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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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V.

Ich wollte zuerst mit Otto sprechen. Ich suchte ihn im Kaffeehaus, und als ich ihn da nicht fand, ging ich auf seine Wohnung. Er lag noch im Bett, war aber wach und las in einem Buch.
— Ich kam erst gegen Morgen nach Hause — sagte er — ich bin todmüde. Ich habe mich schon seit einer Woche nicht richtig ausgeschlafen und kann noch keinen Schlaf finden.
— Was liest du denn?
— Ich lese einen utopischen Roman. Weißt du, ein Buch, in dem beschrieben wird, wie die Menschen unter dem Sozialismus leben werden.
— Woher will das der Autor wissen?
— Er weiß es nicht, er schreibt nur so, wie er sich die Dinge vorstellt — wie er es gern haben möchte.
— Ja. Ich habe auch schon ein solches Buch gelesen, nur weiß ich nicht, was für einen Sinn solche Phantasien haben?
— Sag mal, hast du nicht, als du gefangen warst, oft daran gedacht, wie gut es wäre, jetzt zu essen, spazieren zu gehen oder zu baden, hast du nicht an Frauen gedacht? Nicht wahr? — Der dieses Buch schreibt, der geht noch weiter, er stellt sich vor, wie schön es wäre, wenn alle Arbeitenden frei würden.
— Glaubst du denn auch, dass der Sozialismus so aussehen wird, wie er hier beschrieben ist?
— Ach wo. Wie er aussehen wird, weiß ich nicht, aber das weiß ich, dass er nicht so aussehen wird, wie sich das einer zwischen seinen vier Wänden, am Schreibtisch sitzend, ausgedacht hat. Nein, nein, so wird der Sozialismus nicht aussehen. Weißt du, die Sache steht irgendwie so — nimm doch eine Zigarette — du warst vielleicht auch mal in einer solchen Situation, — dass du an eine Frau gedacht hast, die du nie gesehen hast,
die niemand gesehen hat----------Sie war wunderschön,
sehr klug, gütig wie eine Mutter und liebte dich unendlich. Wir dachten solange an diese vollkommene Frau, bis wir uns tödlich in sie verliebten. Dann kam eine andere Frau: sie war nicht so schön wie diese, sie war nicht so klug und auch nicht so gütig, trotzdem liebten wir sie hundertmal mehr als jene. Wir vergaßen die andere Frau — die Erträumte — , denn die hier war Wirklichkeit: Fleisch und Blut. So ungefähr steht es auch mit dem wirklichen Sozialismus und mit dem, den man sich in der Phantasie vorstellt.
— Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Wann denn auch? Heute ist das Wichtigste, dass wir siegen.
— Gewiss, das Wichtigste ist, dass wir siegen, aber wozu würden wir uns schlagen, wenn wir nicht um ein höheres Ziel kämpften? Was es heute gibt, ist schlecht. Das kann man mit Entschiedenheit behaupten. Aber ich würde doch kein Gewehr ergreifen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass das, was wir erstreben, gut sein wird.
Otto wirkte jetzt etwas fremd auf mich. Was er nachher sprach, verstand ich nicht ganz. Während er mir die Vorteile der sozialistischen Produktionsweise breit erklärte — hatte ich genügend Zeit, mich im Zimmer gründlich umzusehen. Die Wohnung war wie eine Bibliothek, an den vier Wänden standen mächtige Bücherregale bis an die Decke, und alles war voll mit Büchern. Neben dem Bett und auch auf dem Teppich lagen Bücher und Zeitungen — und auf dem Schreibtisch erhob sich ein wahrer Berg von Büchern. Außer den Büchern befand sich auf dem Schreibtisch eine Bronzefigur: eine nackte Frauengestalt, ohne Arme. Mir gefiel die Statue nicht, sie passte gar nicht zu den Büchern.
— Vielleicht steckst du den Spirituskocher an — sagte Otto. — Ich ziehe mich an, dann können wir eine Tasse Tee trinken. Erzähle mir inzwischen, wie du eigentlich hierher gekommen bist. Vor einer Woche schrieb Hubchen noch, dass wenig Hoffnung besteht, dass du bald frei kommst.
Bis das Teewasser kochte, erzählte ich Otto ausführlich die Geschichte meiner Befreiung. Er lachte laut auf, als ich erzählte, wie ich Nemes nasführte — als ich dann mit meiner Erzählung fertig war, schwieg er lange.
— Hör mal — Peter — begann er, — diese wilden, unorganisierten Aufstände sind sehr gefährlich. Man müsste die Dinge ganz anders anfassen. —
Später sprach Otto von den Geschehnissen in Budapest. Von ihm erfuhr ich, dass Gyulai wegen Aufwiegelung zum Mord von der Beregszaszer Staatsanwaltschaft gesucht wurde. Gyulai befand sich nicht in Budapest. Vor kurzem war er unten in Salgotarjan, und er wird auch von dort aus gesucht. Er arbeitet aber ruhig weiter in einer anderen Provinzstadt. Wo er ist, das sagte Otto nicht, und ich fragte ihn auch nicht. Wir hatten besprochen, dass ich zu Pojtek nach Neupest hinausfahren sollte, vielleicht kann er mich in eine Fabrik hineinbringen. Dort kann man die beste Arbeit leisten — dort wird der Kampf entschieden.
Pojtek wohnte in der Oesz-Gasse, er bewohnte ein Zimmer mit Küche in einer Hofwohnung im zweiten Stock, Ihn selbst traf ich nicht, aber seine Frau mit zwei kleinen Kindern war zu Hause.
Die Frau empfing mich sehr misstrauisch.
— Sie waren auch russischer Kriegsgefangener? — fragte sie.
— Nein. Ich war nicht in Kriegsgefangenschaft.
— Woher kennen Sie Dani?
— Wir waren heim Militär zusammen.
— In welcher Angelegenheit suchen Sie ihn?
— Ich wollte ihn nur besuchen. Wann kommt er nach Hause?
— Er arbeitet in der Fabrik. In einer kleinen halben Stunde kommt er zum Essen nach Hause — wenn er nicht wieder eine Sitzung hat. Diese ewigen Sitzungen — seufzte die Frau und warf neue Kohlen in den Herd, auf dem sie Mittag kochte. — Zwar interessiert sich Dani nicht besonders für Politik — fuhr sie fort, und ihr Gesicht wurde rot bei diesen Worten. Er politisiert nicht, er geht nur dann zu den Sitzungen in der Fabrik, wenn es unbedingt sein muss.
— Ich weiß es — sagte ich — , kann ich auf ihn warten?
Die Frau zuckte mit den Achseln.
— Wenn Sie wollen. Setzen Sie sich.
Sie stellte einen Stuhl auf die Schwelle zwischen der Küche und dem Zimmer. Ich setzte mich hin, sie machte ihre Arbeit weiter. Frau Pojtek war eine kleine, magere Frau, dünn und blass. Sie hatte ein nettes Kleid an, wahrscheinlich hatte sie es selbst genäht, im Zimmer stand die Nähmaschine. An den Füßen hat sie Männerschuhe. Im Zimmer glänzt alles vor Reinlichkeit. Auf dem Tisch sind einige dicke Bücher sorgfältig aufeinander gelegt.
— Du darfst nicht ins Zimmer — sagte Frau Pojtek streng zu einem der Kinder, zu dem Jungen, der zwischen meinen Beinen in das Zimmer kriechen wollte.
Ich nehme den Jungen auf den Schoß und frage ihn, wie er heißt.
— Vater hatte abends niemanden hier — antwortete
er — und sie sprachen über nichts. Und alle Onkels sprachen ungarisch.
Ich sehe das Kind verlegen an, dann die Frau. Frau Pojtek lacht, hält aber ihre Hand vors Gesicht, damit ich es nicht merke.
— Lass den Onkel in Ruhe, und wenn du nicht gefragt wirst, sprich nicht! — sagt sie zum Kind.
— Aber Vater hat’s ja gesagt — verteidigt sich das Kind. Die Mutter blickt das Kind scharf an, so dass es sofort schweigt, und so konnte ich auch nicht erfahren, was Vater gesagt hatte.
Pojtek kommt nach Hause. Er ist guter Laune — umarmt mich. Die Frau sieht mich verlegen an, dann blickt sie auf Pojtek, dann wieder auf mich. Sie wird rot und reicht mir die Hand.
— Ich dachte, Sie kommen von der Polizei — sagte sie und senkte die Augenlider.
Pojtek lachte laut auf.
— Das habt ihr doch nicht gedacht?
— Gewiß. Sogar Lajcsi glaubte es. Das ist auch kein Wunder. Du hast uns den Kopf so voll geredet, dass wir acht geben sollen, dass ich jetzt meinen eigenen Vater mit Mißtrauen ansehe.
— Na, setzen wir uns hin. Ich denke, es reicht auch für den Gast?
— Wenn er sich mit dem begnügt, was wir essen------
— Er ist nicht verwöhnt.
Pojtek nahm sich nicht viel Zeit zum Essen. Kaum hatte er den letzten Bissen geschluckt, stand er vom Tisch auf.
— Ich hab’s eilig — sagte er — Peter, du kommst mit mir!
— Du gehst schon wieder fort. Seitdem du zurück bist, warst du noch keinen Abend zu Hause. Du kommst nur zum Essen und zum Schlafen und auch das nicht immer.
Pojtek streichelte seiner Frau über das Haar, küsste die Kinder, eine andere Antwort gab er nicht auf den Vorwurf.
— Wir beginnen heute mit der Hausagitation — sagte er zu mir, als wir auf der Straße waren. Ich muss in vier Häusern sprechen.
Es war schon dunkel, als wir in das erste Haus — in den Hof einer zweistöckigen Mietskaserne — kamen. Der Hof war dreckig. Er roch nach faulem Kraut.
Pojtek stellte sich mitten in den Hof und begann aus voller Kehle
— Arbeiter, Frauen! Genossen! — Zwei Türen von Parterrewohnungen öffneten sich, auf den Galerien, die um die oberen Stockwerke herumliefen, wurde es auch lebhaft. Pojtek nahm eine kleine Glocke aus seiner Tasche, schüttelte sie tüchtig, dann brüllte er wieder los:
— Genossen!
— Na, was ist wieder los?
Ein dickes Weibstück näherte sich uns, die Hände in die Hüften gestemmt.
— Hausieren ist verboten — sagte sie mit einer schrillen Stimme, die gar nicht zu ihrer dicken Gestalt passte.
— Ich bin Abgesandter des Nationalrates, mein Kollege ist Mitglied des Soldatenrates — sagte Pojtek — Genossen!
— In diesem Haus wohnen lauter ehrliche, anständige Menschen. — Ich bin für alle verantwortlich — rief die dicke Frau dazwischen. — Wer nicht ordentlich zahlt, den setze ich auch ohne irgendeinen Rat raus.
— Um so besser. Also zur Sache! Genossen! Ich
bringe euch die Grüße der Sozialdemokratischen Partei Ungarns.
— Es wäre besser----------fing wieder die dicke Frau
an, scheinbar war sie im Hause nicht sehr beliebt, denn gleich fielen ihr zehn Leute ins Wort.
— Schon gut, Frau Portier! Sie können auch mal schweigen.
— Gewiß, Frau Timar wäre es lieber, wenn andere kämen!
— Die Militärgendarmen ließen Sie gern rein!
Die dicke Frau verschwand schnell im Hintergrund. Pojtek fing damit an, die revolutionäre Regierung bis in den Himmel zu loben. Einige Minuten hörten ihn die Leute ruhig an, aber dann kamen nacheinander verschiedene Protestrufe.
— Was hat uns diese vielgerühmte Revolution gegeben?
— Wir haben jetzt weniger zu essen, und alles ist noch teuerer als im Krieg!
— Heute spielen immer noch die Reichen die Herren, die Armen sind schlechter dran als die Hunde!
— Wenn das so ist, so liegt es nur an den Arbeitern, damit es anders wird. Die russischen Arbeiter haben gezeigt, wie es gemacht wird; was steht denn dem im Wege, dass wir es ebenso machen wie die Russen. Nichts anderes als unsere Feigheit. Oder die Unwissenheit, denn viele Arbeiter wissen noch immer nicht, was in Russland vorgeht. Vielleicht wüsste ich es selbst nicht, wenn ich nicht gerade aus der Kriegsgefangenschaft käme. In Sowjetrussland steht die Sache so----------
Pojtek sprach eine gute halbe Stunde über Sowjetrussland.
Etwa dreißig Menschen sammelten sich in dem finsteren Hof um uns herum und auch von oben hörten einige zu. Als Pojtek zu Ende war, klatschten sie ihm Beifall, brachen in Hochrufe aus, aber sie waren nicht dazu zu bringen, dass sie etwas fragten, oder dass sie sich in eine Debatte einließen.
Noch in zwei anderen Häusern ging es ähnlich, aber im vierten Haus gelang es nicht, die Leute zusammenzubringen, denn inzwischen hatte es leise zu regnen begonnen — dünne Schneeflocken und rieselnde Regentropfen fielen und vermengten sich mit dem Dreck und dem Kot, der vom gestrigen Regen zurückgeblieben war.
— Gehen wir zu Lehotai, zum ersten Vertrauensmann unserer Fabrik — sagte Pojtek — er kann vielleicht etwas für dich tun.
Wir trafen Lehotai nicht zu Hause. Wir beschlossen, dass ich am nächsten Tag mit in die Fabrik kommen und dort mit ihm sprechen sollte.
Die Nacht verbrachte ich bei Pojtek. Die Frau machte mir in der Küche das Bett zurecht.
Ich ging gegen 9 Uhr in die Fabrik, — wie es mit Pojtek besprochen war.
Die Mautnersche Lederfabrik befindet sich auf dem Vaczer-Weg — mit der Rückseite nach der Donau zu. Das Tor ist geschlossen, nur eine schmale Tür ist offen. Hinter der Tür steht ein kleines Häuschen, der Raum für den Portier. Die Tür steht offen. Ich sah hinein, um zu fragen, wohin ich mich wenden sollte, aber es war niemand da. Ich ging weiter. Hinten im Hof standen sämtliche Arbeiter auf einem Fleck. Sie hielten scheinbar irgendeine Versammlung ab. Der Redner sprach von einem Balkon aus. Ein kleiner, schwarzer Mann, der mit den Armen herumfuchtelte wie ein Kind, das eine Windmühle nachahmt.
---------der Gewerkschaftsrat, ich glaube, es ist keiner
den Genossen, der nur einen Augenblick daran zweifelt, der Gewerkschaftsrat verteidigt mit aller Kraft jede berechtigte, jede erreichbare Forderung der Kollegen, aber — gerade im Interesse der Kollegen — erhebt er Einspruch gegen jede übertriebene, gegen jede unerreichbare Forderung.
Ein betäubender Lärm ist die Antwort. Der kleine, schwarze Mann fuchtelt wütend herum, aber erst nach Minuten gelingt es ihm, sich wieder Gehör zu verschaffen.
— Kollegen, wir müssen uns die Sache wohl überlegen, wir müssen wohl berechnen, wohl beurteilen, was zu erreichen ist. Wenn wir mit Gewalt so hohe Löhne fordern, die die Produktion für den Arbeitgeber — sozusagen zwecklos machen, setzen wir uns der Gefahr aus, dass die Arbeitgeber bei einer Streikdrohung mit der Einstellung der Produktion antworten — das heißt, dass wir vernichtet —
Fäuste hoben sich in die Luft — die Zuhörer übernahmen das Wort. Ein unaufhörliches, wütendes, ungebändigtes Brüllen war die Antwort der Masse. Der Redner sprach nur noch mit den Händen.
Die Versammlung war zu Ende, aber die Arbeit wurde nicht aufgenommen.
— Der Fabrikant wird mit Einstellung der Produktion drohen? — wir sozialisieren die Fabrik — schrie Pojtek, auf einer Kiste stehend.
Zustimmung.
— Wenn sich der Gewerkschaftsrat hinter den Unternehmer stellt -------
Zustimmung und Proteste.
Der Protest ist stärker als die Zustimmung, Pojtek kann nicht weiterreden.
— Die Fortführung der Arbeit ist im Interesse der Revolution — begann ein Arbeiter im Militärrock, der an Pojteks Stelle trat. — Das russische Beispiel hat gezeigt, dass die Sozialisierung des Elends---------
Der Redner kann auch nicht weitersprechen, seine Worte ersticken in dem furchtbaren Lärm, der folgt, und die Frau, die nach ihm sprechen will, kann nicht beginnen. Alles schreit, alles läuft hin und her: es wird weder für noch gegen den Gewerkschaftsrat gesprochen, weder für noch gegen die russische Revolution. Alle sind unzufrieden und kampfentschlossen, aber keiner weiß genau, gegen wen und wofür er kämpfen soll.
Es wurde Mittag, als mich Pojtek endlich mit Lehotai zusammenbrachte.
— Das ist der Genosse, von dem ich Ihnen sprach, Genosse Lehotai.
Lehotai ist der Arbeiter mit dem Militärrock, der von der Kontinuität der Arbeit gesprochen hat. Er nickte mit dem Kopf.
— Ja, ja ich weiß — sagte er. — Ich habe mir die Sache überlegt, Genosse Pojtek, ich würde sehr gern etwas im Interesse des Genossen tun, aber augenblicklich geht es leider nicht. Es ist unmöglich, jetzt neue Leute bei uns einzustellen. Wo brauchen wir jetzt Schlosser?
— Im Maschinenhaus.
— Da sind jetzt schon mehr als nötig.
— Und doch geht die Sache nicht richtig.
— Das ist wahr. Aber wenn zwanzigmal soviel Arbeitskräfte da wären, würde es auch nicht besser gehen. Sie sehen doch, arbeiten will niemand, und reden kann man auch nicht mit den Leuten. Das Ende vom Lied wird sein, dass wir alle arbeitslos werden.
— Hm. So einfach lässt sich die Sache nicht machen. Sie sehen doch: der Gewerkschaftsrat findet die neuen Lohnforderungen auch zu hoch-----------
— Der Gewerkschaftsrat hielt auch die Streiks gegen den Krieg für Wahnsinn-----------
— Lassen wir das, Genosse Pojtek, es ist wirklich nicht
nötig, durch Aufwühlen von alten Dingen die ohnehin schon schwierige Situation noch mehr zu belasten. Was den Genossen anbelangt — an mir soll es nicht liegen — ich will's versuchen, zwar-----------Haben Sie ein Arbeitsbuch? — wandte er sich jetzt zu mir.
— Ich habe jetzt nichts anderes bei mir, als dieses — sagte ich und gab Lehotai meine Militärlegitimation hin.
— Peter Kovacs, Nameny — las Lehotai laut. — Nameny. Hm. Nameny. Wo liegt eigentlich Nameny.
— Im Bereger Komitat.
— Ja, ja. Ich habe dieser Tage im Zusammenhang mit diesem Ort etwas gehört oder gelesen. Ja, natürlich.
Dabei zog er die „Nepszava" aus der Hosentasche und blätterte nervös in der Zeitung; als er endlich die Stelle fand, die er suchte, deutete er mit dem krummen Zeigefinger darauf und gab mir das Blatt in die Hand. Ich las den Bericht, auf den Lehotai hingewiesen hatte: in dem Bericht stand, dass der in Nameny geborene, neunzehnjährige, entlassene Honvedsoldat Peter Kovacs von der bergszaszer Staatsanwaltschaft Avegen Mitschuld an Mord und Raub gesucht werde. Peter Kovacs habe geplündert und in Gemeinschaft mit einigen kürzlich aus Russland zurückgekehrten Kriegsgefangenen den Namenyer Notar Okulicsanyi ermordet, er sei, nachdem er vor dem Untersuchungsrichter unter den belastenden Beweisen zusammenbrechend, seine Schandtat zugegeben habe — aus dem Gefängnis entwichen.
Plötzlich hatte ich ein Gefühl, wie wenn sich mir der Magen umdrehte. Der Fabrikhof kreiste vor meinen Augen.
— Komm doch zu dir — sagte Pojtek und sah mich scharf an, dann nahm er mich am Arm, wie wenn er Angst hätte, dass ich hinfiele. — Komm, wir trinken einen Tee.
Lehotai ging mit uns in die Kantine, aber er sprach kein Wort. Pojtek las den Bericht erst, als wir am Tisch saßen, er schüttelte verwundert den Kopf und gab dann Lehotai die Zeitung wieder zurück.
— Was denken Sie, Genosse Lehotai, kann man den Jungen in die Fabrik hineinbringen. —
Lehotai starrte Pojtek, dann mich mit weitaufgerissenen Augen an, man merkte, dass ihm sehr unbehaglich zumute war.
Pojtek wiederholte seine Frage, aber er bekam auch jetzt keine Antwort. Lehotai reichte, ohne ein Wort zu sagen, erst Pojtek, dann mir die Hand, darauf ging er fort.
— Na, ist dir jetzt besser? — fragte Pojtek.
— Dieser Schurke Nemes ist zu allem imstande — sagte ich.
— Das glaube ich schon, aber das ist doch kein Grund, den Kopf zu verlieren. Du nimmst einen neuen Namen an, das ist vorläufig alles, was du zu tun hast. Otto kann dir bestimmt die nötigen Papiere verschaffen. Jetzt geh' zu mir nach Hause und warte dort auf mich. Am Abend besprechen wir das weitere.
Ich verbrachte den ganzen Tag in Pojteks Wohnung. Frau Pojtek hatte jetzt das größte Vertrauen zu mir, sie weinte mir all ihr Elend vor. Ich war nicht in der Stimmung, sie zu trösten, ich hörte ihr ruhig und geduldig zu. Während des Krieges war Pojtek zweimal verhaftet worden, dann wurde er zum Militär eingezogen. Fast ein halbes Jahr ließ er nichts von sich hören und jetzt, nach seiner Rückkehr, ist er auch nur als Gast zu Hause. Die Kinder kennen ihn fast nicht mehr, und sie, die Frau-----------
— Und wenn dieser aufreibende Kampf nur einen sichtbaren Erfolg aufwiese. Aber was hat uns die Revolution gebracht? Gehen Sie doch mal auf den Markt hinaus, hören Sie, was die Frauen sagen. Wir lesen nicht soviel wie die Männer, wir gehen nicht so oft zu Versammlungen, aber wir wissen am besten, dass das Leben heute viel schwerer und unerträglicher ist als vorher-----------
Gegen Abend fuhr ich mit Pojtek nach Budapest, wir suchten Otto auf. Er war derselben Meinung wie Pojtek: ich sollte mich keinesfalls bei der Staatsanwaltschaft melden, denn ich würde auf alle Fälle verhaftet, im besten Fall in Untersuchungshaft genommen.
— Die Kun-Gruppe ist in Budapest — erzählte Otto. Pojtek begleitete mich zu dem Genossen, den ihm
Otto genannt hatte. Am Nachmittag des nächsten Tages erhielt ich die neuen Legitimationspapiere. Mein Name lautete jetzt Andras Zipes, geboren in Brasso, einundzwanzig Jahre alt, als Kanonier entlassen.
Um die Sache glaubhaft zu machen, zog ich mir Goldmanns Artillerieuniform an.

Der Himmel ist fahlgrau, die blasse Sonne kriecht müde ihre Bahn; sie kann mit dem Leben nicht mehr Schritt halten. Versteckt sich hinter den bleiernen Wolken, schließt die Augen zu, will nichts sehen. Sie versteht ohnehin nichts mehr: von morgens bis abends, und von abends bis morgens verändert sich das Bild der Welt mehr, als früher in langen, langsamen Jahren.
Wie jemand, der im Expresszug fährt und die vorbeirennenden Telegraphenstangen als eine einzige Stange sieht — so floss auch hier alles ineinander: groß und klein, schwarz und rot, Hunger und Ekel, Verzweiflung und Hoffnung.
Die Rumänen sind in Siebenbürgen. Sie rücken immer näher nach Westen, in Richtung auf Budapest.
Die Tschechen steigen von den Karpathen herab. Sie versprechen den Bauern Boden, sie ziehen Soldaten ein. Sie kommen, sie kommen nach Süden zu, in Richtung auf Budapest!
Die Serben haben die Save überschritten, sie kommen immer näher nach Osten, in Richtung auf Budapest. Die Stadt ist von Flüchtlingen überflutet. Michael Karolyi wird Präsident der Volksrepublik. Genosse Minister Sigmund Kunfi:
— Stellen wir für sechs Wochen den Klassenkampf ein!
Von den Mauern brüllen Tausende von Plakaten:
Die Sozialdemokratische Partei Ungarns-----------
Die Republikanische Partei-----------
Die Partei der Radikalen----------
Der Präsident des Nationalrates sagte----------
Lesen sie „Den Menschen"! „Der Mensch" ist die
sozialdemokratische Wochenschrift, Herausgeber Franz
Göndör.
Lesen sie die „Schlachtbank"! „Die Schlachtbank"
enthüllt die Liebesabenteuer der Erzherzogin----------
Das Tagebuch eines Militärdeserteurs----------
— Ich, Gräfin Anna Hadik, war immer Sozialistin ----------
Der Hafen geplündert! Die Schiffe in Brand gesteckt!
Eine Landkarte von Ungarn — im Norden, im Osten, im Süden, überall beißt irgendein riesiges Maul ein Stück Land ab, die abgebissenen Teile brennen in lodernder Flamme.
Nein, nein! Niemals!
Joseph Pogany, Präsident des Soldatenrates.
Gegenrevolution! Tod der Gegenrevolution!
Soldaten marschieren die Andrassy-Strasse entlang.
Budapester Garnison jagt den Kriegsminister fort. KUN BELA.
Die Kommunistische Partei Ungarns. Rotes Echo! „Vörös Ujsag"! Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Ungarns.
Vix, französischer Major.
Die Franzosen sind Karolyis Freunde.
Französische farbige Truppen — afrikanische Spahis .— kommen nach Budapest.
Die Franzosen scheißen auf Karolyi.
Die revolutionäre Volksrepublik verbietet die „Vörös Ujsag".
Hoch die Demokratie!
An jeder Straßenecke brüllt es „Vörös Ujsag".
Streik am Vaczer-Weg.
Vortrag Bela Kuns: Wilson und Lenin.
Die Diktatur des Proletariats.
Die Kommunisten sind linke Gegenrevolutionäre.
Alle Macht den Räten der Arbeiter, Bauern und Soldaten !
Agenten Moskaus!
Sozialisierung!
Linke Gegenrevolutionäre.
Rollende Rubel.
Offiziere schießen auf Tibor Szamuely.
Offiziere geben Feuersalven auf Bela Kun ab.
Der gewesene Minister für Nationale Verteidigung wird interniert.
Der Finanzminister — ein bürgerlicher Radikaler — spricht von einer Vermögenssteuer, „deren Ausmaß in der Weltgeschichte beispiellos dasteht".
Der Handelsminister — der Sozialdemokrat Garami — schenkt den Fabrikanten Millionen.
Bauern besetzen die Landgüter — von über zehntausend Morgen. —
Bauernrevolution?
Freiwillige Truppen gegen die Bauern.
Alle Macht den Räten der Arbeiter, Bauern und Soldaten!
Paris hilft! Paris! Paris!
Wilson!
Moskau!
Lenin!
In das Sekretariat der Partei, in der Visegrader Gasse, kam ich nur selten. Die Zeitungen und Flugblätter erhielt ich in einer Privatwohnung. Dort wurden ich und noch neun andere junge Arbeiter zu Agitatoren ausgebildet. Diese Wohnung gehörte einem Offizier, der erst kürzlich aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und der jetzt — auf Befehl der Partei — Mitglied des Vereins der Erwachenden Ungarn war. Er vermittelte mir den Befehl, dass ich in den Verein der entlassenen Frontsoldaten einzutreten habe.
Unter den entlassenen Soldaten zu arbeiten, war nicht schwer.
Als sie von der Front zurückkamen, durften sie sich einmal vollfressen, bekamen ein paar Kronen und dann war’s aus mit dem Heldenlohn. Sie waren entlassen. Arbeit gab es nicht und es waren viele unter ihnen, die sich nicht gerade um die Arbeit rissen. Weiterziehen, Budapest verlassen ging schlecht, das Land wurde von Tag zu Tag kleiner, und jeder einlaufende Zug brachte neue und neue Massen von Flüchtlingen in die Stadt.
— Im Schützengraben drohte uns der Tod, hier zu Hause droht uns auch der Tod — der Hungertod. Da ich sonst nichts zu tun habe, kann ich mir den Kopf darüber zerbrechen, wo es angenehmer zu krepieren ist: hier oder dort.
— Du bist sehr verbittert, Bruder.
— Ich habe allen Grund. Die Revolution ist da, alles was wir von der Revolution haben, ist, dass wir die Regierung hochleben lassen dürfen, eine Regierung, die nicht dran denkt, uns zu helfen.
— Das ist nicht richtig. Sie würde gern helfen, es
fehlen ihr aber die Mittel. Wie soll sie helfen?
— So? Sie hat keine Mittel? Die Regierung soll uns eine einzige Straße bezeichnen, nur eine einzige Straße,
wo die Reichen wohnen, und wir holen in einer einzigen Straße nicht nur alles, was wir brauchen, sondern wir stellen auch die Regierung auf die Beine.
— Wenn wir rauben gehen, ändern wir die Dinge
nicht.
— Aber mit Hurraschreien, und mit Tücherschwenken noch weniger.
— Wir müssten die Rumänen und die Tschechen aus dem Lande jagen.
— Das müssen wir dem rumänischen und dem tschechischen Volk und ihren Soldaten überlassen, die werden schon mit ihren Herren fertig werden. Wir müssen bei uns Ordnung schaffen.
Unbewaffnet zogen wir über die Andrassy-Straße. In unendlichen Reihen marschierten die abgerissenen, unbewaffneten Soldaten auf. Wir sprachen kein lautes Wort, taten keinem ein Leid an, wir rührten keinen Finger, und doch flüchteten die spazierenden Damen und Herren unter die Haustore vor uns, und die Rollläden der prunkvollen Geschäfte wurden eiligst heruntergelassen, als wir nahten.
Auf den Militärmänteln klebte noch der Schmutz aus den Schützengräben. Viele, die die Hölle vergessen möchten, tragen Zivilhüte zu den dreckig grünen Militärmänteln. Wir marschieren nicht so stramm vorwärts wie in der Soldatenzeit, wir schleppen die zerrissenen Militärschuhe etwas müde daher. Die Krücken aber klopfen laut auf dem nassen Asphalt der Straße. Wir haben nur eine Fahne: Goldmann hat eine vom Regen verblasste rote Fahne mitgebracht.
Von einer Mauer schreit ein riesiges Plakat:
Arbeiter, wir haben kein Brot!
Gebt uns Arbeit! — brülle ich aus voller Kehle und die lange Menschenschlange bricht in wahnsinnigem Schrei aus:
— Arbeit! Arbeit!
Die vor uns flüchten, rennen angstvoll weiter, wie wenn wir die Pest hätten.
— Arbeit! Wir wollen Arbeit!
Wo wir vorbeiziehen, leeren sich die Straßen. Die Brücke, die nach Ofen, zum Nest der Regierung führt, halten Polizisten besetzt.
— Wir müssen die Halunken erschlagen!
— Los! Mit der bloßen Hand erwürgen wir die Kerle!
Zurück! Zurück! Genossen! — brüllt ein alter Feldwebel. — Wartet, morgen gehen die Polizisten auch mit uns! Zurück!
— Zurück! Zurück!
Ich weiß selbst nicht, wieso und weshalb der Zug plötzlich schwankt. Wir bleiben stehen. Wir verhandeln. Ein Kurier wird in die Burg geschickt, wir warten ruhig seine Rückkunft ab. Die Polizisten sind unruhig, sie befürchten etwas. Die Offiziere zeigen sich nicht. Wir warten — ich verstehe heute noch nicht, weshalb — , aber wir warten geduldig.
— Der Genosse Kriegsminister will nur die Führer empfangen.
Das wird angenommen. Die anderen warten! Etwa zwanzig Mann wurden in die Burg hineingelassen.
Man führte uns in ein riesiges, prunkvolles Zimmer der königlichen Burg. Irgend jemand flüsterte hinter mir, dass in diesem Zimmer früher die Königin Elisabeth gewohnt habe. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, aber es ist ja auch nicht wichtig. Das aber ist sicher, dass der Fußboden glänzte wie ein Spiegel, und dass, als Goldmann ausspuckte, ein Wachtmeister sofort eine Reinemachefrau holte und es aufwischen ließ.
Gleichzeitig mit der Reinemachefrau kam Böhm, der sozialdemokratische Kriegsminister, herein. Ein kleiner, schlanker Mann, mit schwarzem Haar. In grauem Zivilanzug und braunen Schuhen. Unrasiert, müde und nervös.
— Na? Ich höre die Genossen an, aber immer nur einer auf einmal.
Das wissen wir selbst. Goldmann sagt, was wir wollen. Wir haben genug von den Versprechungen, jetzt wollen wir bare Münze sehen: Wir verlangen von der Regierung für jeden abgerüsteten Soldaten dreitausendsechshundert Kronen.
Böhm hörte anfangs ruhig zu, aber bald ging ihm die Geduld aus, und er protestierte mit Kopf- und Handbewegungen gegen Goldmanns treffende Argumente.
— Es genügt! Es genügt mir schon! Ich verstehe die Unzufriedenheit der entlassenen Soldaten, ich fühle mit den Not leidenden Soldaten, mit den Opfern des Militarismus, wie kein anderer, aber die Soldaten müssen endlich verstehen, dass sich die Volksregierung selbst in einer sehr schwierigen Situation befindet. Solche übertriebenen, undurchführbaren Forderungen sind letzten Endes Wasser auf die Mühle der Gegenrevolution. Im Interesse der Revolution müssen sie ein wenig entbehren lernen----------
— Gut, gut — sagte Goldmann----------Nur noch das
eine wollen Sie uns, lieber Genosse, erklären, warum gerade wir hungern müssen, wenn die Bourgeoisie alles besitzt, was nur Auge und Mund begehrt? Der Sozialismus----------
— Mich braucht niemand über Sozialismus zu belehren — sagte Böhm zornig und sein Gesicht wurde rot vor Wut — lernen Sie lieber etwas von mir. Lesen Sie erst Marx und Kautsky, dann können Sie mit mir debattieren, vorher nicht. Was die Lage der entlassenen Soldaten betrifft, — ich bitte Sie, verhalten Sie sich ruhig, hören Sie mich geduldig an, ich spreche über Ihre Angelegenheiten — was also die Not der abgerüsteten Soldaten betrifft, wird die Regierung alles versuchen, diese Not zu lindern, aber die Volksregierung wird sich mit aller Kraft dagegen wenden, dass diese Not von wem auch immer für dunkle politische Ziele missbraucht wird. Ja. Ich denke, dass jeder vernünftige Mensch einsehen wird, dass wo nichts ist, auch der Herrgott selbst nichts nehmen kann.
— Richtig, richtig — antwortete Goldmann — aber das ist Gottes Angelegenheit. Wir, lieber Genosse, wollen nicht nehmen, wo nichts ist, sondern dort, wo es viel gibt. Die Regierung bezeichne uns nur eine einzige Straße----------
Darauf kehrte sich Böhm — wie ein Soldat auf Befehl — stramm um und verließ uns ohne ein weiteres Wort. Einige Augenblicke standen wir ratlos auf dem spiegelklaren Fußboden und wir hätten uns wohl nicht sobald zum Gehen entschlossen, wenn nicht durch die Tür, hinter der Böhm verschwunden war, ein blonder Husarenhauptmann erschienen wäre. Der Hauptmann winkte mit der Hand, wir sollten still sein, denn jetzt wolle er sprechen.
— Der Herr Kriegsminister — sagte der Hauptmann — ist so ungeheuer beschäftigt, dass er den Herren nicht weiter zur Verfügung stehen kann. Das Verlangen der abgerüsteten Soldaten wird der Herr Minister dem Ministerrat vorlegen.
Nach dem Hauptmann kamen noch etwa ein Dutzend Offiziere in das Zimmer und einige Unteroffiziere. Alle waren bewaffnet.
Was konnten wir tun — ohne zu mucksen, scherten wir uns aus dem Zimmer.
— Verfluchte Bande — sagte Goldmann, als wir die Treppe hinuntergingen— , wir werden's ihnen schon zeigen!
— Was willst du tun?
— Du wirst schon sehen!
Als wir zur Brücke gelangten, war unser Heer auseinander geraten. Aus den Abendzeitungen erfuhren wir, dass ein Teil in die Redaktion einer bürgerlichen Zeitung eingedrungen war. Eine andere Gruppe zog in die Visegrader-Gasse — der größte Teil war schon ruhig nach Hause gegangen.
— Das sind keine zuverlässigen Revolutionäre — brummte Goldmann vor sich hin.
— Wir sind aber auch keine patenten Führer — sagte ich.
Ende Februar verbrachte ich drei Tage in Miskolcz. Ich hatte dort eine Arbeit, die ich nicht abbrechen konnte, auch dann nicht, als ich die ersten Nachrichten über die Budapester Vorfälle erhielt, Die erste Nachricht sprach davon, dass die Arbeitslosen die „Nepszava", die Redaktion des sozialdemokratischen Parteiorganes,
gestürmt hätten------Als ich mich in den Zug setzte,
erfuhr ich, dass es bei der Demonstration auch Tote und Verwundete gegeben hatte: sieben Budapester Polizisten waren bei der Verteidigung der Sozialdemokraten gefallen. Ich muss sagen, mir brach nicht gerade das Herz darüber, ich hatte auch keine Ahnung, welche Folgen diese blutige Demonstration haben würde.
Erst in Budapest erfuhr ich, dass die Volksregierung eine Hetzjagd gegen die Kommunisten veranstaltet hatte, und jeden, den sie erwischen konnte, einsperren ließ. Die Polizisten hatten die Verhafteten blutig geschlagen.
Meine Wirtin warf mich sofort hinaus. Aus ihren Schimpfreden erfuhr ich, dass auch ich von Kriminalpolizisten gesucht wurde.
Daraufhin verduftete ich und ging auf die Pester Seite hinüber; aber dort wusste ich nicht, was ich beginnen sollte. Endlich entschloss ich mich, zu Pojtek zu gehen.
Die Frau empfing mich mit verheultem Gesicht.
— Dani ist verschwunden. Seit zwei Tagen wissen wir nichts von ihm.
— Er wird verhaftet sein!
— Das nicht, die Polizei sucht ihn noch immer. Sie kommt zwanzigmal am Tag hierher.
— So?
Da war ich auch schon auf der Straße und stieg in die erste Straßenbahn, die zur Stadt fuhr.
— Diesen Halunken ist nichts heilig. Sieben unschuldige Menschen zu töten! Das sind wilde Tiere, das sind keine Menschen!
— Man muss diese Bande ausrotten, dass keine Spur von ihr übrig bleibt.
— Das hat unserem unglücklichen Land noch gefehlt. Wir haben keine Kohlen, keine Lebensmittel, ringsherum von Feinden umgeben, die riesige Arbeitslosigkeit, — wenn wir uns alle zusammenschließen, kommen wir auch kaum wieder auf die Beine und diese Mordbuben wollen noch im Trüben fischen. Schade, dass sie den Schuft Bela Kun nur halbtot geprügelt haben!
— Na, es wird ihm für das ganze Leben genügen, was
er bekommen hat. Der geht nicht mehr nach Moskau!
— In Neupest hat ein Tischler, der eben aus Russland
gekommen war, seiner Frau die Kleider ausgezogen und sie auf den glühenden Ofen gesetzt. Das sieben Monate alte Kind hat er durchs Fenster in den Schnee hinausgeworfen.
— Wir leben in schrecklichen Zeiten!
Am Westbahnhof stieg ich aus. Ich sah, dass die Leute irgend etwas angafften, sie bildeten eine Mauer auf beiden Seiten der Ringstraße, ich stellte mich mitten unter sie: elegant gekleidete Damen und Herren — brachen in Hochrufe aus, schwenkten Tücher, lachten, sprangen herum wie Straßenjungen.
Mitten auf der Straße marschierten Arbeiter unter roten Fahnen auf.
Musik.
Metallarbeiter mit riesigen Hämmern.
Fleischergesellen mit riesigen Äxten.
Musik.
Bauarbeiter mit Kellen.
Musik.
Es lebe die Sozialdemokratie — brüllt das Menschengewimmel.
— Nieder mit den Agenten Moskaus!
— Hoch! Eljeen!
— An die Laterne mit Bela Kun!
— Es lebe die Polizei!
Ich schlug mich mit schwerer Mühe durch das Menschendickicht, der Zug marschierte unmittelbar an mir vorbei. Arbeiter und Arbeiter, die unübersehbare Masse der Budapester Arbeiterschaft demonstrierte unter roten Fahnen gegen die Kommunisten.
— Es lebe die Sozialdemokratie! An den Galgen mit Bela Kun!
Die neben mir stehenden Herren und Damen tobten vor Freude. Noch nie sah ich etwas derart Niederträchtiges. Ich hatte ein schreckliches Ekelgefühl. Also, soweit waren wir gesunken?
— Nieder mit den Agenten Moskaus!
— Eljeeeen!
— Genosse Lipves!
Aus einer Gruppe, in der Holzarbeiter mit riesigen Stangen aufmarschierten, winkte mir Pojtek zu.
— Reih' dich ein, Bruder, wenn du schon nicht in deiner Gruppe bist.
— Kann man noch eintreten?
— Gewiß, jeder Arbeiter hat hier seinen Platz.
Der Anfang des Zuges staute sich irgendwo, wir mussten stehen bleiben. Als wir vom Hochrufen müde waren, kam langsam das Gespräch in Gang.
— Die Lage ist schwer, sehr schwer. Wir haben gesiegt, wir haben die Macht übernommen, und wenn wir’s uns überlegen, leben auch heute nur die gut, die auch vorher schon gut gelebt haben.
— Niemand kann sagen, dass der Lohn heute gering ist — entgegnete Pojtek.
— Der Lohn? — Lebt der Kollege heute vielleicht besser als vorher?
— Das kann ich gerade nicht sagen, aber wer kann heute gut leben in diesem unglücklichen, armen Land?
— Wenn wir’s uns überlegen, ist das Land nicht einmal so arm. Sehen Sie sich doch an, was für Brillantenohrgehänge die Frauen dort tragen. Oder sehen Sie sich den mit dem Trommelbauch an, den da mit dem aufgeknöpften Rock. Der hat doch eine Goldkette um den Bauch gespannt, so dick wie mein Arm.
— Wir können sie doch nicht ausplündern?
— Das gerade nicht, aber irgendwie müssen wir doch
die Sache anpacken.
— An die Laterne mit Moskaus Agenten! — brüllt der Herr mit dem Trommelbauch.
— Krepier, du Hund!
Zum Glück für den Dickbauch setzte sich in diesem Augenblick der Zug wieder in Bewegung. Die Musik spielte und wir sangen auch mit: — Auf Sozialisten, Schließt die Reihen Die Trommel ruft,
Die Banner weh'n —

Am Abend führte mich Pojtek zu Gyulai. Wir waren elf Mann und blieben bis Mitternacht zusammen.
— Am Vaczer-Weg haben die Arbeiter zwei Fabriken sozialisiert — erzählte Gyulai.
— Dieselben, die heute gegen uns demonstriert haben?
— Ja, dieselben. Soweit reicht die Parteidisziplin nicht. Du hast doch die Demonstration gesehen. Der
Prolet schlich nur gezwungen mit. Parteidisziplin —
Ein gefährliches Spiel wird hier getrieben. —
— Ja.
In derselben Nacht bekam ich noch eine wichtige Aufgabe. Ich musste einem kommunistischen Ingenieur helfen. Der Genosse Ingenieur richtete in einer Villa im Vorort Hüvösvölgy eine Radiostation ein. Die Regierung verfälschte systematisch die Nachrichten aus aller Welt, und die Partei wollte sich durch die Errichtung einer geheimen Radiostation von dem Nachrichtendienst der Regierung unabhängig machen.
Der Morgen dämmerte schon, als ich ins Bett kam.

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