Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
http://nemesis.marxists.org

II.

Ich war noch nicht dreizehn Jahre alt, als mein Vater von den Gendarmen abgeholt wurde. Die Sache kam so: der Verwalter schlug meinen Vater mit der Faust ins Gesicht, er erwiderte mit einer eisernen Heugabel. Die Leute liefen zusammen, aber mein Vater hielt sie mit der blutigen Gabel fern. Wir — meine Mutter und ich — standen in der Tür unserer Wohnung. Als die Gendarmen kamen, lief meine Mutter ihnen entgegen und stellte sich ihnen entgegen. Der Vater wurde in Fesseln abgeführt, die Mutter musste eine Woche das Bett hüten. Die Gendarmen hatten ihr tüchtig zugesetzt.
Die Herren vom Gesetz verurteilten ihn zu fünfzehn Jahren. Die Leute erzählten meiner Mutter, dass mein Vater mit dreiundvierzig Jahren frei werde, aber nicht die Leute, meine Mutter behielt recht. Ich habe meinen Vater nie wieder gesehen. Er starb dort an dem Fraß, den ihm die Herren vorsetzten. Wir zogen in die Stadt, zum Bruder meiner Mutter. Onkel Janos hatte weder Frau noch Kind, und als wir zu ihm zogen, kündigte er auch der alten Wirtschafterin. Von da an kochte, wusch, besorgte meine Mutter alles im Haus.
Onkel Janos war reich. Er wohnte in einem eigenen Haus, dort befand sich auch seine Sattlerwerkstatt, in der vierzehn Jungens arbeiteten. Die Jungens waren nicht älter als ich. Der Onkel Janos stellte am liebsten Jungens an, die weder Vater noch Mutter hatten; vier Jahre dauerte die Lehrzeit. Nach der Lehre entließ sie Onkel Janos — oder wie er zu sagen pflegte — , er ließ sie mit ihren eigenen Schwingen fliegen. Die Leute waren voll des Lobes über das milde, gute Herz des Onkel Janos, und auch er selbst erinnerte die Jungens oft daran, dass sie es ihm zu verdanken hätten, wenn sie anständige Menschen würden. Natürlich kann nur der ein tüchtiger Mensch werden, der schon von Kindheit an sich daran gewöhnt, vom frühen Morgen bis zum späten Abend zu arbeiten. Onkel Janos sorgte dafür, dass die Jungens sich rechtzeitig ans Arbeiten gewöhnten.
Nur ein Geselle war in der Werkstatt beschäftigt, — ein alter, vergrämter Junggeselle, dessen Grundprinzip war, dass Ohrfeigen das beste Erziehungsmittel seien. Herr Blasefuß — der wochentags stets fleißige, wortkarge, nüchterne Mensch, setzte sich Sonntags schon frühmorgens zum Trinken hin, füllte zwei Wassergläser voll mit Schnaps und trank sich selbst zu. Wenn wir aus der Kirche kamen, war er schon stark in Stimmung, küsste die Jungens der Reihe nach ab und nannte meine Mutter Fräuleinchen. Mittags konnte er nicht mehr auf den Beinen stehen. Er sang mit heiserer, glucksender Stimme nicht endenwollende Begräbnislieder. Wenn das Singen zu Ende war, fing Herr Blasefuß mit lautem Wehgeschrei zu weinen an. Dann packten ihn auf Befehl des Onkels vier der kräftigsten Jungen und legten den weinenden Mann ins Bett. Onkel Janos verschloss die Tür des fensterlosen Schlafkabinetts. Montags erschien Herr Blasefuß frühmorgens immer als erster in der Werkstatt.
Auf Wunsch meiner Mutter stellte mich Onkel Janos als Lehrling in die Werkstatt ein. Dass ich schließlich doch kein Sattler wurde, das ist weniger mein Verschulden als das des Herrn Blasefuß.
— Das passt mir nicht — sagte er schon am ersten Tag — , dieser Bengel versaut die ganze Werkstatt.
Wenn ich ihm eine herunterhaue, läuft er zur Mutter, und die weint mir die Ohren voll. Die alte Hexe ist imstande, mir noch das Essen zu vergiften. Wenn ich ihn dann nicht genügend fest anfasse, bekommen auch die anderen Jungens Lust, den Herren zu spielen.
Hinten im Hof wohnte ein großer, breitschultriger, blondhaariger, blatternarbiger Mann. Er hatte von Onkel Janos ein Zimmer mit Küche gemietet, zahlte pünktlich, weder an ihm noch an seiner Frau konnte man was aussetzen, aber Onkel Janos und Herr Blasefuß hatten etwas gegen den großen blatternarbigen Mann; was es war, das wussten wir nicht, aber dass sie ihn nicht ausstehen konnten und dass sie ihn verachteten, dafür lieferten sie Beweise genug. Eines Abends, als der große blonde Mann nach Hause kam — er ging gerade an der Werkstatt vorbei — , rief mir Onkel Janos plötzlich zu: — Wasch' dir schnell die Hände!
Onkel Janos führte mich zur hinteren Wohnung.
— Hören Sie, Herr Hajos, das ist der Sohn meiner Schwester, ein gesunder, starker Junge, würden Sie ihn nicht in Gottes Namen als Lehrling in Ihre Werkstatt aufnehmen?
Hajos sah mir fest ins Auge. — Wenn schon der Vater — fing er an, aber Onkel Janos fiel ihm schnell ins Wort.
— Das ist es ja, das ist es ja, besorg' der Teufel seine Arbeit.
— Ich will's versuchen — sagte Hajos und streichelte meinen Kopf. Es war eine große, schwere, harte Hand, doch tat mir sein Streicheln wohl.
Als der Krieg ausbrach, arbeitete ich bereits zwei Jahre in der Eisengießerei. Während dieser zwei Jahre lernte ich lesen und schreiben. Hajos nahm mich mit in das Arbeiterheim, dort lernte ich das Buchstabenrechnen. Onkel Janos hatte gegen das Buchstabenrechnen nichts einzuwenden, aber um so mehr gegen das Arbeiterheim. Er hatte mir streng verboten, die Schwelle dieser „Verbrecherhöhle" zu übertreten. Da ich trotzdem in das Arbeiterheim ging, drohte Onkel Janos meiner Mutter, dass er sie heraussetzen werde. Meine Mutter nahm die Drohung nicht allzu schwer. Da wandte sich Onkel Janos wieder an mich. An einem Sonntagnachmittag — nachdem er Herrn Blasefuß eingeschlossen hatte — erklärte er feierlich, dass er von diesem Augenblick an seine schützende Hand von mir wegziehe.
— Dein Vater war auch ein Taugenichts und wird im Gefängnis verfaulen. Du wirst bestimmt am Galgen enden.
Seitdem Onkel Janos seine schützende Hand von mir abgezogen hatte, wurde mir leichter. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, musste ich nicht zu Hause wieder an die Arbeit gehen. Ich konnte ungestört die Vorträge des Genossen Szekeres im Arbeiterheim besuchen. Ich habe auch weiterhin bei meiner Mutter gegessen, wofür mir Onkel Janos alles bis zum letzten, Pfennig abnahm, was ich in der Werkstatt bekam, wie zu der Zeit, wo er noch nicht seine schützende Hand von mir abgezogen hatte. So oft er mich zu sehen bekam, wiederholte er mir, dass er sich um mich nicht kümmere, aber wenn ich wagen sollte, die Jungens in seiner Werkstatt zu verderben, wie mich dieser Hund Hajos verdorben hätte, dann schlage er mir die Knochen kaputt. Für die Jungens sei er verantwortlich — vor Gott und Menschen.
Der Ausbruch des Krieges war eine große Freude für mich. Die kleine Stadt von 12 000 Einwohnern, die Eisenbahn-Werkstatt, das Arbeiterheim, das ganze Leben war so eintönig und bedrückend. Ich hatte immer auf eine große Veränderung gehofft, mich nach irgendeiner großen Freude gesehnt, — aber alles vergebens. Während der zehn Jahre, die ich in der Stadt verbracht hatte, veränderten sich die Dinge nur sehr — sehr langsam. Aber jetzt — der Krieg! Der Krieg! Jetzt kommen wunderbare Veränderungen, jetzt kommen die wahren Freuden. Außerdem war ich Sozialist und so musste mich der Krieg auch deshalb mit Freude erfüllen. Dass ich mich als Sozialist fühlte, musste ich geheim halten, denn sonst hätte man mich aus der Eisenbahnwerkstatt herausgesetzt, aber das konnte mir niemand verbieten, dass ich mich als Sozialist hundertfach des Krieges freute.
Karl Nemes, Rechtsanwalt, — der wichtigste Mann im Arbeiterheim — hielt am Tage der Kriegserklärung vom Balkon des Bahnhofsvorstandes eine Rede an die Arbeiter der Eisenbahnwerkstatt.
— Jeder ehrliche Arbeiter, jeder wahre Sozialist muss diesen Krieg mit Freuden begrüßen — sagte er. — Dieser Krieg ist heilig, dieser Krieg ist ein Freiheitskrieg. Auf den Spitzen der Bajonette bringen wir den Sklaven des Zaren, den russischen Genossen, die Freiheit. Alles brach in Begeisterung aus.
Abends wurde die Stadt beleuchtet und ein Fackelzug veranstaltet. Natürlich hatte auch ich am Aufzug teilgenommen, ich hatte mich heiser gesungen, die ganze Nacht hindurch sangen wir dieselben fünf Zeilen: „Warte nur, warte nur, du serbischer Hund, Die Herzegowina kriegst du nicht, Der Magyar duldet's nicht, Eher opfert er sein Blut Im Feuer des Gefechts." Hajos nahm an dem Aufzug nicht teil. Morgens — als wir in die Werkstatt gingen — erzählte ich ihm, was ich gesehen und was ich gehört hatte. Meine Begeisterung riss ihn nicht mit. Er äußerte sich mit keinem Wort über diese Dinge.
An den Mauern klebte überall der Mobilisierungsbefehl.

Der Krieg brachte nichts Gutes. In der Werkstatt wuchs die Arbeit immer mehr, zu Hause wurde das Essen immer weniger.
— Dem König und dem Vaterland bin ich's schuldig — sagte Onkel Janos, als er die Kost der Jungens einschränkte — , das bin ich dem Vaterland schuldig, wenn mir schon Gott nicht mehr gestattet, das Gewehr zu ergreifen.
Ich glaube, ich sagte schon, dass die Stadt ein Eisenbahnknotenpunkt war, wo die Bahn nach vier Richtungen hin abzweigte. Drei Linien führten nach Galizien — und durch Galizien an die russische Front. Als der Krieg ausbrach, wurde ein Oberleutnant zum Kommandanten der Werkstatt ernannt. Außer ihm wurden uns fünfzehn Soldaten zugeteilt: ein Korporal und vierzehn Infanteristen. Noch niemals hatte ich soviel Züge vorbeifahren sehen wie in dieser Zeit. Die nach dem Osten fahrenden Züge brachten unaufhörlich neue Soldatenmassen, Munition, Lebensmittel, aber die zurückkehrenden Züge waren auch nicht leer. Sie brachten die Verwundeten.
Mit der Sonntagsruhe hörte es gleich beim Ausbruch des Krieges auf. Im ersten Jahre wurde die Arbeitszeit um eine halbe Stunde, im zweiten Jahre um eine weitere Stunde verlängert. Wir — in der Werkstatt — bekamen auch im dritten Jahre pünktlich unsere Lebensmittelrationen — sie wurden immer kleiner, aber wir bekamen sie ungekürzt — , während die übrigen Arbeiter stundenlang vor den Lebensmittelgeschäften herumstehen mussten. Der eine hatte aus diesem Grund, der andere aus jenem Grund weniger freie Zeit als vor dem Kriege, doch verbrachten wir sonderbarerweise mehr Zeit im Arbeiterheim als vorher, und es kamen auch mehr Arbeiter dorthin. Der Polizeipräsident ersuchte den Vorstand des Lesezirkels, die Zahl der Vorträge einzuschränken, um die von der überhäuften Arbeit müden und, wie er sagte — „leider nicht ganz ausreichend genährten Arbeiter" — mit unnötigen Anstrengungen zu verschonen. Genosse Nemes besprach das Programm der Vorträge vorher mit dem Polizeipräsidenten, um die Vortragenden wie die Besucher vor unangenehmen Missverständnissen zu bewahren.
Ab Herbst 1917 durften wir Jungen nur Mathematik-und Rechtschreibekurse besuchen. Den Kurs für Rechtschreiben leitete der Buchhalter der chemischen Fabrik, Genosse Szekeres. Ich mochte den Genossen Szekeres ganz besonders, ich habe viel von ihm gelernt. Er hatte ein großes Wissen, liebte uns und verstand unsere Sprache.
Die letzte Rechtschreibestunde werde ich niemals vergessen. Seine Methode war, einen Satz auf die Tafel zu schreiben und uns diesen Satz — wir waren neunundzwanzig — vier-, fünfmal nacheinander in ein Heft abschreiben zu lassen. Nach der Stunde nahm Szekeres die Hefte mit nach Hause und bis zur nächsten Stunde verbesserte er die Schreibfehler mit roter Tinte.
Am ersten Tag nach den Weihnachtsferien — Anfang Januar — war die letzte Rechtschreibestunde.
Der erste Satz, den Genosse Szekeres auf die Tafel schrieb, lautete:
„ Die russischen Arbeiter und Bauern haben die Macht ergriffen."
Dann schrieben wir folgenden Satz ab:
„ Dem Krieg kann nur die Revolution der Arbeiter ein Ende machen."
Ich erinnere mich noch daran, dass der letzte Satz, den wir abschreiben sollten, lautete:
„ Proletarier aller Länder, vereinigt Euch !"
Von den Karpathen her blies der Wind heftig. Handschuhe hatte ich keine, ich steckte meine Hände in die Manteltasche. In einer Tasche fand ich einen Zettel. Zu Hause las ich den maschinengeschriebenen Zettel durch:
„ Genug mit dem Menschenschlachten! Wir wollen Frieden!"
Am nächsten Morgen klopfte ich wie gewöhnlich bei Hajos an.
— Hast du nicht eine Schublade oder eine Truhe, an die kein anderer kommt als du selbst? — fragte Hajos.
— Meine Truhe ist verschließbar.
— Verschließe das darin — sagte er und zog aus seinem Strohsack ein kleines, in Wachsleinwand gehülltes Päckchen. — Es ist möglich, dass bei mir Haussuchung gemacht wird — fuhr Hajos fort.
Als ich das Päckchen in die Hand nahm, zitterten meine Hände, meine Kehle presste sich zusammen, ich konnte kaum ein Wort herausbringen.
— Ja, sagte ich endlich, — ich werde es einschließen. Ich ging in die Kammer, wo mein Bett stand, zurück.
Es war niemand mehr da. Die Jungen arbeiteten schon seit einer Stunde, meine Mutter stand Schlange vor irgendeinem Lebensmittelgeschäft. Onkel Janos schnarchte noch. Ich zog leise, wie wenn ich stehlen wollte, meine Truhe unter dem Bett hervor. Nach einer Minute war ich wieder draußen im Hof.
— Na?
Auf der Straße sprach Hajos leise, fast flüsternd: — Wenn ich heute verhaftet werde, bringst du dieses Päckchen zum Regimentsarzt Gyulai, du kennst ihn doch?
— Er wohnt in der Kaiser-Wilhelm-Straße. Ja, ich kenne ihn — sagte ich.
— Du übergibst ihm das Paket, und sagst, es kommt von mir.
— Ich verstehe.
Eine Weile gingen wir wortlos nebeneinander. Mein Herz klopfte heftig. Hajos pfiff ein harmloses Volkslied.
— Du, Peter — fing er wieder an — , heute vormittag treten wir höchstwahrscheinlich in den Streik. Du streikst nicht.
— Wieso nicht! — sagte ich beleidigt, beinahe schreiend.
— Hör' zu — sagte Hajos lächelnd. Du und noch zehn andere, ihr tretet nicht in den Streik. Ihr werdet eine schwerere Aufgabe haben. Der Bahnhofskommandant wird bestimmt Soldaten zur Arbeit abkommandieren. Ihr werdet scheinbar Streikbrecherarbeit leisten, ihr werdet aber alles durcheinander werfen, dass kein Herrgott den Bahnhof in Ordnung bringen kann.
— Hast du verstanden?
— Ja. Und dann?
— Dann? Ja, dann schmeißt euch der Kommandant heraus oder er lässt euch auch einsperren.
In der Werkstatt ging alles drunter und drüber. In der Nacht wurden mehrere Haussuchungen vorgenommen. Vierzehn Leute wurden verhaftet, neun von den Eisenbahnarbeitern, fünf aus der chemischen Fabrik, unter ihnen auch Szekeres.
Auf dem Platz vor der Werkstatt — gegenüber der Wohnung des Bahnhofsvorstandes — wurde spontan eine Versammlung abgehalten.
Zuerst sprach ein Lokomotivführer, dann Hajos. Gestern noch hätten die Menschen nicht einmal gewagt, unter vier Augen flüsternd über die Dinge zu reden, die sie jetzt offen und laut vor über vierhundert Zuhörern ausführten.
— Wir haben genug vom Krieg!
— Wir haben genug vom Hunger!
— Die russischen Genossen bieten uns den Frieden an! Frieden! Wir wollen Frieden!
Hajos las von einem Zettel die Forderungen der Arbeiter vor, die Massen stimmten mit lauten Zurufen ein. Keine Fäuste: Hämmer, schwere Eisenstangen wurden hoch in die Luft gehoben.
Die Einfahrt war nicht freigegeben, draußen auf der freien Strecke schrillte die Lokomotivsirene um Einlass eines Munitionszuges. Weder der Militärkommandant noch der Bahnhofsvorstand waren zu sehen. Während Hajos sprach, kam Nemes mit seinem Auto auf den Bahnhof. Nach Hajos sprach Nemes. Er knöpfte seinen langen schwarzen Wintermantel bis an den Hals zu, seinen Hut aber nahm er ab und streckte die Arme während des Sprechens gen Himmel, wie der Pfarrer auf der Kanzel.
— Genossen!
Vorwurfsvoll flehend, fast weinend war Nemes' Stimme. Sie wurde aber sofort drohend, wenn seine Rede von da oder dort durch Zwischenrufe gestört wurde.
— Nieder mit dem Krieg!
— Wir wollen Frieden!
— Es lebe das russische Proletariat!
— Wenn wir ernstlich das allgemeine Wahlrecht bekommen wollen — fing Nemes zum dritten Mal denselben Satz an, kam aber auch zum dritten Mal nicht weiter.
— Wir wollen Frieden — tönte es von überall her. — Das Beispiel der russischen Genossen.
— Das Beispiel der russischen Genossen — fuhr Nemes wütend auf — , wir müssen dieses Beispiel erst verstehen lernen, dann können wir darüber sprechen. Euer Bolschewismus, Genossen, ist noch viel zu kindisches unreifes Zeug!
Der Platz, wo wir standen, war mit Schnee bedeckt. Der Schnee war dreckiggrau vom Rauch der Lokomotiven. Harte Arbeiterfäuste kneteten harte Schneeballen aus dem schmutzigen Schnee — die Schneeballen flogen auf Nemes zu. Fünf — sechs Schneeballen prallten auf Nemes' Bauch, auf seine Brust. Einer flog in sein rechtes Auge, einer stopfte direkt seinen offenen Mund.
— Frieden, wir wollen Frieden!
Als es Nemes gelang davon zu kommen, ergriff ein kleiner verwachsener Mann das Wort. Ich kannte ihn nicht. Er sprach mit heiserer Stimme, aber er verstand unsere Sprache. Zuerst schimpfte er auf die Kriegführung — die Herren Generäle wollen keinen Frieden, sie wollen die russische Revolution erdrosseln — , dann kam er auf die sozialdemokratische Parteileitung — die der für den Frieden kämpfenden Arbeiterschaft überall in den Rücken fällt.
— Aber die Verräter der Arbeiterschaft mögen machen was sie wollen, die Arbeiter in Budapest, Wien, Prag, Lemberg werden nicht auf sie hereinfallen! Sie legen ihre Werkzeuge nieder, sie fertigen keine Gewehre, keine Munition, sie liefern denen kein Brot, die gegen die russischen Genossen in den Krieg ziehen.
Begeistert nahmen wir die Worte des verwachsenen Mannes auf und — merkten nicht, dass sich inzwischen immer mehr Gendarmen um den Bahnhof herum sammelten.
Während der Verwachsene sprach, suchten Delegierte der Arbeiterschaft das Militärkommando auf. Sie forderten die Freilassung der Gefangenen, die Erhöhung der Lebensmittelrationen, den achtstündigen Arbeitstag, die freie Abhaltung von Versammlungen und von Konferenzen innerhalb der Betriebe.
— Genossen! — erklärte Hajos — , der Militärkommandant hat alle unsere Forderungen abgelehnt. Er drohte, wenn wir nicht sofort die Arbeit aufnehmen, wird er die zwölf Mitglieder der Delegation vor das Kriegsgericht stellen und ihr werdet sofort als Soldaten eingezogen.
Wildes Geschrei folgte diesen Worten.
— Keinen Handstreich mehr für die Ausbeuter!
— Auf zum Arbeiterheim!
Nach einer Viertelstunde waren nur noch neunzehn im Bahnhofsgebäude — neunzehn Streikbrecher. Das Gebäude wurde von Gendarmen umzingelt.

Ich habe noch nie mit einem solchen Eifer gearbeitet als an dem Vormittag, wo ich Streikbrecher wurde. Im Bahnhof standen vier Züge. Sie warteten auf Lokomotiven. Wir Streikbrecher fingen ohne jede vorherige Besprechung sofort mit der Verschiebung der Züge an. Die Wagen des Munitionszuges verteilten wir wohlüberlegt zwischen die Wagen eines Verwundetentransports und zwischen die Wagen eines Lebensmittelzuges. Wir lösten überall die Kuppelungen — wir hoben auch einige Räder heraus, dann schoben wir einige Waggons auf das Verkehrsgeleise. Auf Schritt und Tritt passten Gendarmen auf. Der Militärkommandant erschien persönlich unter uns und sprach sich lobend über unseren Fleiß aus: auf seinen Befehl erhielten wir Speck, Brot, Schnaps und Tabak.
Um Mittag herum wurde ein Militärzug gemeldet. Das Verkehrsgeleise war nicht frei, der Zug stand anderthalb Stunden lang außerhalb des Bahnhofs. Unser Militärkommandant — der schon seit einem Jahr im Range eines Hauptmanns stand — fluchte und drohte, der Kommandant des Militärtransports verlangte, dass ihm eine Wache zur Verfügung gestellt würde, denn die für die Front bestimmten Soldaten zeigten große Neigung zum Desertieren. Wir trieften vor Schweiß bei der Arbeit. Der Hauptmann telefonierte an den Stadtkommandanten, aber bis die zur Wache bestimmten Soldaten ankamen, standen schon drei Züge auf offener Strecke: aus drei Zügen desertierten die Soldaten. Der Hauptmann tobte und schließlich ließ er die neunzehn Streikbrecher verhaften.
Sechzehn Soldaten eskortierten uns in die Kaserne.
Nach Recht und Regel nahmen sie uns in die Mitte: vier Mann vorne, vier rückwärts, vier Mann von rechts und vier Mann von links. Ein Korporal führte die Eskorte.
Auf der Straße standen die Frauen in langen Reihen vor den Lebensmittelgeschäften. Die Arbeiter aus der Chemischen Fabrik waren auch auf der Straße. Unterwegs schloss sich uns eine große Menge an — Frauen, Männer, Kinder.
— Wir wollen Frieden! Hoch die Soldaten! Lasst die Soldaten nach Hause!
Das Eingangstor der Kaserne war von einer Abteilung Gendarmen besetzt.
— Nieder mit den Gendarmen! Lasst sie an die Front gehen! Hoch die Soldaten!

Ich wurde in ein großes halbdunkles Zimmer gesperrt, da saßen bereits vier Gefangene, vier Soldaten.
Kaum war die Türe hinter mir zugeschlossen, wurde sie schon wieder geöffnet, drei Arbeiter wurden eingeliefert.
— Die Revolution ist ausgebrochen — erzählten sie.
— Das Volk hat die Militärmagazine ausgeraubt.
— Die Soldaten? Die werden uns befreien.
— Schade, sehr schade — sagte ein Soldat mit einem Zigeunergesicht, er saß auf der Bank, rauchte aus einer Pfeife, und als er die Pfeife aus dem Mund nahm, versuchte er im Sitzen auf die an der Wand hängende Tafel zu spucken, deren Aufschrift: „Rauchen nicht gestattet" man fast nicht mehr entziffern konnte.
— Wieso schade — du Narr! Hast du große Lust auf den Heldentod?
— Teufel! Neunmal haben sie mich bereits an die Front geschickt, und neunmal bin ich ausgekratzt. Ich wollte es noch einmal, wenigstens noch einmal mitmachen, mit Musikbegleitung und Blumen durch die Straßen zum Bahnhof ziehen — aber wenn ich befreit werde, macht’s auch nichts.
Aber vorläufig warteten wir vergebens auf die Befreiung, auch auf das Mittagessen warteten wir vergebens. Vor dem Fenster, etwa anderthalb Meter entfernt — befand sich ein Zaun, höher als ein Stockwerk, das war alles, was wir von der Außenwelt sahen.
Es wurde Abend.
— Sie haben uns vergessen, zum Teufel noch mal — fluchte der Soldat mit dem Zigeunergesicht.
— Bis morgen halten wir's noch aus — tröstete ihn ein Arbeiter. — Morgen kommen wir bestimmt an die Reihe.
Es war eine lange Nacht. Wir waren hungrig, aber 48
noch mehr quälte uns die Kälte. Wir schliefen auf dem nackten Boden. Um nicht zu erfrieren, legten wir uns dicht nebeneinander. Erst nach geraumer Zeit gelang es mir einzuschlafen, aber ich konnte nicht lange schlafen; ich wachte davon auf, dass irgendwo in der Nähe der Kaserne Maschinengewehre knatterten. Ich stieß meinen Nachbar, den Zigeuner, in die Seite.
— He!
— Irgendwo wird mit Maschinengewehren geschossen — sagte ich.
Der Zigeuner horchte eine Weile, dann legte er sich zurück.
— Du träumst — sagte er und schnarchte schon wieder.
Jetzt hörte ich auch kein Geräusch mehr als das Schnarchen meiner Kollegen. Ich konnte aber nicht wieder einschlafen.
Das Morgengrauen fand mich wach.
Von den Gefährten war der Zigeuner am ersten auf. Er spuckte in die Hände und rieb sich die Augen.
— In der Nacht ist mit Maschinengewehren geschossen worden — erzählte er — , die Gendarmen haben in die streikenden Arbeiter hineingeschossen.
— Woher weißt du denn das? — fragte ich verwundert.
— Ich bin kein neugeborenes Kind — sagte der Zigeuner — , Sandor Asztalos weiß alles. Ich kann dir auch verraten, dass ich am Ende von allem den deutschen Kaiser aufknüpfen werde.
Mit einem Fußtritt weckte er die anderen und erzählte auch ihnen mit allen Einzelheiten — das nächtliche Straßengefecht. Inzwischen dämmerte es, es wurde Morgen, aber niemand dachte an uns.
Es war ungefähr gegen Mittag, als man endlich die Tür öffnete. Drei Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett standen auf dem Flur.
— Peter Kovacs — schrie der Gendarmeriewachtmeister.
— Hier — sagte ich.
— Herkommen.
Zwei Gendarmen nahmen mich in die Mitte, der Wachtmeister stellte sich hinter meinen Rücken. Die Arrestzelle befand sich im hinteren Gebäude der Kaserne, wir gingen durch den Hof in das vordere Gebäude, und da in den zweiten Stock. Eine halbe Stunde warteten wir auf dem Flur. Die Gendarmen gestatteten mir, mich inzwischen zu setzen. Offiziere und Unteroffiziere gingen hin und her auf dem Flur, Türen wurden geöffnet, Türen wurden zugeschlagen, um mich kümmert sich niemand. Im Sitzen schlief ich beinahe ein, aber plötzlich wurde ich wieder munter, als zwischen zwei Gendarmen der Genosse Hajos vor mir auftauchte. Er kam gerade aus der Tür mir gegenüber. Er sah über mich hinweg — ich tat auch, wie wenn ich ihn gar nicht kannte. Die Gendarmen führten ihn nach links ab, in der Richtung, aus der ich gekommen war. Die Tür öffnete sich wieder, ein Wachtmeister rief meinen Namen. Wenn ich mich recht erinnere, waren sieben Leute in dem Zimmer, in das man mich führte. Lauter Offiziere, nur in der Türe stand ein Wachtmeister.
— Herr Garnisonsauditor, melde gehorsamst, auf Befehl habe ich den Arrestanten Peter Kovacs vorgeführt.
— Peter Kovacs — sagte der Garnisonsauditor und sah mich scharf an. Er hatte hässliche, verquollene Augen.
— Peter Kovacs — wiederholte der Auditor, ich stand nun da, ich wusste nicht, ob ich etwas sagen sollte, oder ob es besser wäre, zu schweigen. Der eine Offizier — ein Leutnant — gab mir ein Blatt Papier.
— Wer hat dir diesen Wisch gegeben? — fragte der
Auditor.
Ich blickte auf das Papier. Es war dicht mit Schreibmaschinenschrift beschrieben. Die Buchstaben flossen mir vor den Augen zusammen. Ich konnte nur die erste Zeile, die mit lauter großen Buchstaben geschrieben war, lesen: GENOSSEN ! SOLDATEN !
— Wer hat dir diesen Wisch gegeben?
— Der Herr Leutnant.
— He, du bist gut aufgelegt. Die Lust wird dir schon vergehen...
— Diese Schweinerei — und noch etwa zweihundert solcher Zettel hattest du in der Wohnung in deiner abgeschlossenen Truhe unter dem Bett verwahrt. Von wem hast du sie bekommen?
— Von niemanden. Ich sehe dieses Blatt jetzt zum ersten Mal.
Das Verhör dauerte lange, aus meinen Antworten wurden die Herren nicht klüger. Zum Glück fragten sie mich lauter Dinge, von denen ich wahrlich nichts wusste, sonst hätte ich mich vielleicht — auch ohne zu wollen — verraten.
— Wie alt bist du? — fragte der Auditor.
— Achtzehn vorbei.
— Zieh dich aus!
— Es ist nicht nötig — sagte der eine Offizier — ein Militärarzt. — Tauglich. — Frontdiensttauglich.
Drei Gendarmen brachten mich in das Arrestlokal zurück, wo die anderen schon zu Mittag aßen.
Am nächsten Tag, beim Morgengrauen, führten zwei Gendarmen mich und Sandor Asztalos zum Bahnhof. Die Straßen waren ganz leer, wir trafen nur Wachpatrouillen. Das Bahnhofsgebäude war voll von Gendarmen. Ich sah keinen einzigen Bekannten. Überall arbeiteten Soldaten. Die zwei Gendarmen stiegen mit uns in den nach Budapest fahrenden Personenzug.
Gegen Abend kamen wir in Budapest an und verbrachten die Nacht in dem Arresthaus der Landwehrkaserne.
— Ein guter Soldat ist überall zu Hause — zeigte Asztalos stolz auf die Wand hin, wo ein von Rauch vergilbtes Papier mit der Aufschrift: „Rauchen streng verboten" angebracht war.
Am nächsten Morgen wurde ich in Soldatenuniform gesteckt und meine militärische Ausbildung begann. Von morgens sechs bis fünf Uhr abends war ich ein Soldat in Ausbildung; von abends fünf Uhr bis morgens sechs Gefangener. In meiner Kompanie waren wir unser zweiundzwanzig, denen es gerade so erging. Am Tage brachten uns ein Wachtmeister und ein Korporal bei, wie wir gehen, liegen, wie wir Kniebeuge machen, wie wir schießen und wie wir stechen sollten: am Abend erzählten uns in dem dunklen Gefängnis, auf dem Stroh liegend, alte Landsturmsoldaten, wie man Krankheiten simuliert, und wenn das nichts nützen sollte, wie man sich eine Krankheit holt, und wie man türmt, wenn es brenzlich wird.
— Es gibt nichts Besseres als die Epilepsie — behauptete ein Landsturmsoldat, ein Bauer mit langem Schnurrbart, er war dreimal im Feld gewesen, aber ein viertes Mal brachte er's nicht fertig. — Es gibt nichts Besseres als die Fallsucht — wiederholte der Mann und erklärte mit tausend Einzelheiten, wie diese Krankheit gespielt wird.
— Na, ich bleibe schon bei der Krätze — entgegnete ein Junge aus Budapest. — Du musst sie dir zwei Tage vor dem Abmarsch holen. Wenn sie rechtzeitig ausbricht, bringt dich kein Herrgott ins Feld.
— Höre nicht auf sie, Bruder — warnte mich Sandor
Asztalos, der Zigeuner — , ich will ja nichts sagen, eine kleine Krankheit ist eine ganz gute Sache, aber, glaube mir, lieber Freund, das Gesündeste ist doch, zu desertieren.
— Ich habe zwei Söhne im Feld — erzählt jeden Abend ein alter Landsturmsoldat. — Der erste, er hieß Janos wie ich — seine Seele ruhe in Frieden — , ist unten in Serbien geblieben.
— Bei uns im Dorf zahlt der Gemeindenotar nur der Frau die Unterstützung, die die Beine spreizt.
— Und die alten Weiber?
— Die lässt er graben, Mais brechen oder Federn schleißen oder sonst etwas verrichten.
Ich war acht Wochen in Budapest, aber ich kam nicht ein einziges Mal in die Stadt. Die Kaserne stand draußen am Ende der Stadt, in der Nähe eines kleinen Wäldchens, das Volksaue genannt wird. Der Exzerzierplatz lag weit außerhalb der Stadt. Außer dem Arresthaus und dem Hof der Kaserne kannte ich nur den Weg dahin.
Am Ende des achten Monats wurde ich in die Marschkompagnie eingeteilt. Alle zweiundzwanzig Arrestanten kamen in dieselbe Kompanie. Als wir die Ausrüstung erhielten, merkten wir an den Bergsteigerschuhen, dass wir in die Dolomiten geschickt werden sollten. Am Tag vor dem Abmarsch erkrankten drei Arrestanten, am Morgen des Abmarsches bekam der Bauer mit dem großen Schnurrbart einen epileptischen Anfall.
Frühmorgens traten wir an. Wir hatten nagelneue erdfarbene Uniformen an, unsere Mützen waren mit Bändchen in den Nationalfarben geschmückt. Das Orchester spielte, ein Oberleutnant kommandierte zum Gebet. Ein Feldpater las den Schwur vor, wir sprachen ihn laut nach. Dann hielt der Oberleutnant eine schöne Rede: er sprach vom Vaterland, vom König, von der Freiheitsliebe und von der Königstreue des ungarischen Volkes. Aus den Augen des neben mir stehenden Sandor Asztalos flossen Tränen.
— Kompanie marsch!
Die Musik spielte. Vor den Spielleuten wurde eine geschmückte Fahne hergetragen. Vor der Kompanie und hinter der Kompanie gingen je ein Zug Feldgendarmen, uns achtzehn Arrestanten bewachte außerdem je ein Gendarm. Den ganzen Zug begleiteten beiderseits weinende Frauen.
Da sah ich zum ersten Mal die Straßen von Budapest.
Auf dem Bahnhof brauchten wir nicht lange zu warten, wir wurden sofort in den schon bereitgestellten Zug einwaggoniert. Wir Achtzehn wurden für uns allein in einem Viehwagen kommandiert. Die Tür wurde hinter uns ins Schloss geklappt.
— Na, jetzt flieh, Bruder, wenn du kannst!
— Erzähl mir nichts, ich weiß schon, was ich zu tun habe — antwortete Asztalos selbstbewusst.
— Diese Tür brichst du nicht durch.
— Ich denke gar nicht daran. Wir heben den Boden aus. Nachts werden wir alle verduften. Es ist gut, wenn wir uns jetzt erst einmal ausschlafen.
Der Zug war abgefahren, wir legten uns auf den dünn mit Stroh bedeckten Boden und schliefen ein. Ich schlief nicht lange, die Kälte weckte mich auf.
Mittags öffnete man die Tür — Feldgendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten standen davor. Wir bekamen zu essen. Bevor wir abfuhren, wurde die Tür wieder abgeschlossen.
— Na, Jungens, wir haben lange genug herumgelungert. Jetzt an die Arbeit!
Asztalos untersuchte den Boden des Waggons gründlich.
— Eine Spielerei! Hol mich der Teufel, wenn ich nicht mit den Fingernägeln diese faulen Bretter heraushebe!
Asztalos gab die Weisungen, und wir scheuten keine Anstrengung und schonten den an unserer Seite hängenden Schürhaken nicht. Nach einer kurzen Stunde war der Weg freigelegt zu den schnell laufenden Rädern.
— Gott sei Lob und Dank! Lasst es jetzt gut sein, wir müssen noch bis zum Abend die Zeit hier totschlagen, Gott verdamm mich. Wir müssen die Sache so anfangen — wenn der Zug hält, schießen wir, dann trauen sich diese Jammerlappen nicht in unsere Nähe zu kommen, und zwei — drei Mann können verduften — erklärte Asztalos.
Bevor wir aus der Kaserne abzogen, waren wir gründlich durchsucht und uns die Munition abgenommen worden. Es hatte aber jeder noch etwas gerettet. Für eine Schießerei reichte es gerade aus.
Es wurde Abend. An der ersten Station, wo wir in der Dunkelheit ankamen, begann das Spiel. Wir schossen einige Mal in die Wand des Wagens und brüllten, wie wenn wir bei lebendigem Leib geschunden würden.
Von draußen keine Antwort.
Zwei Mann hauen ab.
— Alles Gute, Jungens!
Um Mitternacht herum verließen Asztalos und ich als Letzte den Waggon. Als wir zwischen den Rädern herauskrochen, legten wir uns zwischen die beiden Schienenpaare auf den Bauch, und warteten, bis der Zug abgefahren und auch dann erhoben wir uns erst nach einer guten Viertelstunde mit aller Vorsicht.
Wir standen allein da.
— Wohin jetzt?
Wir umgingen den finsteren Bahnhof. Ein großes Dorf schlief dahinter. Der Himmel war wolkenlos, der Mond beleuchtete den Weg mehr als uns erwünscht war.
— Ins Dorf hineingehen?
— Dort gibt's gewiss Gendarmen.
Die Landstraße ist auch nicht sicher genug. Gehen wir in Gottes Namen in das erste Haus hinein.
Da ich merkte, dass Asztalos die Sache zu verstehen schien, ging ich ihm nach. Beim zweiten Klopfen bewegte sich jemand im Hause und machte Licht.
— Wer ist da? Was wollt ihr?
— Militärpolizei. Öffnet die Tür.
Wir hörten ein unterdrücktes Fluchen. Das Licht verschwand und nach einigen Augenblicken stand der Bauer mit seiner Petroleumlampe in der Hand auf dem Hof.
— Wo ist die Kaserne? — fragte Asztalos in strengem Ton.
— Kaserne? In unserem Dorf gibt es keine Kaserne.
— Wo wohnen die Gendarmen?
— Zwei Stunden von hier, in Alsodombor.
— Verdammt noch mal! — brach Asztalos aus. — Wir suchen Deserteure, wir müssen hier im Dorf übernachten. Wir schlafen bei dir.
— Bei mir ist kein Platz — sagte der Bauer.
— Dann gehst du aus dem Haus. Wir geben dir einen Zettel, dass wir hier schlafen, und die Staatskasse wird dir das Quartiergeld bezahlen.
Schon gut — brummte der Bauer und öffnete das Tor.
Der Wirt leuchtete uns voran, wir gingen ihm nach. Durch die Küche kamen wir ins Zimmer, in dem zwei Betten standen. In einem schliefen Kinder, im anderen erhob sich mit erschrockenem Gesicht eine Frau.
— Es ist weiter nichts los — begrüßte sie Asztalos.
— Militärpolizei — sagte der Mann zu ihr — morgen früh ziehen sie ab.
Asztalos und ich lehnten unsere aufgepflanzten Gewehre in eine Ecke und setzten uns zum Tisch.
— Habt ihr was zum Futtern?
— Ich glaube nicht.
— Wir geben euch eine Schrift, und die Staatskasse wird's euch bezahlen.
— Gut, schon gut — wackelte der Bauer mit dem Kopf.
Nach einer Weile stand vor jedem von uns ein Topf Milch und je ein Stück schwarzes Brot. Die Milch war kalt, das Brot trocken, aber wir tranken sie und würgten das Brot herunter, aber dann bekamen wir erst richtigen Appetit.
— Könnt ihr uns nicht was anderes geben? Ihr bekommt es schriftlich.
— Es ist Krieg — erwiderte der Bauer ängstlich.
— Ja, ja. Wieso bist du denn zu Hause geblieben? — fragte Asztalos streng.
— Ich? — sagte der Bauer verwundert. — Ich bin nicht zu Hause geblieben. Ich bin Kriegsgefangener, — russischer Kriegsgefangener. Iwan Iwanowitsch ist mein richtiger Name. Wenn ich's genau berechne, lebe ich seit länger als drei Jahren in Ungarn.
— Na, und wo hast du Ungarisch gelernt?
— Das lernt man schon der Frau zuliebe.
— Sind Kinder da?
— Zwei.
— Der Vater des größeren ist irgendwo in Sibirien, das kleinere ist fünf Monate alt, gehört uns.
— Na gut. Legt euch ins Bett zurück, wir schlafen auf dem Boden.
Die Frau brachte zwei Pferdedecken, der Mann holte Stroh und bettete uns auf den Boden.
— Wir geben euch eine Schrift — versicherte Asztalos — wir geben euch über alles eine Schrift.
Frühmorgens standen wir auf, wuschen uns beim Brunnen, dann stellte Asztalos das Schriftstück aus. Wir waren schon wegbereit, als wir plötzlich einen Gast bekamen. Ein Landwirt mit langem dünnen Schnurrbart, in blauen Hosen, Schaftstiefeln, suchte die Militärpolizisten.
— Ich heiße Porfir Iwanowitsch Petroff, aus dem Moskauer Gouvernement — stellte er sich feierlich vor. — Ich habe den Herren ein kleines Frühstück gebracht.
Aus einem handgewebten Tuch zog er ein Stück Speck, Wurst, weißes Brot und eine Flasche Schnaps vor.
— Es möge Ihnen wohl bekommen, meine Herren Soldaten!
— Das ist schon ein Fressen! Wir geben eine Schrift darüber. Über alles.
— Aber nicht doch, meine Herren. — So Gott mich beschütze, ich gebe es nicht deshalb. Man freut sich von Herzen, dass endlich Menschen ins Dorf gekommen, die hier Ordnung schaffen. Weder das Vermögen noch das Leben des Menschen ist hier sicher vor den vielen herumstreichenden Kriegsgefangenen und Deserteuren.
— Seid ihr kein Kriegsgefangener?
— Das bin ich, aber wissen Sie, wenn man zwanzig Morgen bewirtschaftet! Ich arbeite ehrlich mit, die Frau scheut auch keine Arbeit, trotzdem sie über fünfzig ist. Wir haben auch 'ne Kleinigkeit, aber heutzutage ist es so, wenn man für einen Augenblick das Auge zudrückt, stehlen sie einem das Hemd vom Leib. Die Kriegsgefangenen müsste man ins Lager zurückbringen, sie stehlen mehr, als sie arbeiten. Die Deserteure, — die Gott verflucht hat, — der Wald, die Landstraße sind voll von ihnen, — hätte man bei uns zu Hause längst erschossen wie Hunde. Ich glaube, und beim Herrn Dorfnotar habe ich's gerade herausgesagt, das Land geht zugrunde, es wird von tollen Hunden aufgefressen, wenn man diese Leute so frei herumstrolchen lässt.
Dem Hauswirt gefiel das Gerede nicht, er wollte schon mehrmals dazwischensprechen, aber er unterließ es immer wieder, da er sah, dass Asztalos zu allem mit dem Kopf nickte. Wir aßen beide mit vollem Maul, lange war es uns nicht so gut gegangen. Asztalos zeigte sich auch dankbar, wenn sein Mund schon so voll war, dass er mit Worten nicht bejahen konnte, gab er Porfir Iwanowitsch wenigstens mit stetem Kopfnicken recht.
Während wir aßen und Porfir Iwanowitsch über die Gefahren sprach, die das Vaterland bedrohten, ging das Gerücht durch das Dorf, dass wir hergekommen seien, um Ordnung zu schaffen. Nacheinander kamen die Bewohner mit ihren Klagen:
— Der Herr Dorfnotar hält die Unterstützungsgelder zurück.
— Der Jude gibt uns auf unsere Marken kein Petroleum. Wer einen höheren Preis zahlt, dem gibt er's auch ohne Marken.
— Wenn schon von einer Dienstbefreiung gesprochen wird--------------
Das Zimmer war bald voll von Leuten, die irgendeine Beschwerde hatten. Mir verging plötzlich der Appetit, irgend etwas presste meine Kehle, es gefiel mir gar nicht, dass Asztalos jetzt auch den Ärmsten allerlei Dinge vormachte und versprach. Asztalos hörte sich die Beschwerden an und nickte nur mit dem Kopf, wie vorher bei den Worten Porfir Iwanowitschs, aber schließlich platzte auch bei ihm die Geduld, er warf wütend das Messer, mit dem er den Speck geschnitten hatte, zu Boden.
— Herrgott, Sakrament, dieses dumme Volk, warum schlagt ihr diesen schuftigen Kerl nicht tot? Man muss ihn erschießen wie einen tollen Hund!
Die Leute standen mit offenem Mund da. Auf einen solchen Rat waren sie nicht gefasst. Im Zimmer wurde es plötzlich still. Porfir Iwanowitsch stand auf, er wollte was sagen, aber es war keine Zeit mehr dazu.
Plötzlich traten zwei Gendarmen ins Zimmer, mit schussbereitem Gewehr, zwei andere Gendarmen richteten vom Fenster aus die Gewehre auf uns.
— Hände hoch!
Bis wir erfassten, was geschehen war, hatten wir schon Fesseln an den Händen.
— Deserteure — sagte der eine Gendarm.
— Schufte — brach Porfir Iwanowitsch aus. Verdammte Schufte!
Ich dachte, dass den anderen, die ihre Beschwerden vorgebracht hatten, und dass in erster Reihe unserem Hauswirt sich nun die Zunge lösen werde. Aber es kam anders. Porfir Iwanowitsch zog fluchend ab, die anderen gingen ruhig mit herabhängendem Kopf hinaus.
Jetzt standen schon alle vier Gendarmen im Zimmer. Sie entluden unsere in der Ecke aufgestellten Gewehre, nahmen uns die Bajonette ab, dann befahlen sie einem hinkenden Bauernjungen, sie uns nachzubringen.
— Na, gehen wir!
Inzwischen packte die Hausfrau die Reste von Porfir Iwanowitschs Speck und Brot in ein altes Zeitungspapier und drückte mir das Päckchen in den Arm.
— Wer weiß, wann Sie wieder etwas zu essen kriegen — sagte sie leise.
Der Mann drückte ein in Lumpen gewickeltes Kind an seine Brust und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Die Gendarmen sperrten uns nach zweistündigem Marsch in irgendeinen Stall ein. Die Fesseln nahmen sie uns nicht ab. Asztalos fluchte wütend.
— Wenn sie uns wenigstens Tabak geben würden, die Hunde.
— Was haben sie mit uns vor? — fragte ich.
— Entweder übergeben sie uns dem Kriegsgericht, dann werden wir zu Gefängnis verurteilt, aber wir müssen es erst nach dem Kriege absitzen — jetzt wird man uns an die Front zurückschicken. Dann brennen wir natürlich wieder durch. Oder man bringt uns zum Ersatzbataillon zurück, dann schicken sie uns an die Front, und dann flüchten wir auch. Wenn wir doch wenigstens etwas Tabak hätten, dass Gott alle Gendarmen verdamme, die Saukerle, die die beschissene Welt nur noch mehr verpesten!
Einen Tag und eine Nacht kauerten wir in diesem Stall herum. Brot und Speck hatten wir genügend, aber wir verkamen fast vor Durst. Asztalos redete unaufhörlich. Ausführlich erzählte er — weiß der Teufel zum wievieltenmal — die Geschichte seiner neun Desertionen, dann sprach er vom Kriegsschauplatz. Auf dem serbischen Kriegsschauplatz hatte er einen Lungenschuss bekommen — acht Monate war er krank danach — , auf dem russischen Kriegsschauplatz presste ihn der Luftdruck eines Granatgeschosses derart an den Boden, dass seine Hände und Füße monatelang hin und her zuckten wie bei einer Marionette.
Als es dunkel wurde, sprach Asztalos über die Vorkriegszeit. Er erzählte in allen Einzelheiten, wie das kleine siebenbürgische Dorf, in dem er geboren war, wie das Haus, in dem er wohnte, aussieht, wo das zwei Morgen große Stückchen Land liegt, das er von seinem Vater geerbt hat. Als er von der Frau sprach, blieb das Wort in seiner Kehle stecken.
— Ich habe drei Kinder zu Hause, drei kleine Gesellen warten auf mich zu Hause.
Da versagte Asztalos die Stimme. Er erwartete vielleicht Ermutigung, aber ich war mit meinem eigenen Kummer beschäftigt. In einer Ecke des Stalls starrte ich, auf dem Düngerstroh sitzend, nach der Decke, es war aber wirklich nichts zu sehen daran.
Asztalos lag lange unbeweglich da, mit dem Gesicht nach dem dreckigen Stroh gewandt. Ich dachte, er schliefe. Gegen Morgen schlummerte auch ich ein wenig ein. Aber kaum war ich eingeschlafen, wurde ich wach, weil Asztalos laut weinte. Sein Körper schüttelte sich vor Weinen, wie bei einem geprügelten Kind.
— Wo fehlt's, Bruder? Tut dir was weh?
Asztalos richtete sich auf, er versuchte mit den gefesselten Händen sein verschmiertes Gesicht abzuwischen.
— Sie werden mir das noch bezahlen! Sie werden für alles zahlen müssen, diese Hunde! — sagte er mit ganz veränderter Stimme. — Wenn wir wenigstens etwas Tabak hätten — fügte er etwas später hinzu, jetzt schon mit seiner gewöhnlichen Stimme.
In der Früh holten uns zwei Gendarmen. Sie brachten uns zum Bahnhof und stiegen mit uns in den nach Budapest fahrenden Zug ein. Am Nachmittag waren wir wieder in der Landwehrkaserne, dort wurden wir voneinander getrennt. Ich wurde dahin zurückgebracht, wo ich vorher schon gesessen hatte. Asztalos wurde irgendwo anders eingesperrt.
Neun Tage saß ich im Arrest — unterdessen wurde ich dreimal verhört — zweimal in der Kanzlei der Ersatzkompagnie und einmal in der Bataillonskanzlei. Am zehnten Tag, morgens um acht Uhr, ging ich, mit Fahnen — Musik — und Gendarmenbegleitung, wieder an die Front ab.
Am selben Tag, um sechs Uhr morgens, wurde das Todesurteil gegen Sandor Asztalos auf dem Kasernenhof vollstreckt.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur