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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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VIII.

Wir rannten kopflos zurück. Die Toten, die Verwundeten, die Kanonen, die Maschinengewehre, die Fahnen blieben alle an der Theiß. Wir hatten noch die Uniform der roten Soldaten an, aber wir waren keine roten Soldaten mehr. Wir liefen nur noch, um unser Leben zu retten. Hinter uns brennende Dörfer — die siegreichen Rumänen, der Tod. Was vor uns war, wie es dort aussah, wohin wir rannten — das wusste niemand. Wir liefen kopflos in der Richtung, wo wir Budapest ahnten.
Ich hatte noch die letzte Schlacht mitgemacht: wir nahmen Szolnok im Sturm zurück. Währenddessen überschritten die nördlich von uns stehenden rumänischen Truppen die Theiß und schnitten uns so den direkten Weg nach Budapest ab. Wir mussten daher einen großen Umweg machen — uns aber auch tüchtig dranhalten, denn sonst waren die Rumänen früher in Budapest als wir.
Die rote Armee hatte sich vollständig aufgelöst. Ein Teil geriet in rumänische Gefangenschaft, der andere Teil näherte sich Budapest, als wir Szolnok endgültig aufgegeben hatten. Die Rumänen hielten den Bahnhof unter Kanonenfeuer, eine Lokomotive in Gang zu setzen war unmöglich.
— Reich mir die Hand und spring auf! Das Gewehr aber wirf fort. Soviel Platz haben wir nicht mehr. Na, eins — zwei, überleg nicht lange, sonst bleibst du hier zurück!
Antalfy streckte seinen Arm aus, und mit einem guten Sprung war ich auf dem Lastauto, das mit roten Soldaten voll gepfropft war. Es schien, als ob keine Stecknadel mehr auf dem Lastauto Platz hätte. Ein paar Schritte hinter uns sauste eine Granate in eine Pfütze — das Auto fuhr los. Binnen einer halben Stunde nahmen wir noch zwei Mann auf.
— Na, jetzt ist aber wirklich alles ausverkauft — sagte Antalfy, dessen Gesicht voller Stacheln war. Ihm fiel das Herz auch jetzt nicht in die Hose, er führte das Wort auf dem Auto. Er zog seinen Kittel aus und spielte in Hemdsärmeln auf der größten Bühne der Welt. In der Hand hielt er eine Handgranate, damit dirigierte er.
— Weiter! Weiter!
Das Auto warf den dicken Staub der Landstraße auf. Das Auto schüttelte uns durch wie im Veitstanz. Unterwegs trafen wir vereinzelte rote Soldaten, die sich verzweifelt dahinschleppten.
— Mit den Rumänen kommen auch ungarische Offiziere. Wen sie erwischen, dem schinden sie die Haut ab.
— Nehmt mich auf, Brüder, nehmt mich auf, Gott wird's euch vergelten!
— Nehmt mich auf, ich habe vier Kinder zu Hause!
— Es geht nicht, Bruder — du siehst doch — , kein Floh hätte mehr Platz.
Antalfy antwortete den Flehenden. Wir übrigen schwiegen, wie wenn man uns mit dem Gewehr auch die Zunge weggerissen hätte.
— Krepieren mögt ihr, ihr Hunde! — schrieen uns die zurückgelassenen Soldaten nach.
Am Ende eines Dorfes versperrten uns bewaffnete Bauern den Weg. Die meisten waren zwar nur mit Heugabeln ausgerüstet, aber einige hatten auch Gewehre. Quer über die Landstraße lag ein dicker Baumstamm.
— Halt!
— Hol euch der Teufel, ihr Hundesöhne!
Das Auto blieb stehen.
— Was gibt es denn, Genossen? — nahm Antalfy das Wort auf.
— Schluss mit den „Genossen-Zeiten" — sagte ein Bauer mit grauem Schnurrbart, die anderen lachten ihm Beifall.
— Schluss! — wiederholte Antalfy. — Die Rumänen rücken uns auf den Hals.
— Ihr habt sie uns auf den Hals gehetzt!
— Zum Teufel noch mal! — Wir haben die Theiß gegen sie verteidigt! Die Herren Offiziere bringen sie euch, dass der alte Herrgott sie dort...
— Na, nicht so heftig. Was führt ihr denn da alles mit?
— Dreck. Das ist alles, was wir anhaben.
Weiß der Teufel woher, Antalfy zog zwei Handgranaten hervor, die eine drückte er mir in die Hand, die andere gab er einem Riesenkerl, der neben mir stand. Dann kamen auch einige Revolver aus den verschiedenen Taschen zum Vorschein.
— Räumt die Stange hier aus dem Weg!
— Wenn ihr eure Gewehre abgebt, könnt ihr weiterfahren.
— Das können wir nicht machen, Bruder! Die Rumänen sind uns auf den Fersen, da brauchen wir schon ein paar Waffen.
Vier Jungens sprangen herunter, um den Baumstamm wegzuschieben, die Bauern stellten sich ihnen entgegen.
— Na, wie ist's? — schrie ein kleiner junger Bauer und richtete sein Gewehr auf den Schofför.
— Gergely Balog! — erkannte ich plötzlich den Bauern. Vor zehn Monaten lernte ich mit ihm zusammen das ABC des Kommunismus. — Gergely Balog!
— Na, was — stotterte er verlegen. Wer bist du denn? — ich kenne dich nicht — sagte Balog mit gespieltem Hochmut.
— In Ungvar saßen wir zusammen im Gefängnis und...
— Wie denn...
— Ihr wart große Herren! — sagte ein Bauernweib.
— Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig— zählte Antalfy brüllend und ließ die Handgranate über seinem Kopf kreisen. Plötzlich zogen sich die Bauern zurück, viele verkrochen sich in den Graben an der Landstraße, von dort aus drohten sie mit kreischender Stimme. Ein Schuss ging los, Antalfy flog die Mütze vom Kopf. Drei Revolverschüsse waren die Antwort und die Bauern zogen sich noch weiter zurück. Vier rote Soldaten räumten den Baum aus dem Weg.
— Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig— heulte Antalfy — die Handgranate in der Hand schwingend. — Schnell, schnell! Na, springt herauf! So. Abfahren!
Aus dem Graben kamen mehrere Schüsse. Der rote Soldat, der als letzter auf das fahrende Auto hinaufkletterte, schrie auf, und er wäre bestimmt hingesaust, wenn ich ihn nicht rechtzeitig am Arm gepackt hätte.
— Schnell! Schnell! — schrie Antalfy dem Schofför zu.
— Sie haben mich angeschossen.
— Na, wartet ihr Hunde!
Die Bauern schossen noch ein paar Mal in die Luft, aber wir waren schon über das Dorf hinaus, draußen auf der freien Landstraße. Keine Menschenseele. Auf beiden Seiten — in riesigen Tristen aufgehängt —
goldene Weizenähren. Der Verwundete stöhnte, quer über unseren Stiefeln liegend. Bei jedem Ruck fluchte er los. Antalfy verband so gut er konnte — den durchschossenen Oberschenkel mit einem Hemdsärmel.
Noch vor Sonnenuntergang kamen wir in die Stadt, Die Budapester machten sich bald fort, der eine dahin, der andere dorthin. Auch den Verwundeten hoben wir in der Nähe des Ostbahnhofs herunter: die Frau und drei Kinder erwarteten ihn. Am Abend waren wir nur noch vier, vier, die in der Provinz wohnten. Jetzt wussten wir wirklich nicht, was wir beginnen, wohin wir uns wenden sollten.
— Fahren wir zu irgendeiner Kaserne — sagte der Schofför.
— Das doch nicht — entgegnete Antalfy — ich habe ehrlich bis zum Schluss der roten Sache gedient, die Zeit ist zu Ende. Jetzt spiele ich bei niemand mehr Soldat. Nein. Keinen Augenblick! Erst in der nächsten roten Republik.
— Ich muss doch das Auto irgendwo unterbringen. Ich fahre zu einer Kaserne.
— Meinetwegen, aber ich gehe 'runter.
Antalfy und ich stiegen ab. Das Auto setzte sich sofort in Bewegung.
— Viel Glück, Genossen!
— Dir auch.
— Nna! — atmete Antalfy tief auf. — Von diesem Augenblick an bin ich kein roter Soldat mehr, ich bin wieder Herr Schauspielkünstler Geza Antalfy, der Teufel soll's holen. Ich muss nur noch diesen Aufzug loswerden, dann kann ich auch auf die Bolschewiken schimpfen. Was willst du beginnen, Bruder?
— Ich weiß selbst nicht, was ich mache. Ich habe keinen Bekannten in Budapest.
— Du musst in erster Linie deine Klamotten loswerden. Ich bin hier auf dem Pester Asphalt aufgewachsen — ich hab tausend Freunde hier, dass sie der Teufel hole. Servus — servus — guten Tag, sehr gern — sehr gern — wenn ich Geld habe, lecken sie mir auch den Hintern ab, jetzt werden mich vielleicht viele von den Schuften gar nicht erkennen, und die, die mich vielleicht kennen, schmeißen mich am Ende 'raus, wenn nichts Schlimmeres. Na — hol's der Kuckuck — ich nehme dich mit. Keine Angst. Antalfy hat seinen Verstand am richtigen Fleck.
Die Straßen waren voll von Menschen. Ich fasste Antalfy unter, um ihn im großen Gedränge nicht zu verlieren. Wir blieben vor dem beleuchteten Schaufenster einer Zeitung stehen, eine dichtgedrängte Menge wartete auf die neuesten Nachrichten. Auf einem riesigen Blatt Papier standen mit faustgroßen Buchstaben die Namen der Mitglieder der neuen Regierung.
— Lauter Sozialdemokraten — sagte ich — , halb so schlimm.
— Du bist sehr naiv... — fing Antalfy an, kam aber nicht weiter.
— Hören Sie! Nehmen Sie sofort den Mist hier weg! Ein schlanker Fähnrich stand vor mir und zeigte mit
seiner behandschuhten Rechten auf den Sowjetstern an meiner Brust.
— Reißen Sie das sofort 'runter, ehe etwas passiert!
— Hören Sie, Kadettchen — sagte Antalfy mit tiefer, theatralischer Stimme — , wenn Sie noch keinen richtigen Fußtritt...
Wir standen mitten im Gedränge und plötzlich lenkten wir die Aufmerksamkeit auf uns. Die um Antalfy standen, nahmen seine Worte auf, die weiter entfernt waren — begannen, ohne zu wissen, um was es sich handelt, zu brüllen:
— Die Schweine haben den Wagen der Juden geschoben!
— Aus den Kirchen haben sie Kientöppe gemacht!
— Wir haben Kürbis gefressen, im Hotel Hungaria
haben die Saujuden Champagner gesoffen!
— Ihr habt ja Ärsche statt Köpfe — brüllte
Antalfy — elende Lakaien, das bisschen Freiheit war euch schon zuviel...
Auf Antalfys Gesicht klatschte eine Ohrfeige nieder. Ein Herr in weißer Hose und mit einem Monokel haute ihm eine herunter. Ich schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Im nächsten Augenblick zählte Antalfy brüllend:
— Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... Die Handgranate erblickend, zog sich die Menge
plötzlich nach hinten zurück. Der Herr in der weißen Hose brüllte, mit der Faust herumfuchtelnd, den Kadetten an, in dem Tumult verstand ich nicht, was er sagte. Ich sah nur noch, dass der Kadett dem Herrn eine Ohrfeige verabreichte — wir waren auch schon weit entfernt von der wildtobenden Menge. Ein Arbeiter fasste mich und Antalfy beim Arm und zog uns mit sich fort.
— Jetzt aber verschwinden, Genossen!
Als ich mich umblickte, sah ich, dass hinter uns eine große Schlägerei entbrannt war.
— Verduften, Genossen!
Wir eilten, ohne ein Wort zu sagen, immer weiter fort. Der Arbeiter sprach zuerst.
— Nehmen Sie den Sowjetstern ab, Genosse. Es hat keinen Sinn, Straßenskandale zu provozieren.
Ich folgte seinem Rat.
— Das Schlimmste ist, dass wir keine Unterkunft haben — sagte Antalfy in unmissverständlichem Ton. — Wir sind heute von der Front gekommen, als wir hierher kamen, war es aus.
— Bei mir können die Genossen bleiben, sofern ich noch meine Wohnung habe. Ich wohne in einem requirierten Zimmer — wir können hingehen, wir werden sehen, ob es noch mein Zimmer ist.
— Solange die Sozialdemokraten an der Regierung sind, werden doch die Proleten nicht auf die Straße geworfen — meinte ich.
— Wer weiß — sagte der Arbeiter. — Auf alle Fälle wird es gut sein, wenn wir uns beeilen.
— Darf ich Ihren Namen wissen, Genosse? — fragte Antalfy, als wir draußen auf der Uellöerstraße gingen.
— Ich heiße Ladislaus Kuszak, Maschinenschlosser. Ich war Mitglied des Arbeiterrats der Fünfhundert.
— Ja, gewiss.
Es war schon dunkel, als wir bei Kuszak ankamen. Das Zimmer gehörte noch ihm. Es war ein geräumiges zweifenstriges Zimmer im zweiten Stock. Durchs Fenster sah man weit hinaus bis zur Kaserne, wo ich seinerzeit dem Kaiser gedient hatte. Kuszak öffnete ein Fenster und beugte sich hinaus.
— Jetzt ziehen die ersten rumänischen Truppen ein — sagte er leise.
Wir standen lange wortlos am Fenster. Antalfy seufzte tief, wie wenn er in einem großen Theater, vor vielen tausenden Zuschauern eine tieftraurige Tragödie spielte.
— Daran können wir vorläufig nichts ändern — sagte Kuszak, als er das Fenster schloss.
Vorläufig.
Er drehte das Licht an und ließ die Vorhänge herunter.
— Die Genossen sind gewiss hungrig?
— Nicht zu leugnen, wir sind wirklich hungrig.
— Ich koche Kaffee, und etwas Brot ist auch noch da.
Er steckte den Spirituskocher an und setzte einen kleinen Topf Wasser auf.
Es klopfte an der Türe.
— Man wird uns doch nicht hinauswerfen, bevor wir
gegessen haben — flüsterte Antalfy, der sich in den Kleidern aufs Bett legte, und sich eben damit beschäftigte, liegend die Stiefel auszuziehen.
.— Herein — rief Kuszak energisch.
Ein kleiner, wie ein Arbeiter aussehender Mann mit rotem Schnurrbart trat ins Zimmer.
— Ich hatte schon Angst, dass ich den Genossen Kuszak nicht mehr hier treffen würde.
— Wo sollte ich denn hin? fragte Kuszak achselzuckend. — Setzen Sie sich, Genosse Laufer.
— Man muss irgendwie verschwinden, das ist klar, denn hier — so aufgebracht wie die Leute sind — wird man Ihnen die Haut abschinden, das ist sicher. Ich habe aus meiner Meinung nie einen Hehl gemacht — was wahr ist, ist wahr, Sie verdienen auch, dass Sie geschunden werden.
— Wirklich? — Wir verdienen das? — fragte leise lächelnd Kuszak.
— Ja. Sie verdienen es. Ganz gewiss, denn Sie alle sind verrückt oder noch Schlimmeres. Die Führer — wenn die wenigstens hiergeblieben wären, hätten die armen Menschen immerhin die Freude, diese ganze Schweinebande mal nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Diese Schufte verdienen es wirklich, in Stücke gerissen zu werden. Aber gewiss, für sich hat die Bande Verstand genug. Stopfen sich die Taschen voll — noch ein Pfund Gold, noch eine handvoll Brillanten — und schon sind sie über alle Grenzen. Die werden für ihr Leben lang in Hülle und Fülle zu prassen haben, den Arbeitsmann mögen sie nicht mehr riechen, während wir hier bis zum Hals in dem Dreck stecken, den sie angerichtet haben. Möchten sie doch krepieren, wo immer sie ihren Unterschlupf suchen!
Kuszak war mit dem Kaffeekochen beschäftigt, er antwortete Laufer mit keinem Ton. Antalfy winkte mir zu. dass ich den Mund halten sollte, es interessierte ihn anscheinend, was Kuszak entgegnen würde. Aber Kuszak beeilte sich nicht sehr mit der Antwort.
— Na, der Kaffee ist fertig — sagte er einfach, wie wenn bisher von nichts anderem die Rede gewesen wäre. Ich habe nur drei Tassen, die Genossen können trinken, ich warte, bis eine Tasse frei wird.
— Ich danke, ich habe genug von dem Kaffee mit dem gelben Rohzucker, genug von der Grütze und dem Kürbisgemüse. Ich danke, ich verzichte gern.
— Schon gut, Genosse Laufer, gut, Sie müssen sich deshalb nicht so aufregen, ich wollte Sie wirklich nicht verletzen. Und — was das anbelangt — wir werden auch noch allein mit dem bisschen Kaffee fertig werden. Greifen Sie zu, Genossen!
Der Kaffee war unglaublich schlecht, aber wir schluckten ihn dennoch hinunter. Währenddessen blieben wir stumm, nur Laufer fing immer wieder von neuem an.
— Die Sterne vom Himmel hatten sie uns versprochen, und was haben sie gegeben? Badewasser, Theaterkarten und diese Papierfetzen — hier friss Prolet, kleide dich damit — da hast du's, stinkiger Prolet, gut genug für dich. Im Hotel Hungaria — im Sowjethaus, — in der Burg, da war's anders, Pfui, reden wir nicht darüber! Der arme Prolet duldete und duldete...
— Was wollen Sie eigentlich, Genosse Laufer? — fragte Kuszak, als wir zu Ende gegessen hatten.
— Kann ich hier sprechen? — er wies mit den Augen auf uns hin.
— Sie können ruhig reden, Genosse Laufer.
— Also, ja: So ist's. Die Fabrik wurde geschlossen, das
haben Sie ja gewiss gehört, Genosse Kuszak. Gestern früh gingen wir hinein — der Teufel dachte an etwas Schlimmes.
— Wir glaubten, wir arbeiten weiter und also — da
kam der gewesene Direktor. Grüß Sie Gott, grüß Sie Gott, Herr Direktor. Er lächelte nur und nickte mit dem Kopf nach allen Seiten hin. Und dann — Sie haben es ja gewiss auch schon gehört, Genosse Kuszak — rief er uns mittags zusammen und verhandelte, dass die Fabrik auf einen Monat geschlossen wird. Der stinkige Jude machte auch noch Witze — jetzt könnt ihr auch streiken — sagte er und grinste noch dazu. Mit einem Wort, wir wurden hinausgeworfen. Gestern alles unser — und heute kann ich mit einem Paket Geldfetzen in der Tasche glatt verhungern.
Er zog ein Paket Sowjetgeld aus seiner Tasche und warf es auf den Tisch.
— Vor einer Woche hätte ich noch Vaseline oder Rosenwasser dafür kaufen können, heute gibt man mir einen Dreck dafür... Also — ja — ich dachte, da ich doch eigentlich ein Opfer des Bolschewismus bin — Sie wissen doch, Genosse Kuszak, am Anfang, als ich noch glaubte, dass — mit einem Wort, damals hab' ich auch den Genossen geholfen, jetzt steh' ich hier mit diesen Lappen — ja. Verstehen Sie mich nicht falsch, Genosse Kuszak, ich verlange nicht, dass wir teilen, was wir haben, ich verlange nicht, was der andere besitzt, — das aber erwarte ich von Ihnen, ich erwarte es mit vollem Recht, dass Sie mich von diesem Bolschewistengeld befreien, dass Sie es mir gegen echtes Geld einlösen. Sie haben doch gewiss noch etwas echtes, blaues Geld, Genosse Kuszak — vielleicht mehr, als Sie unbedingt benötigen — also mit einem Wort, ich will Sie nur darum bitten, dass Sie mir diese Papiere gegen blaues Geld einlösen. Das Ganze ist nicht mehr als zweitausend Kronen, aber ich will nur — Sie kennen mich ja, Genosse Kuszak, fünf Jahre haben wir in der Fabrik nebeneinander gearbeitet — mit einem Wort...
Anfangs staunte Kuszak über Laufers Gerede, dann lächelte er, schließlich lachte er laut auf.
— Also gut, Genosse Laufer, Sie sind auch ein Opfer des Bolschewismus, ich teile mein ganzes blaues Geld mit Ihnen. Nein, ich teile es nicht einmal, ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Sie verdienen es, Sie verdienen es wirklich.
Er öffnete seine Geldtasche und zog einen vierfach zusammengefalteten Zehnkronenschein heraus.
— Hier, bitte!
Gut... Sie halten mich zum Narren, Genosse Kuszak? Gut. Es ist schon gut so. Ehrlich gesagt, ich hatte das von Ihnen erwartet. Ich kam auch nur meiner Frau zuliebe hierher, denn die Frau — langes Haar, kurzer Verstand, das alte Sprichwort — sie hat ihren Glauben an die Bolschewiken noch nicht ganz verloren. Na, ich lobe mir Ihren Verstand. Es ist schon richtig so, Genosse Kuszak, sehr richtig... Wenn's so ist... Na gut — wenn das Ihr letztes Wort ist, dann...
Unter dem Fenster marschierten Soldaten mit harten Schritten, Kuszak zog den Vorhang hoch und sah hinaus, er hörte nicht, was Laufer stammelte. Hinter Kuszak stehend, sah ich auch auf die Straße hinaus, ich erschauerte.
— Rumänen!
Wie von Ferne hörte ich Antalfys krächzende Stimme:
— Hören Sie, Genosse Laufer, es wird besser sein, wenn Sie sich entfernen. Nicht, dass ich Sie vor die Tür setzen wollte, wie wenn wir Sie hier nicht gern sähen, aber wissen Sie, wir können jeden Augenblick von Kriminalbeamten überrascht werden.
— Ich habe keine Angst vor Kriminalbeamten. Ich habe gar keinen Grund...
— Gut so, sehr gut. Ich sage es auch nicht, um Ihnen
Schrecken einzujagen, ich hielt es nur für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, aber wenn Sie keine Angst haben, um so besser. Ich habe mutige Menschen immer hochgeschätzt.
Als ich mich wieder zurückwandte, befanden wir uns nur noch zu dritt im Zimmer. Das Papiergeld des Genossen Kuszak war auch vom Tisch verschwunden.
— Die Nacht können wir vielleicht noch hier verbringen, morgen müssen wir uns nach einem sichereren Platz umsehen — sagte Kuszak.
— Am besten wäre, über die Grenze zu gehen — meinte Antalfy.
Kuszak zuckte mit den Achseln.
— Aber nicht alle — sagte er leise. — Für die Arbeit hier im Lande müssen auch einige zurückbleiben. Und wenn die Genossen gute Bolschewiken sind...
— Das sind wir mit Leib und Seele — sagte Antalfy etwas pathetisch. — Wenn wir doch endlich diese Kleidung loswerden könnten.
— Ich habe noch einen Anzug hier — sagte Kuszak — , den kann ich dir geben.
— Das genügt vorläufig — griff Antalfy sofort das Wort auf. — Wenn ich einmal wieder Zivilist bin, verschaffe ich mir spielend einen anderen.
Dabei blieb es. Aus einer Truhe kam Kuszaks Sonntagsanzug hervor. Er war ein wenig abgetragen und auch etwas zu eng für Antalfy, und besonders war die Hose zu kurz. — Aber um so besser wird der andere sein, den ich besorgen werde — tröstete sich der alte Komödiant.
Am Abend wurde wenig gesprochen. Wir waren alle drei hundemüde. Kuszak machte uns das Lager zurecht.
Antalfy legte sich aufs Bett, Kuszak auf den Diwan, ich wurde auf den Boden gebettet — ein dicker Mantel und eine Decke dienten als Lagerstätte. Kaum hatten wir aber das Licht ausgemacht, klopfte es an der Tür.
— Wer ist da?
— Öffne schnell! Ich bin's — Anna!
Kuszak öffnete die Tür. Eine junge blonde Studentin kam herein. Anscheinend war sie ein schönes Mädchen, aber jetzt war ihr Gesicht ganz grün vor Blässe und bebte derart, dass es einem wehtat, sie anzusehen. Sie sprach kein Wort, als sie die Tür hinter sich zumachte, mit aufgerissenen Augen sah sie bald mich, bald Antalfy an. In der Hand hielt sie eine zerknitterte Zeitung.
— Was ist los. Anna? Setz dich! Ist dir übel?
— Du weißt noch nicht, was geschehen ist? Kuszak stand einen Augenblick stumm da, sah uns
hilflos an.
— Vielleicht...
— Das Mädchen winkte verneinend mit der Hand, in der sie die Zeitung hielt.
— Sie haben Otto festgenommen. Sie haben ihn auf der Straße überfallen.
— Unfassbar!
Das Mädchen setzte sich zum Tisch, stützte die Ellbogen auf, legte ihren Kopf zwischen die Hände und sah vor sich hin. Sie merkte nicht einmal, dass das Licht gerade auf ihre Augen fiel. Sie blinzelte nervös, dann schloss sie die Augen.
— Heute Nachmittag erwischten sie ihn auf der Straße.
— Die Sozialdemokraten haben doch noch...
— Ah... Du hast dich geirrt, wie ich und Otto auch. Alle haben wir uns geirrt. Sie sind noch viel niederträchtiger, als wir für möglich hielten.
— Wer ist Otto? — fragte Antalfy.
— Korvin.
Otto Korvin war festgenommen. Jetzt sah ich die Situation klar. Die Sozialdemokraten sind an der Regierung und fangen die Kommunisten auf den Straßen ab. Plötzlich überfiel auch mich ein Zittern. Wer mich jetzt gesehen hätte, würde kaum glauben, dass ich vor zwei Tagen im dichten Kugelregen meinen Mann gestanden hatte.
Einige Augenblicke lang herrschte Stille im Zimmer. Kuszak strich sich einige Mal mit der Hand über die Stirn, wie wenn er einen bösen Traum vertreiben wollte.
— Gehn wir auf die Straße hinunter — sagte Kuszak
mit heiserer Stimme zu dem Mädchen.
— Es geht nicht. In dieser Gegend streifen rumänische Patrouillen umher, fast wäre ich ihnen auch in die Hände gefallen.
— Wenn wir stören, Genossen, können wir fortgehen — sagte ich.
— Keine Rede! Schlafen Sie nur ruhig, Genossen, wir können nichts Besseres tun.
— Ist jetzt jede Verbindung abgebrochen? fragte Kuszak das Mädchen.
— Vorläufig ja.
Eine gute Weile wurde es wieder still im Zimmer.
— Leg' dich hin, Anna, hier auf den Diwan. Ich kann hier im Stuhl schlafen.
— Ich kann heute nicht schlafen — sagte das Mädchen.
— Du musst heute schlafen, du kannst morgen nicht mehr auf den Beinen stehen, wenn du dich nicht endlich diese Nacht einmal ausruhst.
— Legen Sie sich zu mir ins Bett — Genosse Kuszak — sagte Antalfy. — In der Nacht nach der Gegenrevolution der Sozialrevolutionäre schlief ich mit Szamuely in einem Bett — in Moskau, im Kreml.
Kuszak drehte das Licht aus, und wie wenn das Zittern vom Licht gekommen wäre, überwand ich plötzlich das Angstgefühl. Ich hatte ein Gefühl, wie wenn ich an der Front wäre, ich weiß nicht, wieso, ich hatte das Gefühl, wir ständen am Vorabend einer großen Offensive — morgen, morgen schlagen wir den Feind — morgen... Ich war im Halbschlaf, als das Mädchen wieder sprach:
— Glaubst du, dass Szamuely Selbstmord begangen hat?
— Nein, das glaube ich nicht. Die Halunken haben ihn bestimmt ermordet.
— Ich glaube nicht einmal, dass er ermordet worden ist. Ich glaube, er lebt. Du wirst's schon erfahren, dass er lebt, er lebt bestimmt. Die Partei braucht ihn noch. Glaube mir...
Das Gespräch kam vom anderen Ende des Schützengrabens. Um mich schnarchten laut die schlafenden roten Soldaten. Plötzlich schrie ich auf. Der Feind blies todbringendes Gas auf den schlafenden Schützengraben. Alle erstickten.
Als ich in der Früh erwachte, war das Mädchen schon fort. Kuszak und Antalfy saßen am Tisch und tranken Kaffee. Ich wusch mich rasch und trank schnell eine Tasse mit.
— Ich gehe fort, Genossen, und ich komme nicht mehr zurück. Ich empfehle auch Ihnen nicht, sich lange hier aufzuhalten. Leider stehen die Dinge so, dass ich Ihnen nicht weiter behilflich sein kann.
— Du wartest hier, bis ich zurückkomme — wandte sich Antalfy zu mir. Ich werde mich möglichst beeilen und dir einen Anzug bringen, und — was wir später machen, wird sich schon finden. Also, du wartest hier
auf mich. — Wenn die Genossen irgend etwas von den Sachen,
die ich zurücklasse, brauchen können, nehmen Sie es
ruhig. Kuszak drückte mir zum Abschied fest die Hand.
— Machen Sie's gut, Genosse. Auf Wiedersehen!
— Auf Wiedersehen!
— Warte nur ruhig hier, ich komme bestimmt zurück — verabschiedete sich Antalfy.
Ich blieb allein. Auf der Straße spielte Militärmusik. Rumänische Truppen marschierten nach der inneren Stadt. Ich ging vom Fenster weg. Ließ den Vorhang herunter: ich wollte nichts sehen und nichts hören. Ich hatte keine Ruhe, ich wusste nicht, wie spät es war, für mich zog sich der Vormittag unendlich lange hin. Ich ging im Zimmer auf und ab. Ich stolperte über einen Stuhl, steckte das Licht an und spazierte wieder im Zimmer herum. Wie in einem Gefängnis — fünf Schritte nach vorn, fünf Schritte nach hinten. Auf dem Tisch lag ein halbes Schwarzbrot. Mehr aus Langeweile als aus Hunger begann ich zu essen. Fünf Schritte vorwärts, fünf Schritte nach rückwärts. Ich merkte es gar nicht, und schon hatte ich das schwere lehmfarbene Brot heruntergewürgt.
— Ist Herr Kuszak zu Hause?
Eine kleine dicke Frau trat ohne zu klopfen ins Zimmer.
— Er kommt sofort zurück — sagte ich, ohne mir Rechenschaft zu geben, weshalb ich log.
— Sie wohnen auch hier? — fragte die dicke Frau, die, an der Tür stehend, bald, vor Staunen mit dem Kopf wackelnd, auf das durcheinander gewühlte Bettzeug blickte, bald mich selbst voll Mißtrauen betrachtete.
— Nein. Ich bin nur als Gast hier, Kuszak ist mein Vetter — antwortete ich.
— Wissen Sie nicht, wo er hingegangen ist?
— Das weiß ich nicht, aber er sagte, er komme bald zurück.
— Wenn er nach Hause kommt, schicken Sie ihn zu mir herunter, sagen Sie ihm, die Hausmeisterin will ihn sprechen.
— Ich schicke ihn hinunter.
— Sagen Sie es ihm sofort, wenn er nach Hause kommt, er muss noch heute hier ausziehen. Morgen kommen die Herrschaften Kerdesz, und ich muss die Wohnung bis dahin in Ordnung bringen. Alles ist hier so verdreckt, wie wenn Schweine und keine Menschen da gehaust hätten. Die Gnädige würde in Ohnmacht fallen, wenn sie ihre Wohnung in einem solchen Zustand sähe.
— Ich schicke bestimmt meinen Vetter herunter. Ich wusste nicht, war es noch Vormittag oder war es
schon Nachmittag. In einer Ecke lagen meterhoch Bücher und Broschüren, aber erst spät fiel mir ein, dass ich die Bücher ansehen könnte. Ich nahm eine Broschüre zur Hand. Ich erinnere mich sofort, dass ich, als ich noch in Molodetschno als Soldat diente, solche Broschüren aus Russland bekam, um sie weiter nach Ungarn zu befördern. Ich schlug die erste Seite auf, legte die Broschüre aber bald wieder in die Ecke. Ich wollte lesen, aber es ging nicht. Mein Kopf konnte nichts aufnehmen. Vergebens versuchte ich ihn zu zwingen, er wollte nicht arbeiten.
Ich warte nicht länger auf Antalfy — beschloss ich plötzlich. Ich warte nicht länger. Er hat mich sitzen lassen. Er denkt gar nicht daran, mich hier abzuholen. Wie konnte ich nur so dumm sein und sein Versprechen ernst nehmen. Nein, ich warte nicht länger, es ist vergebens. Was kann mir denn passieren? Höchstens sperrt
man mich für ein paar Wochen ein. Es ist ja nicht das
erste Mal. Ich werde schon wieder herauskommen. Ich
koche mir noch eine Tasse Kaffee und dann haue ich ab.
Ich machte den Spirituskocher zurecht, stellte einen kleinen Emailletopf, halbvoll mit Wasser auf die Flamme und setzte mich an den Tisch.
— Was ist los? Schläfst du im Sitzen?
Antalfy stand vor mir. Der Spirituskocher flackerte lustig, ich hatte nur ein paar Minuten lang geschlafen.
— Rasch, rasch. Zieh dich um, wir müssen gehen. Ich
habe mich verspätet. Es wird bald dunkel. Ich konnte nicht früher kommen. Es war nicht leicht, den Anzug zu beschaffen; hol der Teufel diese Halunken. Na, also, rasch, rasch. Antalfy öffnete ein auf dem Tisch liegendes, in Zeitungspapier eingewickeltes Packet; mit einer Handbewegung, wie ein Schauspieler, der sich für den Beifall des Publikums bedankt, nahm er die einzelnen Stücke meiner neuen Kleidung auf und legte sie tänzelnd und sich immerfort verbeugend auf den Tisch: eine karierte Hose, ein dunkelblauer Rock, ein paar Lackschuhe mit schiefgetretenen Absätzen und ein breitrandiger Strohhut. In den Rock war ein Hemd, Kragen und Krawatte eingewickelt.
— Na, siehst du!
Während ich die Militärkleider abwarf, betrachtete er nochmals liebevoll meine neue Ausrüstung.
— Alles ist da, alles, was ein Schauspieler, der etwas auf sich hält, benötigt. Kein Stückchen fehlt. Nur schade, dass du nicht rasiert bist, aber morgen besorgen wir auch das.
Als ich die karrierte Hose in die Hand nahm, schreckte ich etwas zurück. In einer solchen Maskerade sollte ich über die Straße gehen.
— Bist du am Ende noch unzufrieden mit deiner Toilette? — fragte Antalfy vorwurfsvoll. — Schließlich hättest du auch schon merken können, dass ich mich selbst auch ordentlich herausstaffiert habe.
Tatsächlich bemerkte ich erst jetzt, dass Antalfy ganz verändert aussah. Er hatte hellgelbe Halbschuhe an, einen braunen Sommeranzug und eine hellblaue Seidenkrawatte. Er war frisch rasiert, in seiner behandschuhten linken Hand hielt er einen vergilbten Strohhut.
Ich schlüpfte schnell in die Hose. Kragen und Krawatte rückte mir Antalfy zurecht. Der Rock war viel zu eng, aber ich presste mich irgendwie doch hinein. Die Schuhe aber waren eine Katastrophe. Für einen Konfirmanden hätten sie gerade ausgereicht.
— Hol der Teufel den lausigen Schmierfritzen — fluchte Antalfy — hat er mir nicht Säuglingsschuhe aufgehängt, der Schweinehund ?!
Na, hab keine Angst, dem Kerl spuck ich schon ins Maul. Na ja — s'ist schon gut. Zieh nur deine alten Kähne an.
Ein Spiegel war nicht im Zimmer, aber ich wusste auch ohnedies, dass ich höchst lächerlich aussah. Antalfy gefiel ich aber sehr gut in diesem Aufzug.
— Fabelhaft! — schrie er auf. — Ich glaube, du hast Talent zum Schauspieler. Gewiß, die Schuhe. Na, das schieben wir schon. Dem Schuft aber spucke ich bestimmt ins Maul.
Ich nahm nur mein Geld aus den Taschen heraus und zerriss meine Schriften in kleine Fetzen, sonst ließen wir alles im Zimmer zurück. Wir machten die Tür schön langsam zu, und schon waren wir unten auf der Straße.
— Aber jetzt heißt es laufen!
Ich hatte Angst, alle Leute würden mich anstarren, aber anscheinend hatten die Leute andere Sorgen, sie schenkten mir keine besondere Aufmerksamkeit. Es gab interessantere Dinge zu sehen.
Zivilisten waren wenig auf der Straße, aber um so häufiger sah man rumänische Patrouillen: vier rumänische Soldaten unter Führung eines rumänischen Unteroffiziers. Als die erste Patrouille an uns vorbeiging, klopfte mein Herz laut — bei der dritten und vierten war es mir schon gleich. Uns beide ließen sie in Ruhe. Auf dem Ring eskortierten rumänische Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten etwa zweihundert entwaffnete rote Soldaten, sie gingen in der Richtung, aus der wir kamen. Den Zug führte ein Honvedhusaren-Oberleutnant — ein junger blonder Bursche.
— Ja richtig — sagte Antalfy flüsternd — du heißt Emil Balint. Merke es dir gut: du bist Emil Balint, Schauspieler für Nebenrollen am Kaschauer Theater. Verstehst du? Deine Legitimation hab' ich bei mir, ich gebe sie dir an einer ruhigeren Stelle. Fabelhafte, beinahe echte Papiere.
— Wo beim Teufel hast du die hergeholt?
— Keine Angst, hier ist Verstand genug, mehr als bei zehn Zentnern Bischöfen. Ja, hier hab' ich dir auch Handschuhe gebracht, ich habe vergessen, sie dir dort oben zu geben, aber du kannst sie ruhig hier unterwegs anziehen.
Die grauen Zwirnhandschuhe platzten, als ich zwei Finger hineinstreifen wollte.
— Na, das macht nichts. Nur rasch weiter.
In der inneren Stadt sah ich schon mehr Menschen und auch weniger Patrouillen. Es war, wie wenn keiner was zu tun hätte, alles spazierte, die Leute sahen sich die Straßen an, wie wenn sie im Kino säßen — alle erwarteten etwas Interessantes, irgendeine Sensation. Ich selbst hätte all das nicht einmal bemerkt, wenn mich Antalfy nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Vor den Auslagefenstern der Zeitungsredaktionen standen auch jetzt große Menschenmengen.
— Warte hier auf mich. Ich gehe für einen Augenblick in das Kaffeehaus hier hinein, aber rühr' dich nicht von diesem Platz, ehe ich komme, wenn wir uns hier verlieren, finden wir uns nicht so leicht wieder.
Ich blieb allein auf der Straße. Ich blieb an einer Stelle stehen, wie wenn ich als Wachtposten stände. Es war nicht so einfach, denn die Leute drängten sich um mich herum, als ob sie einander zertreten wollten. Jeder wollte mit eigenen Augen die mit faustgroßen Buchstaben beschriebenen riesigen Papierbogen lesen, auf denen die Zeitungen die neuesten Telegramme zur Kenntnis der Öffentlichkeit brachten: Auf die Nachricht vom Zusammenbruch der ungarischen Räterepublik hat die russische Sowjetregierung abgedankt. Lenin ist nach Schweden geflüchtet.
Ich zerbrach mir nicht lange den Kopf über die Sache, ich wusste gleich, dass die Abdankung der russischen Räterepublik in irgendeinem Budapester Kaffeehaus ausgeheckt worden war. Aber, welches Fressen für dieses Pack! Schlank geschnürte Offiziere, Frauen mit bemalten Gesichtern, geiles Gelächter. Auf dem Fahrweg trieben drei berittene rumänische Soldaten vier zusammengekettete Arbeiter vor sich her. Dem einen floss Blut aus dem Mund, der andere hinkte mit dem linken Fuß, die zwei anderen Kameraden stützten ihn.
— Na, was gibt's, Genossen? — rief ihnen von der Kaffeehausterrasse ein Fähnrich zu — was gibt's? Alles gehört euch, was?
— Alkoholverbot? — brüllte mit heiserer Stimme ein Riesenkerl in Oberleutnantsuniform.
Alles lachte. Plötzlich erfasste mich eine solche Wut, dass ich bestimmt einen Unsinn begangen hätte, wenn mich nicht im selben Augenblick Antalfy beim Arm gefasst hätte.
— Alles in Ordnung, Herr Kollege, morgen fahren wir ab.
— Wohin fahren wir? — fragte ich erstaunt.
— Na, wohin fahren wir? Dahin, wo wir uns laut Vertrag verpflichtet haben. Nach Salgotarjan, dann weiter nach dem Norden, nach Kaschau, vielleicht nach Pressburg
— das wird sich noch zeigen. Die Hauptsache ist,
dass wir morgen fahren. Ich bin als Heldenvater engagiert, — nichts zu machen, ich bin schon zu alt für Liebesszenen — du bist vorläufig fürs Nebenfach bestimmt.
— Werd' ich auch spielen?
— Selbstverständlich. Aber vorläufig nur in Nebenrollen, und wenn wir Operette spielen, musst du im Chor mitsingen.
— Aber...
— Gut, gut. Ich weiß alles. Der Direktor ist ein guter alter Freund von mir, noch von Friedenszeiten her. Mit einem Wort — aber jetzt die Beine in die Hand genommen — oder, wart einen Augenblick...
Er rief eine Droschke heran. Der Kutscher war geneigt — bei fetter Berechnung — Sowjetgeld anzunehmen, und so fuhren wir mit der Pferdedroschke bis zur Ecke der Uellöerstraße. Dort zahlte Antalfy dem Kutscher die ausgemachte Taxe, und nun ging's wieder zu Fuß durch die Uellöerstraße.
Wir gehen nicht weit — sagte Antalfy. — Hier um die zweite Ecke herum wohnt mein Schwager, der alte Schweinehund. Er hat eine Kneipe hier, der gemeine Giftmischer. Wir wollen heut bei ihm übernachten. Deine Arbeit besteht darin, dass du schweigst, was immer ich auch erzähle. Kümmere dich diesmal nicht um die Wahrheit!
Die kleine Gastwirtschaft an der Ecke war geschlossen. Durch den Hof gingen wir in die Wohnung. Wir trafen nur die Frau an, Antalfys Schwester. Frau Schuhmacher sah dem Bruder ähnlich, wie eine Granathülse der anderen. Sie hatte auch so eine Hopfenstangenstatur wie mein Freund, und ihre Augen waren ebenfalls so blau wie die eines Säuglings. Nur die Nase der Frau war etwas kleiner als die Antalfys und auch ihr Gesicht sah etwas blasser aus. Antalfys blondes Haar war schon etwas grau, das Haar der Frau war fahl, aber noch keine Spur von weiß.
Antalfy umarmte und küsste seine Schwester.
— Morgen fahre ich — begann er gleich.
— Um Gottes Willen, wo fährst du denn hin? Ich dachte, du bist...
— Mein Sekretär — stellte mich Antalfy ganz plötzlich vor. — Ich habe nämlich eine Schauspielertruppe organisiert, und morgen beginnen wir eine Tournee in der Provinz. Ich komme eigentlich, um mich von dir zu verabschieden. Ich halte es für meine Pflicht, mich von meinen Lieben zu verabschieden. Ist Hermann zu Hause?
— Er ist nicht da, aber er kommt bald.
— Das ist schlimm — sagte Antalfy, wobei man nicht recht wusste, ob das schlimm war, dass der Wirt nicht da war, oder dass er bald wiederkommen sollte.
Die Frau stellte Paprikaspeck, Zwiebel und Brot vor uns auf den Tisch, auf Antalfys Verlangen kam auch eine Flasche Wein heraus. Wir griffen tüchtig zu.
— Ich dachte, du bist... fing die Frau schon zum dritten Mal an, aber Antalfy fiel ihr jedes Mal ins Wort. Anscheinend war er nicht neugierig auf das, was seine Schwester sich dachte. Trotz des vollen Mundes erzählte er mit wie rasend rollender Zunge von seinen künstlerischen Plänen, von den glänzenden materiellen Aussichten der Tournee in der Provinz, von den hervorragenden jungen Schauspielern der Truppe, so dass schließlich die Frau ihre vergeblichen Versuche aufgab und sich damit abfand, dass Antalfy niemals erfahren werde, was sie ich eigentlich gedacht hatte. Sie sah, die Hände im Schoß, zu, wie wir aßen und lauschte mit Ergebung den Worten ihres Bruders.
— Ich habe die Sache so gedreht, dass meine Truppe
in jeder Hinsicht so vollkommen ist, dass nicht nur irgendeine dreckige Provinzstadt, sondern selbst Budapest sich nach einer solchen Truppe die Finger lecken könnte. Das sage ich dir, du kannst mir's glauben. Gut war der Weißwein, obzwar ich glaube — der Wirt hat ihn ein wenig getauft.
Eben war die Flasche leer geworden, als der Wirt kam. Antalfy sprang mit weitgeöffneten Armen vor ihn hin, aber Schuhmacher zeigte nicht viel Lust zu einer Umarmung.
— Na, was ist los, alter Gauner, haben sie dich noch nicht gehängt? — fragte er und trat einen Schritt zurück.
— Aber Hermann! — sagte Antalfy vorwurfsvoll. Hermann sah auf die Speisereste, dann auf die Frau,
auf mich, dann wieder auf Antalfy, der noch immer mit weitgeöffneten Armen vor ihm stand. Hermann war um einen guten Kopf kleiner als Antalfy. Ein kräftiger, breitschultriger Mann mit großen Händen und Füßen. Seine grünlichen, stechenden kleinen Augen bewegten sich unaufhörlich.
— Ich wollte mich eigentlich von euch verabschieden — fing Antalfy wieder an.
— Verabschieden? — hakte der Wirt ein. — Gut, Adieu. Geh' in Gottes Namen. Ich rühr' dich nicht an, ich will meine Hand nicht beschmutzen, aber ich mache dich darauf aufmerksam, wenn du noch einmal deinen Fuß in mein Haus zu setzen wagst, schlage ich dir die Rippen kaputt, darauf kannst du Gift nehmen.
— Aber Hermann, um Gottes Willen, es ist doch dein Schwager! — schrie die Frau laut auf.
— Mein Schwager? Ich danke schön. Als er am Wagen der Juden geschoben hat, als er durch das ganze Land geraubt, gemordet und geplündert hat, — vier Monate lang war das die einzige Beschäftigung deines teueren Bruders, — ja, als es ihm so gut ging, da kannte er uns nicht, jetzt, wo er den Strick um den Hals spürt, drängt er sich hier ein. Ich danke. Danke schön, ich brauche keine solche Schwagerschaft. Ich bin ein anständiger christlicher Magyar, ich dulde diesen Halunken keinen Augenblick länger in meinem Hause. Ich sage dir, verschwinde von hier, ehe ich auf andere Gedanken komme!
Antalfy stand mit ineinander geschlungenen Armen da und zeigte gar keine Lust zu gehen.
— Die Sonne geht unter — sagte er pathetisch — bald umhüllt die Nacht mit ihrem schwarzen Mantel die vielgeprüfte Stadt. Auf der Straße machen die Rumänen Jagd auf Menschen. Willst du, hilfst du dazu, dass rumänische Bajonette mein Herz durchbohren? Willst du das auf dein Gewissen, auf deine Seele nehmen?
— Ich will gar nichts, nur eins, dass du sofort von hier verschwindest, und dass du nie in diesem Leben die Schwelle meines Hauses wieder überschreitest.
Die Frau weinte und schluchzte. Antalfy wandte sich ihr zu und sagte:
— Weine nicht, liebe Schwester! Demütige dich nicht vor einem solchen Menschen. Ist das ein Magyar? Ha— ha! Ist das die vielgerühmte magyarische Gastfreundschaft? ! Ist das die vielgerühmte ungarische Ritterlichkeit: den Besiegten, den Verfolgten, den Todesbereiten... auf die Straße zu werfen.
— Hol der Teufel deine Schnauze, du alter Schmierenkomödiant — sagte der Wirt schon etwas sanfter.
Antalfy konnte die Szene nicht zu Ende spielen. Es kamen Gäste. In einem von den zweien erkannte ich — nicht gerade zu meiner Freude — Laufer, den gestrigen Gast beim Genossen Kuszak. Wahrscheinlich hatte er uns auch erkannt, er machte große Augen, aber er sagte nichts davon, dass er uns schon einmal gesehen hatte. Er lächelte freundlich, als 6ich Antalfy ihm vorstellte.
— Mein Name ist Antalfy, Direktor der oberungarischen Theatertruppe. Mein Sekretär — zeigte er auf mich.
— Wir kommen zu Ihnen, Herr Schuhmacher, im Namen der Nationalen Christlichen Arbeiterpartei, — fing Laufer an. Wir sind sicher, dass Ihr gutes magyarisches Herz ebenso schlägt wie das gemarterte, gedemütigte Herz der Nation — wir sind dessen sicher...
— Bring zwei Flaschen Rotwein und etwas zum Beißen
ins Speisezimmer, Frau, und für die hier mach die Betten in der hinteren Stube zurecht. Morgen fährt mein Schwager auf eine Propaganda-Tournee in das besetzte Gebiet — erklärte Schuhmacher den Gästen die Situation.
Die Frau machte uns ein Lager auf dem Fußboden, aber sie gab uns soviel Bettzeug, dass es für zehn Betten genügt hätte.
Auf den Tisch stellte sie eine Flasche Wein.
— In der Früh musst du fort, Miklos — sagte sie weinend zu Antalfy.
— Was du glaubst, und wenn ihr mich mit Tokajerwein tränktet, würde ich keine Minute länger mit einem solchen Menschen unter einem Dach bleiben!
— Na, Junge, ich verstehe doch die Sache? — fragte Antalfy, als wir allein waren. — Kleider habe ich besorgt, Abendessen, Nachtquartier. Also alles. Und am Morgen fahren wir ab.
— Ich habe solche Situationen schon in Russland erlebt — sagte er während des Auskleidens. — Jetzt kommen erst die Menschewiken, — aber die halten sich nur ein paar Tage, dann geht die Macht in die Hände der Offiziere über. Die scherzen nicht, die wissen, was Diktatur heißt — dass sie die Erde verschlinge! Oh, fürchterliche Zeiten kommen jetzt über die Proleten! Es ist schrecklich zu denken, wie viel Blut das kosten wird, bis... Dass sie verdorren möchten, in ein paar Monaten zahlen wir es ihnen zurück. Nicht drei Monate, Junge, und die Macht gehört wieder uns. Aber dann... Vorläufig aber müssen wir retten, was sich retten lässt. Wir fahren morgen früh.
Am nächsten Morgen schlug der Blitz ein. Gleich zweimal nacheinander.
— Die Regierung hat abgedankt! Gott sei Dank, dass die Halunken hinter Schloss und Riegel sind! — weckte uns unser lieber Wirt. — Nun verdufte aber wirklich, denn auch meine Geduld hat Grenzen!
Wir ließen uns nicht lange bitten, wir kleideten uns an und gingen los.
— Ich wusste, dass es so kommen würde — sagte Antalfy, als wir auf der Straße waren. — Es kommt immer so. Sie reden den Proleten den Kopf voll, wir brauchen keinen Terror, wir brauchen keine Diktatur, und wenn der Prolet sich damit einverstanden erklärt, dass man auch ohne roten Terror auskommen kann, ist schon der weiße Terror da. Ich hab' das in Serbien reichlich erlebt. Ich hab's satt. Ich fahre noch heute fort.
Die Theatertruppe sollte in einem Kaffeehaus zusammenkommen. Dort erfuhren wir, dass die Rumänen den Bahnverkehr für ein paar Tage eingestellt hatten. Die Reise fiel — wenigstens vorläufig — ins Wasser. Der Theaterdirektor — ein alter Freund von Antalfy — wusste, wo uns der Schuh drückte.
— Macht nichts — sagte er — wegen ein paar Tagen Verspätung geht die Welt nicht unter. Budapest ist eine Kulturstadt, hier kann niemandem etwas passieren und — wie gesagt — mit dem ersten Zug fahren wir los.
Ü brigens, wer zum Teufel schert sich um dich? Du hast wirklich nichts Besonderes getan. Im Grunde genommen bist du kein Bolschewik, du bist nur ein Opfer der Bolschewiken. Man hat dich durch Terror gezwungen in die Armee einzutreten, du warst machtlos demgegenüber.
Du hattest Angst, und deshalb hast du dich dem Terror gefügt. Du hast recht gehabt. Du hast dich im Interesse des Vaterlandes gerettet. Das ist alles. Und übrigens fahren wir innerhalb einiger Tage bestimmt ab.
Als wir über den Ring gingen, trafen wir dreimal gefangene Arbeiter in Begleitung von Polizisten. Rumänische berittene Soldaten trieben rote Soldaten vor sich
her.
— Die Straße ist nicht sehr sicher — meinte Antalfy.
— Wenn wir uns in eine kleine Kaffeestube setzen, ist
die Wahrscheinlichkeit viel kleiner, dass wir über einen Bekannten stolpern.
— Geben Sie Kaffee für Sowjetgeld? — fragten wir die Kellnerin, ein kleines verwachsenes, rothaariges Judenmädchen.
— Fünf zu eins berechnet, geben wir schwarzen Kaffee mit gelbem Rohzucker — sagte die kleine Bucklige mit singender Stimme.
— Das hatte ich mir längst gewünscht! — sagte Antalfy! — Also bringen Sie zwei Tassen, liebes Fräulein!
— Jawohl.
Ich saß mit dem Rücken zur Tür. — Antalfy betrachtete die Passanten — und so merkte ich nicht, dass sich mir jemand näherte; mir fiel fast die Kaffeetasse aus der Hand, als ich einen Druck auf meiner Schulter spürte.
— Bleib ruhig sitzen, Bruder.
In Feldwebeluniform, mit zwei Auszeichnungen auf der Brust, setzte sich Daniel Pojtek an unseren Tisch.
— Ich erkannte dich an deiner Stimme. Es ist besser, wenn du leiser sprichst, obzwar ich dir diesmal nicht böse bin, dass du so laut warst.
— Noch einen Kaffee, Fräulein, für Herrn Feldwebel — sagte Antalfy zu der Buckligen.
Wir saßen lange in der Kaffeestube. Wir glaubten, hier ganz in Sicherheit zu sein. Pojtek fragte mich bis aufs Kleinste aus, was seit unserer Trennung vorgefallen war. Er hörte zu, ohne ein Wort zu sagen, er nickte bloß mit dem Kopf.
— Wir brauchen jetzt nur noch eine Schlafgelegenheit für ein paar Tage, dann fahren wir ab — fügte Antalfy hinzu.
— Seit drei Tagen wohne ich in einem Strauch in Hüvosvölgy. Ein feiner Platz, ich kann ihn euch empfehlen.
— Gut, wir machen mit.
Eine tüchtige Tour, vom Zentrum der Stadt bis nach Hüvosvölgy — nachdem wir eine Stunde gelaufen waren, hätten wir gern den Weg mit der Straßenbahn fortgesetzt, aber weder Antalfy noch Pojtek waren geneigt, sich in eine Bahn zu begeben.
— Wenn ich auf der Straße einen Bekannten treffe — bis der etwas Schlimmes ausheckt, bin ich schon längst über alle Berge. In der Straßenbahn ist die Sache nicht so einfach.
Als wir die Stadt hinter uns hatten, erzählte Pojtek in ruhigem Ton alles, was vorgefallen war, bis ins Kleinste. Die Führer der Gewerkschaften hatten unter sich besondere Beratungen abgehalten, wie man die Räteregierung stürzen könne — die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder unterstützten sie dabei. Die Kommunisten wussten, dass sie die Schwächeren waren, sie wollten aber den Zusammenstoß um jeden Preis hinausschieben, sie wollten die Macht unbedingt solange in ihren Händen behalten, bis wir die gegen Sowjetrussland bestimmten Ententetruppen auf uns abgelenkt hatten.
— So bewusst wurde die Sache betrieben?
— Ein paar Genossen wussten, um was es ging. Die
Mehrzahl der Genossen fasste die Sache nicht so auf und jetzt, nachdem wir niedergeschlagen sind, glauben sie, dass... mit einem Wort, sie sehen nicht, sie verstehen nicht, worin die Bedeutung unserer Revolution lag. Ehrlich gesagt, ich selbst verstand die Sache auch erst, als ich Gelegenheit hatte, mit Szamuely zu sprechen. Was zum Teufel macht ihr denn? — fragte ich ihn. — Wie lange wollte ihr noch dulden, dass diese Schweine euch auf den Kopf spucken? Koste, was es wolle, wir müssen mit ihnen abrechnen. — Koste, was es wolle, wir müssen die Macht in Händen halten, bis die Russen sich etwas erholt haben — sagte er. — Aber auf diese Weise können wir die Macht nicht lange halten. — Die Lage ist nicht günstig, — sagte er. — Die tschechischen Sozialdemokraten führen Krieg gegen uns, die Wiener, die Schweine, drängen auf eine Intervention der Entente; und die Unseren — darüber lässt sich gar nicht reden. — Er wusste wohl, was kommen würde, aber... er zeigte uns auf einer Landkarte: hier lenkten wir Truppen auf uns ab, die gegen Sowjetrussland bestimmt waren, hier und dort. — Also, das war unsere wichtigste Aufgabe, und die haben wir auch erfüllt. Wir hätten vielleicht noch mehr machen können, aber so ist es nun einmal. Das nächste Mal machen wir's besser.
Zum Schluss seufzte Pojtek tief auf.
— Glaubst du, dass Szamuely Selbstmord begangen hat? — fragte ich.
Pojtek sah mich an, wie wenn ich ihn gefragt hätte, ob er glaubt, dass die Donau den Berg hinauffließt.
— Unsinn — sagte er und lachte. — Wir werden noch von Szamuely hören. Ich bin sicher, er wusste schon, was er zu tun hatte. Sei beruhigt, er wird an seinem Platz sein, wenn die Reihe wieder an uns kommt. Wir kamen in Hüvösvölgy an.
— Hier — bog Pojtek in einen schmalen Waldsteig ein. — Hier wohne ich. Ein schöner Platz, was?
— Sehr schön — sagte Antalfy mit saurer Miene — , nur ein wenig zu luftig.
— Wieso hast du keinen sichereren Platz gefunden als Hüvösvölgy? — fragte ich. — Du warst doch in Budapest. Hast du keine Möglichkeit gehabt, etwas Besseres zu finden?
— Ich war gerade so dumm wie die anderen. Das ist alles. Ich kannte diese sozialdemokratischen Hunde ganz genau, klärte auch viele über sie auf, doch irgendwie sagte ich mir: na, deshalb sind sie doch noch... Ein paar Genossen blieben hier zurück, um zu arbeiten. Wir dachten, dass wir wenigstens solange, wie die Sozialdemokraten an der Regierung sind, ruhig arbeiten könnten. Wie ich schon sagte, wir waren furchtbar dumm. Gleich am ersten Tag hoben sie unsere Verbindungsmänner aus, die wussten, wo die einzelnen steckten. Nun konnte ich die suchen, die gerade so wie ich, nur von denen wussten, die schon im Polizeipräsidium, in der Zrinyigasse, saßen.
Drei Tage verbrachten wir in Hüvösvölgy. Es war schönes, warmes Augustwetter. In Hüvösvölgy merkte man nicht viel von dem, was sich in der Stadt ereignete. Nur hie und da sahen wir Menschen, die plötzlich eine andere Richtung einschlugen, wenn sie uns bemerkten. Pojteks Montur jagte ihnen Schreck ein. Am Tage gingen wir spazieren oder wir lagen halbnackt in der Sonne, nachts hielten wir uns tief im Wald versteckt auf und schliefen im Gebüsch. Den ersten Tag ging Pojtek, den zweiten Tag ging ich, den dritten Tag ging Antalfy in die Stadt, um Lebensmittel und Zeitungen zu holen. Die Esswaren waren sauschlecht — die Zeitungen — noch niemals hatte ich ein solches Mistblatt in der Hand. — Steckbriefe, Verhaftungen, schmutzige Verleumdungen und als Schlimmstes: die tägliche Dementierung der Gerüchte, dass die festgenommenen Kommunisten auf der Polizei mörderisch geschlagen würden. Antalfy brachte schließlich eine gute Mitteilung — dass die Züge den Verkehr wieder aufnahmen. Für uns beide bedeutete das sehr viel. Nachmittags kam er mit der Botschaft zurück, dass unsere Truppe am nächsten Morgen nach dem von den Tschechen besetzten Ort Salgotarjan abfahre.
— Deinen Anzug hast du nicht gerade gut behandelt — sagte er — , aber zum Glück sind die anderen Nebenspieler auch nicht allzu elegant. Ich hab dir ein Paar Schuhe mitgebracht, endlich kannst du deine schweren Stiefel zum Teufel schicken. In der Früh sorge ich dann noch für ein frisches Hemd.
— Ich habe noch dreitausend Kronen alte blaue Scheine — sagte am Morgen beim Abschied Pojtek zu mir — , ich gebe dir die Hälfte davon, du wirst es unterwegs gut brauchen können.
— Das kann man wirklich gut brauchen... — antwortete Antalfy statt meiner — , bei mir geht das Sowjetgeld auch schon zur Neige und vielleicht hängt unser Leben davon ab, ob wir Geld haben oder nicht.
An der Endstation der Straßenbahn trennten wir uns von Pojtek. Wir schüttelten uns fest die Hand, aber keiner von uns sprach ein Wort. Wir fuhren diesmal mit der Straßenbahn in die Stadt hinein. Um sieben Uhr morgens trafen wir die Truppe am Ostbahnhof. Alles ging glatt vor sich. Der Direktor steckte einem rumänischen Feldwebel hundert Kronen zu, der Feldwebel stempelte all unsere Papiere anstandslos ab. Unsere Bewilligung lautete auf eine Theatertruppe von dreiundzwanzig Mitgliedern, und wir waren auch dreiundzwanzig. Pojtek hätte ohne weiteres auch mit uns fahren können, aber er wartete noch immer auf ein Wunder, er war überzeugt, dass er auf irgendeine Weise die Genossen treffen werde, mit denen er zusammenarbeiten sollte.
Einige Minuten vor acht fuhr der Zug ab, und gegen Abend kamen wir in Salgotarjan an. Unterwegs durchsuchte eine rumänische Patrouille von vier Mann und eine tschechische von zwei Mann den Zug, jede der Patrouillen ließ einige Passagiere aussteigen, aber bei uns hatte keiner etwas auszusetzen. Auch das tschechische Bahnhofskommando fand unsere Dokumente in Ordnung und als die Straßenlaternen brannten, saßen wir bereits im Speisesaal des Hotel Pannonia.

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