atem. An den Barackenwänden, an den Kneipen hingen Schilder, ein paar Flicken Heimat, wie im Schlaf, die Löcher mit Schnee ausgefüllt.
Im vergangenen Herbst waren viele seiner Landsleute nach Frankreich gegangen in die Aufbauzone und in die Kohlendistrikte, als daheim so viele Betriebe stillgelegt wurden, dass es unmöglich war, weiterzuleben. Es waren aber auch Flüchtlinge aus dem Jahr 19 darunter, die schon allerlei Strecken hinter sich hatten, so wie Pali. Auch ihn hatten sie von Paris nach Enzéres geschickt. Er hatte Arbeit bekommen, schwere, ungewohnte Arbeit, auch war der Winter ungewöhnlich kalt.
Aus einer Kneipe stürzte ein Mann ins Freie, fiel in den Schnee und jammerte; hinterher kamen noch welche, die bückten sich, rieben sich wild das Gesicht mit Schnee ab und torkelten weiter. Pali warf einen sehnsüchtigen Blick in die offene Tür, wo es heiß und voll war. Pali, der Mann, der noch im Schnee zappelte, die drei mit den schneenassen Gesichtern, alle spürten sie, es war ein Tag, der sich von Anfang an auf einen legte, um einen gleich nicht hochkommen zu lassen.
Die Halde, auf der er arbeitete, lag über dem Ort. In dem Gestränge liefen die Karren mit weißen Hauben an; auf den Säcken, die die Arbeiter als Kapuzen über sich trugen, klebte der Schnee. Sooft Pali den Fuß auf die Schaufel setzte, schnitt es ihm tief in die Sohle. Dann schien es ihm, er könnte nicht einmal einen Tag durchhalten. Er hatte sich vorgenommen, den Winter über hier zu bleiben.
Gegen Mittag fing es zu tauen an. Man konnte unter dem dünnen Schnee die Halde in breiten schwärzlichen Adern in die Barackenvorstadt einmünden sehen. Frankreich: eine glitschige Halde und darunter schiefe Baracken, eingeweicht in Schneeruß. Abends trat Pali in die erste Kneipe am Anfang des ersten Barackenzugs. Dicker schwärzlicher Schnee kam ihm in zähen Fäden nach. Aber aus dem Bild über der Theke glühte ein heißer, brennender Sommer, und der Himmel war knallblau, und schläfrig der Hirt und seine Tiere, und ein sengender Wind strich das Gras, und selbst die verstaubten Maiskolben, die der Wirt an die Decke gehängt hatte. Man brauchte sich nur auf den Bänken herumzudrücken und zu trinken und zu dösen. Für alle klagte und schluchzte im Grammophon die Stimme: „Wie traurig seid ihr geworden, Abende in Szolnok -" Auf einmal schrie jemand: „Stell doch ab das Biest, stopf ihm das Maul, dem Frauenzimmer, wir wollen selbst weinen." Der Wirt stellte ab. Der geschrieen hatte, stemmte sich vom Tisch weg und setzte mit tiefer, glühender Stimme ein:
„Auf dem Markt in der Stadt erfuhr Mischka, Untreu war ihm seine Liebste.
Gar nichts sagte Mischka, aber auf dem Heimweg mit der Gewaltig schlug er seinen Esel." [Faust
Auf einmal packte jemand Pali am Handgelenk und zog ihn herunter. Das war Józsi, Józsi aus dem vierten Bezirk! - „Ich habe dich nirgends gesehen, nicht geahnt, dass du hier bist." -„Du wirst noch nicht hier gewesen sein, ich sitze jeden Abend hier, hier auf diesem Fleck -" Józsi leckte an seinem leeren Gläschen, kippte es um und stellte es vorsichtig auf die beiden umgekippten, die schon vor ihm standen, zu einer kleinen Pyramide. Józsi war noch immer ein schöner, breiter Bursche wie vor fünf Jahren, jetzt war er rot und verschwitzt, zwischen betrunken und angetrunken, er wäre vielleicht in diesem Augenblick ganz betrunken geworden, wenn Pali nicht dazwischengekommen wäre. Obwohl er Pali zuerst erkannt hatte, schrie er plötzlich von neuem auf: „Pali, Pali!", als begriffe er mit einem Schlag die Bedeutung ihres Zusammentreffens. Er küsste ihn auch von neuem, dass die Umsitzenden lächelten und nasse Augen bekamen, als enthielten diese Küsse das Urbild aller menschlichen Wiedersehen.
Pali begann: „Was ist mit dir passiert, hast du Nachricht von zu Haus? Wie bist du hergekommen?"
Józsi sagte: „Wo haben wir uns zum letzten Mal gesehen?
Zum letzten Mal haben wir uns in der Váczigasse in Budapest gesehen, im großen Fabriktor, dieser Scheißkerl, der auf uns rumgehoppt ist, hat den einen Stiefel auf deinem und den anderen auf meinem Bauch gehabt. Dann haben sie mich in so ein Loch gesperrt -
So ist es, wenn man am Leben bleibt. Ich bin aus dem verfluchten Land herausgekommen, ich bin dahin und dorthin gefegt worden, ich bin auch nach Paris gekommen, und dann haben sie mich hierher geschickt, der Präfekt hat wohl gedacht, hier können sie einander ihre rote Krätze abkratzen, da sind sie unter sich, mag dabei sein, wer will, niemand stecken sie an."
Pali sagte: „Kommst du mit unseren Genossen zusammen? All die Zeit bist du nie bei uns gewesen -"
„Ich werde schon noch mal zu euch kommen, so schnell werde ich ja nicht aus diesem Rattennest herauskommen, dass ich nicht mal Langeweile kriege, und dann hocken wir beieinander und studieren die Thesen des vierten Weltkongresses, und wir verfassen ein Telegramm an den Jugendkongress in Berlin:
,Der Proletarischen Jugend der ganzen Welt unsere brüderlichen Grüße.' - Habt ihr schon gemacht, ohne mich, siehst du? Mein Vater, Pali, hatte zu Hause solche Gläschen, er kippte immer eins auf das andere, eine Pyramide von sieben Stück, aber er blieb ein friedlicher Mensch, wenn man ihn nur sein Pyramidchen zu Ende bauen ließ. Wenn meine Mutter mal durchaus wegräumen wollte, wurde er fuchswild und zerschlug uns allen die Knochen." Auf einmal fing Józsi zu lachen an:
„Nun, Pali, wer hat damals zu Hause recht gehabt, du oder ich? Sollen wir eine Wohnungskommission einsetzen oder den selbstgewählten Mieterausschuß anerkennen?" Pali erwiderte ruhig: „Du hast recht gehabt, natürlich Kommission -" Er betrachtete Józsi von der Seite vorsichtig. Was war das für ein Józsi gewesen, seine Gruppe war die beste und straffste bis zuletzt, die Jungens hatten wie Kletten an ihm gehangen. Wenn Józsi aufgesprungen war und angefangen hatte zu sprechen, wenn sein Gesicht geleuchtet hatte von klarem Menschenverstand -
Józsi sagte: „Ich werde nie mehr in meinem Leben aus diesem Rattennest herauskommen."
„Warum sollst du nie mehr herauskommen? Und dann, findest du, dass es hier so besonders anders ist, schlimmer als woanders?" „Nein", sagte Józsi, „nicht besonders anders, eine Scheiße ist's - ein Gepansche ist's, aus ist's; wir haben ein paar auf den Kopf gekriegt, allerorts, nicht zu knapp, nicht von schlechten Eltern. Auf den Kopf, sag ich dir, auf den Hintern und auf den Bauch und auf den Nacken.
In der Váczigasse, mein Teurer, in Ungarn, Bulgarien, in Italien und in Deutschland und wo immer. Tot ist Lenin.
Wie ich das gehört habe, dass er tot ist, da hab ich mich noch mal auf meine Beine gemacht, und ich war in Paris, und wir sind marschiert, und wir waren sechzigtausend.
Jetzt aber ist es still geworden, und wir können uns ausschnaufen und einen Bart anstehen lassen -
Sie haben mich damals in ein solches Loch gesperrt, da hab ich in meinem Dreck in einer Pfütze gesessen im Dunkeln und habe die Internationale gesungen, Tag und Nacht, vor und zurück, zurück und vor, von ,Ohn Unterlaß' bis ,Wacht auf, Verdammte', von ,Wacht auf, Verdammte' bis ,Ohn Unterlaß'. Ich sage dir, sie haben mich zu solchen Verhören geführt, sie haben mich an den Füßen aufgehängt, sie haben Fußball mit meinem Kopf gespielt, und doch hat mein herunterhängender, zwischen ihren Füßen baumelnder Kopf geschrieen: ,Es lebe die Weltrevolution!' Aber wenn ich jetzt rufen sollte, wie ich vor dir sitze, da ist es, als ob man es aus meiner Kehle herausgekratzt hätte."
Und er sagte: „Jetzt hör doch nur mal den an! Der singt ja noch immer! Er singt und singt, er zupft einem die Fasern einzeln vom Herzen weg, und man legt sich hin und lässt sie zupfen."
Nach dieser Begegnung vermied es Pali, mit Józsi zusammenzutreffen; aber nach einigen Wochen stießen sie doch zusammen, und da bedauerte Pali, dass er Józsi damals gelassen hatte, nur weil er betrunken und verzweifelt war. Es war im Gewerkschaftshaus in Enzéres. Zu diesem Abend hatte der Verband Dorin und Beuzon aus Paris geholt, um der Versammlung klarzumachen, in diesem zähen, ungewöhnlich harten Winter: Unzweckmäßig sei es, sich dem Streik von Tenay anzuschließen, da der Distrikt einen erfolgreichen Teilstreik hinter sich hatte und durch Anschluss nichts erreichen konnte. Dorins Sprache hatte etwas Rieseliges, Glitzriges über dem grauen, mürrischen Block der Versammlung - Beuzon dagegen machte sich derb. (Seht mich an. Ich bin hier geboren. Ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie ich hier geschuftet habe. Ich kann mich noch ziemlich genau erinnern, wie es mir damals zumute war. Habt also Vertrauen zu meinen Ratschlägen.)
Unter denen, die sich zur Aussprache gemeldet hatten, wurde Józsi aufgerufen. Pali hat ihn die ganze Zeit vorher und auch jetzt im Saal nicht gesehen. Er sah ihn erst, wie er heraufsprang. Nicht nur Pali, alle verschluckten ihn mit den Augen. Als richte sich plötzlich ein Scheinwerfer scharf auf Józsis Gesicht, glänzte es auf, aber es glänzte von innen. Alle sahen es, wie bei einer gewissen Witterung eine Landschaft deutlich wird. Er handhabte
die fremde Sprache schlecht, lernte sie erst im Reden. Den Dorin und Beuzon warf er ihre eigenen Worte zurück an den Kopf. Abgerissener, zerfetzter Józsi, in seinen Rissen und Fetzen war der alte Glanz der Revolution hängengeblieben, er brachte ihn mit ins Gewerkschaftshaus von Enzéres. Dieser Glanz war mit keinem anderen Stoff der Welt zu verwechseln. Das verstanden alle, die mit zusammengebissenen Zähnen zuhörten oder wütend „runter" und „raus" brüllten.
„Ihre Zeit ist um! -"
„Er soll weiterreden -"
„Weiter!" schrie Pali, schrieen ihre Landsleute - sie waren ein gutes Viertel im Saal -, ihre französischen Genossen. Seine zerstückelten Worte hielten die Menschen in Atem. „Da hat man uns gesagt, dass wir uns schneiden ins eigene Fleisch. Nun, und wenn schon. Wir müssen uns auf unserem Weg noch oft ins eigene Fleisch schneiden - Da hat man uns eben gesagt, wir sollen uns nicht anschließen, und hat uns auch den Grund gesagt. Aber es kommt nicht bloß darauf an, dass wir hier einen Bissen mehr zu fressen haben, sondern dass wir alle einmal satt haben werden, in Enzéres und in Tenay und überall."
Je länger er redete, desto leichter ging es, als überrenne er alle Hindernisse der Sprache und der Gedanken. Es gab keine Schwierigkeit, irgend jemand im Saal zu überzeugen. Als nähere er sich mit großer Geschwindigkeit einem Ziel, erblicke es selbst immer deutlicher. Mitstreiken oder nicht - Er hatte nur einen kleinen Winkel erhellen wollen, aber er hatte ein so helles Licht gewählt, dass der ganze Umkreis hell wurde. Minutenlang mussten auch Józsi selbst alle Zusammenhänge seines eignen Lebens klar sein.
Als Józsi herunterstieg, wussten alle, wie die Abstimmung ausfiel. Aber sein Gesicht war mit einem Schlag verändert, als hätte man ihn soeben gegen seinen Willen zum Reden gezwungen.
Nachher beim Ausgang wartete Pali auf Józsi. Der kam allein herunter, mit hängenden Schultern, pfeifend, mit schiefem Mund. „Das hast du gut gegeben." - „Hab ich - ich guckte bloß rein, höre dieses Bonzengeorgel -, willst du schon heimfahren, Pali? Na, da fahr allein. Hab ich schon das Fahrgeld ausgegeben, will ich mir mal das Städtchen von innen ansehen." Pali sah sich später wieder nach Józsi um, fand ihn nirgends. Es war, als
hielt sich Józsi mit Absicht verborgen. Der duselte gewiss in irgendeiner Kneipe, schlief mit einem von diesen klapprigen Frauenzimmern, die aus der Innenstadt kamen, wenn sie nicht mal dort Anschluss fanden. Er bekam es satt, nach ihm zu suchen.
Eines Abends sagten sie ihm in der Kneipe: „Du, der, den du hier mal getroffen hast, und ihr habt euch geküsst, dem hat's gestern den Bauch eingequetscht, sie haben ihn ins Spital nach Enzéres gebracht, dass er zugenäht wird."
Am Abend fuhr Pali nach Enzéres hinein.
„Sie können doch jetzt nicht mehr rein."
Pali bettelte: „Über Tag kann ich nicht, ich muss, ich muss."
Im Saal war schon das Nachtlicht an. Bläuliche, in Mull verwickelte Fleischstücke lagen auf den Betten herum, wie angefault. Ein scharfer, reißender Schmerz - als gäbe es nur einen einzigen - schüttelte eine ganze Reihe von Betten, biss sich bald da, bald dort fest und erstarb in einer Ecke in einem kläglichen Stöhnen. Pali erschreckte es zuerst, aber er war bald daran gewöhnt. Józsis Gesicht unter ihm war fast ohne Fleisch; alles, was Józsi immer verdecken wollte, lag jetzt offen da, er versuchte ein dünnes Lächeln darüberzuziehen, es langte nicht. Bei Palis Anblick zog Józsi die Brauen hoch, dachte: Wenn er jetzt nur nicht wieder anfängt in mich einzureden, von der Partei, von der Streiklage, mich quält. Ich kann ja nicht mehr mit.
Pali setzte sich aufs Bett, Józsis Leib verschob sich ein wenig, er wurde schwindlig vor Schmerz, verbiss es aber. Er sagte: „In diesem Rattenloch bin ich stecken geblieben, siehst du, für ganz-" Pali sagte: „Warum denn für ganz? Es kann einem auch woanders den Bauch einquetschen." Sie starrten einander an. Józsi sagte: „Ja, freilich, das kann es." Pali fing leise zu erzählen an, alte Sachen von der Partei und neue, die sich inzwischen ereignet hatten. - „Was sagst du dazu, diese Gewerkschaftsfatzken haben den Streik wieder abgekurbelt?"
Józsi presste die Lippen zusammen und drehte sein Gesicht nach der Wand. Pali erschrak und brach ab. Aber Józsi sagte: „Geh noch nicht, erzähl was, was ganz Gewöhnliches." Pali versuchte verwirrt, irgend etwas zusammenzubringen. Józsi sagte: „Wenn du unten herausgehst, dann liegt links das Direktionszimmer." Er schluckte. Pali sagte: „Du hast etwas sagen wollen."
Józsi hatte wohl sagen wollen, Pali möchte sich Nachricht einholen, wenn was mit ihm passierte; das müsste doch gut sein, wenn hier in Enzéres ganz zuletzt einer von daheim aus dem zehnten Bezirk dabei war, aber er schämte sich, verachtete diesen Gedanken, wusste nichts mehr. Da dachte Pali, dass er jetzt gehen müsste, und nahm seine Hand von der Decke weg.
Józsi behielt das Gesicht gegen die Wand. Die Schmerzen in seinem Leib waren fast solche Schmerzen, wie man sie nicht zu ertragen braucht, aber man konnte sie noch ertragen, und Józsi biss sich die Lippen durch. Richtig war es, zu brüllen, wie der Mann ein paar Betten weiter jetzt brüllte, maßlos, in wilden, heftigen Stößen. Józsi kannte die Schmerzen, die einem das Innerste herausziehen. Man stemmte sich dagegen und biss sich die Zunge ab. Jetzt hätte er brüllen dürfen - Er hatte kein Geheimnis preiszugeben, keinen Führer zu verraten. Hinter diesen Schmerzen drohte nicht ein ungewöhnlicher Tod, ihn mit ewigem, unauslöschlichem Glanz zu überschütten. Hier war der tägliche, auf viele fleckige Betten verteilte Tod. Am Ende des Saales fing es an, stöhnte die Reihe entlang und brach vor Józsis Bett ab. Eine furchtbare Enttäuschung, furchtbarer als alle Schmerzen, presste sein Herz zusammen, es ist aus, es geht ohne mich weiter.
Dann drehte Józsi plötzlich sein Gesicht von der Wand weg, dem ganzen Saal zu. Sein Gesicht veränderte sich gänzlich, als begriffe er erst jetzt, wo er eigentlich war, und mit wem, und sei mehr als zufrieden mit seinem Platz. Zugleich fiel ihm ein, dass Pali gekommen war. Er streckte die Hände nach ihm aus, mit der zauberhaften, mit unsichtbaren Bällen spielenden Bewegung der Sterbenden.
Pali ging langsam, schwer vor Nachdenken, die Treppe hinunter. Am Ausgang stutzte er, links an der Treppe hing ein Schild: Büro der Direktion. Er trat ein, weckte die unter der Lampe duselnde Krankenschwester. Er zählte sein Geld hin und sagte rauh: „Wenn meinem Freund auf Saal 4 etwas passiert, bitte um Mitteilung."
III
Nach einer Bezirksversammlung hinter dem Schlesischen Tor in Berlin wartete Bató mit einem seiner Genossen auf den Autobus. Sie traten von einem Fuß auf den andern. Ihre Gesichter waren vergilbt vor Kälte.
„Was einem jetzt im Betrieb geboten wird - dem Prolet wird's ins Fell gegerbt, der spürt seine Fehler im Fleisch, wir sind eben hineingeschliddert in den Dreck, für diesmal haben wir unsere Sache verpasst. Und was man jetzt oben macht, bloß feststellen, warum wir hineingeschliddert sind. Aber dann denk ich mir, jetzt mal Schluss und aufrappeln und Luft kriegen."
Bató sprang auf den Autobus, den er fast verpasst hätte. Luft kriegen! Vielleicht war die Last von Enttäuschungen und eigenem Missgeschick allmählich so schwer geworden, dass ein paar Worte zu dieser Last genügten, um ihn ganz niederzudrücken. Er war in einen schrecklichen Hohlraum hineingeraten, das spürte er in diesem Winter jeden Tag mehr. „Seit ich von Wien fort bin, sind meine Freunde von mir abgebröckelt. Meine Familie ist nur eine Zufallsfamilie. Meine Stelle auf der Redaktion ist nur eine Zufallsstelle. In der deutschen Partei habe ich keine Arbeit. Meine Kraft hat wohl bloß ausgelangt, mich vom Alten loszureißen, nicht im Neuen einzuwurzeln. Deshalb kann ich auch nicht mehr schreiben, keinen einzigen Satz mehr." Niemals wird etwas über seine Lippen kommen, er wird nicht einmal vor sich selbst klagen. Aber keine Fahrt in seinem Leben, selbst nicht die Flucht vor vier Jahren über die Grenze, war schwerer gewesen als diese Autobusfahrt in die helle Stadt an einem Winterabend.
Er wischte mit dem Ärmel die angelaufene Scheibe. Seine Blicke begannen verzweifelt eine nutzlose Sucherei durch endlose Reihen von Laternen, Dächer auf und ab, durch ein Gestrüpp flammender Lichtbuchstaben.
Was ist das eigentlich für eine Dunkelheit? dachte er. - Was ist das eigentlich für eine Angst? Woher kommt sie? Den ganzen Abend über war es leichter, noch eben war es leichter, unter der Laterne mit meinem Genossen. Genügt das denn, dass man auf einen Autobus springt, um wieder allein zu sein?
Als Bató ausstieg, war sein Zimmer auf der großen Häuserwand hell. Das sah nach Gästen aus. Bató war erstaunt und ziemlich erfreut. Früher war es bei ihm voll bis zum Morgen gewesen, inzwischen hatten sich alle verlaufen. Große Dinge gab es mit ihm nicht mehr zu besprechen und kleine wusste er nicht und war nicht kurzweilig. Er wäre jetzt am liebsten selbst zu Eugen gefahren, wo es immer lustig war.
Wie er heraufkam, war es auch bloß Marie, die hell gemacht hatte, um ihre frischen Vorhänge aufzuhängen. Sie lächelte immer, wenn er eintrat, als hätte sie nicht damit gerechnet, ihn wieder zu sehen. Er sagte: „Gut, dass niemand hier ist, da kann ich wenigstens ruhig arbeiten." Marie steckte den letzten Vorhang auf. Hinter dem Wandschirm in dem riesigen vergoldeten Barocklhimmelbett des Malers schliefen seine Kinder.
Alles war beinahe wie eine Familie. Er setzte sich hin und versuchte zu arbeiten wie jeden Abend. Wie jeden Abend begriff er sofort: Es ging nicht mehr, es war unmöglich, alle Versuche waren fruchtlos. Diese seine Fähigkeit, die er für sein Eigentum gehalten hatte, wie sein Herz oder wie seine Hand, hatte ihn verlassen. Seine frühere Kraft, sich durch Worte mitzuteilen, war erloschen - als hätte er sie versehentlich mit hineingeworfen in das große Feuer, in das er alles Alte geworfen hatte. Marie drehte den großen Kronleuchter mit den Kristallkugeln aus, nahm eine Näharbeit und setzte sich zu ihm. Jetzt im Kreislicht der Lampe war es wirklich ganz wie eine Familie.
Marie sagte: „Wir sollten endlich ein anderes Zimmer suchen."
„Wozu denn?"
„Das ist eine schlechte Straße und ein schlechtes Zimmer. Kein richtiges Zimmer, die vielen Spiegel überall und der Kronleuchter. Im Winter ist es hier bitter kalt und im Sommer heiß."
„Das ging doch lange Zeit."
„Dass man ein Jahr in einem Zimmer wohnt, ist doch kein Grund, für immer hier zu wohnen; du sagst doch, dass wir in dieser Stadt noch länger bleiben."
„Ja, es sieht so aus, als ob wir für lange Zeit hier bleiben."
Da sagte Marie erschrocken, als lägen sie auf der bloßen Erde in irgendeinem Wald: „Warum sollen wir gerade hier für immer bleiben?"
Bató erwiderte nichts; Marie packte ihre Sachen zusammen und legte sich zu den Kindern. Bató blieb einige Stunden sitzen. Statt zu arbeiten, dachte er nach, warum er nicht mehr arbeiten konnte.
Dann ging er hinüber. Er betrachtete die drei kränklichen, schlafenden Gesichter in dem großen goldbronzierten Barockbett mit den bauschigen Vorhängen, mit den gespreizten, elektrische Kerzen tragenden Engelchen. Er wusste nicht, ob er diese Menschen gar nicht oder über alle Maßen liebte; jedenfalls hatte er sie immer wieder zusammengerafft und mitgeschleppt und liegengelassen und weitergeschleppt. Er wusste nicht einmal, ob das falsch oder richtig war.
Auf einmal merkte er, dass Andris nicht schlief, sondern ihn mit seinem einen durchdringenden wachen Auge betrachtete. Bató zog sich aus und legte sich in das schmale Feldbett, das in einer Ecke des Raumes zwischen Staffeleien und Stehlampen aufgeschlagen war, als befänden sie sich im Kriegsgebiet, im Flügel eines feindlichen, dreiviertel niedergebrannten Schlosses. Bató winkte Andris mit der Hand, der Knabe kroch leise aus dem großen Bett, kroch zu ihm und schloss sofort beide Augen. Die Dunkelheit hörte auf, ihm zu drohen. Nur bei seinem Vater war Sicherheit, er schlief tief ein. Bató drückte den warmen Körper an sich, die Unsicherheit ließ nach, und auch sein Herz schlug ruhiger.
IV
„Wir haben ihn." Dudoff lag unter dem Vordach eines Bahnwärterhäuschen auf der freien Strecke Marjakoy, zwei Eisenbahnstunden vor Sofia. Er war an Händen und Füßen gefesselt, aber er hätte ohnedies nicht stehen können. Er war ein einziger, roher Fleischklumpen mit Streifen aus Haut und Tuch. Die beiden Hunde waren an einem Balken der Altane festgebunden. Bei gespannter Kette waren sie nur eine Handbreit von ihm entfernt. Ihre aufgestemmten Vorderbeine zitterten.
Der Leutnant Kolaroff war aus Marjakoy geholt worden. Obwohl er von dort aus drei Tage und drei Nächte die Fahndung selbst geleitet und mehr Soldaten darauf verwandt hatte, als man brauchte, um eine Bande von vielen Dutzend Köpfen zu umzingeln, erschien es ihm ein Wunder, Dudoff vor sich zu sehen, auf dem Boden der Altane in einer Blutpfütze.
Dudoff war wenige Stunden weg von dem Fleck, auf dem er jetzt lag, geboren worden. Sein Vater und seine Brüder und er selbst standen bis zum Krieg im Sägewerk am Fluss.
Nach dem Krieg kehrte Dudoff verwundet und nachdenklich ins Sägewerk zurück Er trat ein in den Holzarbeiterverband und in den Genossenschaftsverein und lernte. Die Partei und der Bauernbund teilten sich damals in die Genossenschaft und in den Verband und in Dudoffs Herz, bis er sich im Jahre 22 für die Partei entschied. Im Jahre 23, beim Faschistenstaatsstreich, war sein Gesicht schon so deutlich, dass sie ihn griffen und in den Kerker schickten. Er wurde nach Plevna gebracht, seine Hände wurden in eine eiserne Stange gelegt. Beim Umtransport schlug er seinen Wächter mit der Stange nieder und alles, was sich entgegenstellte, und floh in die Berge. Er wurde angeschossen und zog eine Blutspur hinter sich. Er floh bis in die Prutka und blieb dort und arbeitete weiter. Er musste sich verstecken, war bald in Marjakoy, bald in Banja, verankerte die Partei in den tiefen Falten der Drei-Schwestern-Berge.
Im Septemberaufstand half er die jäh flammenden Bauern-und Holzarbeiterdörfer unter sich und mit der Stadt verknüpfen, bis es ihn selber traf.
Vielleicht hätte sich Kolaroff, von der Jagd erschöpft, zufrieden gegeben, wenn Dudoff keine Augen gehabt hätte. Aber dieses blutige Bündel hatte Augen, scharfe, glänzende Blicke. Die sprangen ihn von unten an. Eine Sekunde lang brauchte auch Kolaroff, um zu begreifen, dass Dudoff nichts anderes war als ein Stück zerbissenes Fleisch. Was auch von Dudoff erzählt wurde, Wirkliches und Unwirkliches, was erzählt wurde und was er war, es gehörte in diesen Körper, in diese Pfütze, unter das Vordach. Kolaroff rief: „Bringt ihn rein!"
Sie jagten die Bahnwärterfamilie auf die Altane hinaus. Kolaroff sagte: „Zieht ihm die Schuhe aus." Sie rissen ihm die Stricke weg, Schuhe, Hosen. Im heißen Zimmer kam Dudoff zu sich und atmete schwer. Er erblickte plötzlich von außen, gegen die Fenster gedrückt, die vor Angst verzerrten Gesichter der Bahnwärterleute. Sie hatten schon verstanden, um was es ging, früher als er.
„Diesmal wirst du nicht weglaufen!" Sie hoben ihn über den Ofen, hielten ihn zu viert um die Hüften, stießen seine Füße in den Kessel. Dudoffs Kopf fiel nach hinten. Kolaroff hämmerte mit einem hölzernen Kinderlöffel auf den Tisch.
Als Dudoff zu sich kam, lag er auf dem Boden eines Waggons. Er versuchte umsonst, seine Beine aus dem Feuer zu ziehen. Er wimmerte, aber er merkte nicht, dass er das war, das Wimmern
kam von weit weg. Die Soldaten beobachteten ihn schweigend, wie er zu sich kam. In ihren jungen Bauerngesichtern wurde die Neugierde stärker, als er zu zucken anfing. Aufstehen konnte er nicht mehr, aber irgend etwas erwarteten sie; Dudoff schraubte sich zusammen, wurde wieder steif und hielt den Mund offen. Einen Augenblick glaubten sie, er sei tot. Als Dudoff von neuem wimmerte, machte einer der Soldaten die Tür auf und nahm von der Plattform eine Handvoll Schnee. Einer hielt ihm den Arm zurück und sagte: „Bist verrückt? Das braucht Fett." Er fing an, ihm die Füße einzuschmieren. Der am Kopfende saß, steckte die Finger in Dudoffs offenen Mund und befühlte die Zähne. Einer sagte: „Glaubst du, dass er gehängt wird?" - „Was ist an dem noch zu hängen? Da glitscht einem der Strick weg."
Sie hielten auf einer kleinen Station. Als sei sie ihm dort verloren gegangen und er spähe vergebens in der Dunkelheit nach ihr aus, rief der Stationsvorsteher kläglich in die Nacht: „Marjakoy, Marjakoy!" Einen Augenblick kam Dudoff ganz klar zu sich. Er verstand den Namen und begriff, wo er war. Einen Augenblick lang sah er deutlich das vom Schnee in Wellen gedämpfte Zickzack der Drei-Schwestern-Berge und die fünf in die Bergkuhlen gestopften Dörfer. - Wäre das plötzlich alles vom Erdboden verschwunden, er hätte es nachbauen können - doch nicht es verschwand, sondern er.
Der Zug zog an, Dudoff seufzte und wurde still. Die Soldaten begannen zu glauben, dass er tot sei. Sie erwarteten nichts mehr, hörten auf, ihn zu beobachten, stellten ihre Gewehre zusammen und schliefen ein.
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