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Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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IV.

Ich war noch nie in einem so voll gestopften Arresthaus gewesen. Von Liegen konnte keine Rede mehr sein, es war noch gut, wenn man nachts einen Sitzplatz auf dem Boden hatte. Aber wir waren trotzdem guter Laune, denn jetzt zerbrachen wir uns nicht die Köpfe darüber, wie wir für kurze Zeit hier herauskommen könnten, sondern alle hofften, dass binnen kurzem alle Gefängnistüren ein für allemal geöffnet würden. Der Krieg hat das Volk aufgeklärt — wer jetzt mit dem Bauernvolk unter einem Dach lebte, konnte sehen, dass diese vier Jahre eine mächtige Schule für das Volk gewesen waren. Heute war die entfernteste Ecke der Welt nur ein paar Schollen weit, und die Politik nicht mehr ein Sport der Herren, sondern — um nur ein einziges Beispiel zu erwähnen — der alte Vater Kecskes, ein Häusler vom Werkheimschen Gutshof, der mit seinem Enkel die Tiroler Berge in einem Schützengraben verteidigte und jetzt aus einer Essschale mit mir gegessen hatte — Vater Kecskes demonstrierte uns an seinen zehn Fingern, worauf die heutige Welt aufgebaut war, wie wenn er die Wissenschaft mit Löffeln gefressen hätte.
— Die Deutschen — sagte er oft — , die Deutschen, die sind unsere Verbündeten, deshalb ist es nicht gut, wenn es den Deutschen gut geht. Denn wenn die Deutschen große Siege haben, dann reißen auch unsere Herren ihr Maul auf. Aber wenn einmal den deutschen Verbündeten der Teufel holt, dann spucken wir nur auf unsere Herren, und da weinen die Scheißkerle. Deshalb sage ich: wenn der Franzose sich zusammennimmt und den Deutschen tüchtig drischt, dann tanze ich vielleicht auch bei Susis Hochzeit. Susi ist nämlich mein jüngstes Enkeltöchterchen. Anfang Dezember hat sie Hochzeit. Der Jani Danko, mit dem einen Arm, der ältere Sohn von Mihaly Danko, will sie heiraten. So ist's, wirklich — setzte Großvater Kecskes gerührt das Gespräch fort und drehte die Flügel des langen, grauen, herabhängenden Schnurrbarts.
— Reißen Sie sich doch nicht Ihre zwei Katzenschwänze heraus, Vater Kecskes.
— So ist's wirklich, Anfang Dezember — sprach der Alte weiter. — Ein feiner Kerl ist der Jani. Einen Arm hat er bei den Russen gelassen, aber — ob ihr mir's glaubt oder nicht — mit der einen Hand ist er ein tüchtigerer Bursche, als so manche Schlappschwänze mit zwei gesunden Armen.
— Und was fangen jetzt die Russen mit Janis Arm an? — fragte einer.
— Lasst die Russen in Ruh! — sagte Vater Kecskes und hob seinen Weichselpfeifenstiel hoch. — Wir dürfen die Russen nicht beleidigen, wir müssen von den Russen lernen. Denn überlegt euch: wir sind doch auch nicht die Schlechtesten, und doch warten wir und raten wir mit in den Schoß gelegten Händen, wann dieses Weltschlachten zu Ende geht. Wir warten, wir rechnen hin und her, wir schimpfen auf die Deutschen, aber das ist auch alles. Anders macht's der Russe! Wir sind keine alten Weiber — sagten sie sich — , nur alte Weiber jammern. Er spuckte in die Faust — jetzt ist's aber Schluss! — sagte er und dann ging's los und feste auf die Herren, die das Volk immer noch in den Krieg, immer noch auf die Schlachtbank führen wollten. Ich sage, er packte sie bei den Ohren, aber so gründlich, dass sie keinen mehr in den Krieg schicken. So was! Ein so mutiges Volk müssen wir ehren. Und von ihm lernen.
Zeitungen zu lesen, war gerade so streng verboten wie zu rauchen. In den Zeitungsfetzen, die die neuankommenden Kameraden einschmuggelten, stand zwar nicht viel drin, aber wir erfuhren irgendwie doch die wichtigsten Dinge, die in den Zeitungen fehlten. Die Journaille schrieb noch immer von Siegen, als wir schon wussten, dass die Deutschen um Frieden baten. Es war ein großer Tag, als wir das erfuhren, noch größer aber, als unser König um Frieden bettelte!
In den Straßen demonstrierte das Volk.
Es verlangte Frieden!
— Schluss mit dem Brudermord!
— In die Heimat mit unseren Soldaten!
— Frieden! Frieden!
An der Kettenbrücke schossen die Polizisten in die Menge.
Tote — Verwundete.
— Ihr Hunde! Das werden wir euch heimzahlen.
— Aufpacken! — sagte Vater Kecskes, als wir von dem Gemetzel an der Donaubrücke erfuhren.
— Soweit sind wir noch nicht, Vater Kecskes!
— Vielleicht doch.
Die Tage wurden unerträglich lang. Draußen fing der Tanz an, und wir verfaulten hier in der lausigen Baracke. Ein Franzstädter hatte die Geduld verloren. — Macht's gut, Jungens — ich haue ab. Abends als der Inspektionsunteroffizier in die Baracke kam, um die Zahl der Internierten zu kontrollieren, schlich er sich einfach durch die Tür hinaus, auf dem Hof hielt ihn auch keiner auf, als er aber über den Zaun klettern wollte, trafen ihn gleich zwei Kugeln: eine in den Rücken, eine in den Kopf. Wir hörten das Schießen der Wache und auch den Todesschrei — dann wurde es still.
— Wir saßen stumm in der Dunkelheit.
— Na, was ist nun wieder los.
— Es wird geschossen!
— Hier in der Kaserne!
Das Schießen hört auf und es wird wieder still. Aber das ist keine gewöhnliche Stille mehr. Jeder weiß: es geht um die Entscheidung.
Wir halten den Atem zurück und horchen. Nichts. Doch! Jetzt... die Hunde. Der Posten — nein, es sind mehrere Personen, sie kommen hierher, leises Flüstern, dann lautes Fluchen — Schlüsselgeklirr. Die Tür wird geöffnet. Die blass leuchtende Lampe des Korridors wirft ihren Schatten auf einen Korporal mit blondem Schnurrbart. Hinter ihm stehen mehrere Soldaten.
— Kommt, Jungens!
— Wie? Was ist geschehen?
— Nehmt euch jeder ein Gewehr, am Flur sind ja genug — dann los!
— Na, na — sagte Vater Kecskes — , wir sind doch nicht dumm und stumm wie das liebe Vieh...
— Alles ist im Aufstand — sagte der Korporal in leisem Ton, ein rothaariger Soldat neben ihm lachte laut auf.
— Revolution?
— Ja.
— Hm.
Etwa zehn Mann holten uns ab und brachten zwanzig Gewehre mit. Soweit die Gewehre reichten, nahm jeder eins auf die Schulter, die anderen folgten uns mit blanker Faust durch den Flur quer über den Hof.
— Nicht zum Tor, nach hinten... zur Kantine... Die Torwache sah allem ruhig zu, unter dem Tor
stand auch der Inspektionsunteroffizier vom Gefängnis.
Sie sahen ruhig mit an, wie wir in den hinteren Hof gelangten, keiner rührte sich. Einige Minuten später waren wir alle über dem Zaun. Zwei Lastautos standen auf der Straße, beide waren schon fast besetzt mit Soldaten. Für etwa zwanzig Leute wurde noch Platz geschafft, die andern gingen aufs Geratewohl los.
In der Gegend des Volksgartens war alles dunkel, die Straßen fast menschenleer. Weiter nach der Stadt zu wird es immer heller, mitten in der Stadt wimmelt es von Menschen wie am helllichten Tag. Fahnen, rotweiß-grüne Fahnen, Gesang, Schreien, Lachen. Alles schreit, alles lacht.
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
Einer sprach aus einem Auto — Hoch! Hoch! — Dort vom Balkon rezitiert einer. Der Korporal, der uns herausgeholt hat, reißt die Königsrosette von seiner Mütze und wirft sie in weitem Bogen weg.
— Es lebe die Revolution! — brüllt er aus voller Kehle.
— Hoch! Hoch! Eljen!
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
Alles schreit. Alles freut sich. Der Feind hat sich zurückgezogen. Das Auto hält. Als erster springt der Korporal herunter.
— Antreten! — brüllt er los.
Das Auto konnte hier nur noch im Schritt fahren. An der Stelle, wo wir halten, ist die Straße so dicht gedrängt voller Menschen, dass wir kaum aussteigen können, geschweige denn antreten.
— Wir schwören dem Nationalrat die Treue! — brüllte der Korporal. — Antreten!
— Worauf schwören wir? — fragte Vater Kecskes.
— Auf die Revolution.
— Na, dann antreten.
Antreten ist nicht möglich, aber etwa fünfzehn Mann rotten sich zusammen, drängen sich mit den Gewehrkolben nach dem großen Haus, auf das der Korporal hinweist. Von einem Balkon spricht ein junger Mann, brüllt mit weitaufgerissenem Mund, ich sperre auch meine Ohren auf, aber ich höre kein Wort, so viele schreien um mich herum.
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
Wir rennen die mit Teppichen belegten, von Spiegeln funkelnden Treppen hinauf.
— Weißt du, wo wir hinwollen?
— Ja, wartet auf dem Flur auf mich.
Als wir endlich auf einem Flur stehen blieben, waren wir kaum noch acht Mann.
Wenn die Zeit gereicht hätte, wären wir wahrscheinlich auch verduftet, denn wir kamen uns in dem lichttrunkenen, prunkvollen Haus wie verirrt vor; aber da erschien der Korporal schon wieder und mit ihm mehrere in Zivil gekleidete Herren.
— Hier ist die bewaffnete Macht — sagte der Korporal und zeigte auf uns hin.
— Stillgestanden! — platzte Vater Kecskes los und wir — jeder, wo er gerade stand — warfen uns in stramme Haltung.
— Wenig, sehr wenig — sagte der eine der Herren kopfschüttelnd.
— Wieso wenig? — protestierte der Korporal. — Zwei Mann bleiben hier als Wache und sechs Mann gehen zum Platzkommando. Natürlich wäre es gut, wenn einer von den Herren... von den Genossen mit uns käme.
Die standen auf dem Flur neben uns und berieten über die Sache. Wir warteten, ohne ein Wort zu sagen, nur der Korporal sprach auf die Herren immerfort ein.
Während wir hier herumstanden, kam durch dieselbe Tür, aus der die Herren herausgekommen waren, ein älteres Fräulein und gab jedem Soldaten eine Herbstrose.
— Stecken Sie sie an die Mütze — sagte sie lächelnd. Sie gab uns jedem der Reihe nach die Hand. Ihre Hand war weich wie Seide.
— Die Soldaten der Revolution! — sagte sie und sah uns an, wie wenn sie noch nie Soldaten gesehen hätte.
— Gott vergelte Ihre Güte — sagte Vater Kecskes und als letzter nahm auch er die Königsrosette von seiner Mütze ab, und an Stelle des Buchstaben K steckten wir uns alle die Herbstblume des alten Fräuleins mit der Brille an. So verwandelten wir uns aus Soldaten des Königs in Soldaten des Nationalrats.
Der Lärm der Straße drang nur dumpf bis hier herauf.
— Gehen wir, Jungens — sagte der Korporal. — Ihr bleibt hier zur Verfügung des Nationalrats — er zeigte auf zwei Soldaten.
— Durch das hintere Tor — sagte der Herr in Zivilkleidung, der mit uns ging. — Aber etwas langsamer, ich kann nicht so rennen — sagte er, stülpte seinen Mantelkragen hoch und drückte seinen Hut tief in die Augen, wie einer, der nicht erkannt werden will.
— Gut, mein Herr! — sagte der Korporal.
— Nicht Herr, sondern Genosse — verbesserte der Mann mit dem aufgestülpten Kragen.
Das hintere Tor führte in eine dunkle Querstraße. Die Straße war leer, doch hörte man hier das Geschrei der Menge aus unmittelbarer Nähe.
Wir gingen nicht in militärischer Ordnung, wir schlenderten ganz gemächlich dahin. Wir umringten den Genossen mit dem aufgestülpten Kragen; um ihn
besser zu hören. Er sagte fast flüsternd, zu welchem Zweck wir auf das Stadtkommando gingen.
— Es handelt sich darum — fing er an — , dass wir die Marschkompagnie, die den Gehorsam verweigert hat und nicht an die Front gehen will, irgendwo einquartieren, bis wir endgültig disponieren können. Wenn wir sie in irgendeine Kaserne bringen, sind Zusammenstöße zu befürchten...
— Ah, zum Teufel — fiel ihm Vater Kecskes plötzlich ins Wort. — Wir müssen nur tüchtig auf die Kasernentore einschlagen, dann läuft das Militärvolk auseinander wie die Hühner. Die Brüder warten schon ungeduldig, dass sie fliehen können.
— Das ist nicht richtig — sagte der Mann mit dem aufgestülpten Kragen. — Wir dürfen kein Hasardspiel treiben. Wir dürfen nicht frivol Menschenleben aufs Spiel setzen.
— Wer spricht denn von Hasardspiel? Ich sage, man braucht nur auf das Kasernentor einzuhauen, ein Kerl mit guter Lunge brüllt: Nach Hause, Soldaten! Der Krieg ist aus! Auf der Stelle will ich tot sein, wenn auch nur einer in der Kaserne bleibt.
— Ruhe — beschwichtigte der Herr Genosse Vater Kecskes, der seine Stimme so anschwellen ließ, wie wenn er die Botschaft allen Soldaten des Landes verkünden wollte.
Ein Auto sauste an uns vorbei — es saßen Offiziere drin.
— Wenn man nur flüstert, macht man keinem Angst — sagte Vater Kecskes. Was er nachher sagte, verstanden wir selbst nicht, denn inzwischen waren wir wieder in der Hauptstraße angelangt.
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
— Wir müssen uns auf die andere Seite hinüberschlagen — brüllte mir der Korporal ins Ohr.
Es war eine mühsame Arbeit, es nahm viel Zeit in Anspruch. Wir verloren unterwegs einen Mann, aber mit dem Genossen in Zivil kamen wir zu sieben zum Tor der Stadtkommandantur.
Das Tor war geschlossen. Der Korporal hämmert mit dem Gewehrkolben darauf los.
— Macht auf!
— Parole! — brüllt einer von innen her.
— Im Namen des Nationalrats fordere ich euch auf, mir das Tor zu öffnen.
Einige Augenblicke später sammelt sich ein dichter Menschenring um uns herum. Wir werden an das Tor gedrängt, dass wir uns kaum rühren können. Innen ist es still, man hört keinen Laut. Dann öffnen sich plötzlich beide Flügel des Tores. Hinter dem offenen Tor stehen mit schussbereiten Gewehren bosnjakische Soldaten. Hinter ihnen ein junger Offizier.
Ü ber unserm Kopf leuchten zwei Bogenlampen: in der Tageshelle konnte man alles übersehen. Für einen Augenblick sah ich nach hinten: die ersten Reihen der Menge — gutgekleidete Bürger, Studenten, Frauen, einzelne Soldaten versuchen sich nach hinten zu drängen, aber von hinten drückt sie die Masse mit hundertfacher Kraft nach vorne zurück. Vorne ist es still, nur eine Frau kreischt angstvoll, hinten wildes Geschrei. Einer mit einer geschmückten Fahne will sich nach vorne durchdrängen.
Die Bosnjaken halten die Gewehre fest, stehen aber nicht mehr so ruhig und sicher da wie vorher. Starr, mit bleichem Gesicht, der Offizier hinter ihnen.
— Wir suchen den Stadtkommandanten — brüllt der Korporal dem Offizier zu.
Der Offizier hört es nicht. Hinten vom Hof kommt ein Feldwebel herbeigerannt und flüstert dem Offizier etwas ins Ohr.
— Frieden! — bricht jemand in der unmittelbaren Nähe des Tores aus, und das Echo ist stärker als Kanonendonner. Von hinten kommt ein starker Stoß und der Genosse mit dem aufgestülpten Kragen stürzt direkt vor die Füße der Bosnjaken hin. Ich falle geradewegs auf ihn — und der Korporal über mich. Der Offizier kommandiert, das Tor wird geschlossen. Wir richten uns auf. Außer uns dreien schleuderte die Menge noch einen großen Kanoniersoldaten hinein. Der beginnt als erster zu sprechen.
— Wir sind die Abgesandten des Nationalrats — sagte er.
Jetzt rafft sich auch der Herr in Zivil auf.
— Wir sind die Abgesandten des Nationalrats — sagte er seinen Hut abnehmend. — Wir wünschen, mit seiner Exzellenz, dem Stadtkommandanten, zu sprechen.
Von außen wird mit Gewehrkolben auf das Tor eingeschlagen. In unmittelbarer Nähe werden einige Schüsse abgegeben. Der Offizier steht unentschlossen da.
— Kommen Sie! — wendet sich der Feldwebel zu uns hin.
Jetzt bewegt sich auch der Offizier, er winkt mit der Hand, dass wir mit ihm gehen sollen und geht eilig voran. Hinter ihm geht der hagere Kanonier, dann komme ich, hinter mir der Mann mit dem aufgestülpten Kragen und der Feldwebel. Wir gehen die Treppe hinauf und gelangen in ein großes Vorzimmer. Der Offizier kehrt sich für einen Augenblick nach hinten um und winkt mit der Hand, dass wir warten sollen, er geht durch eine große Flügeltür, an der ein Wachposten mit Gewehr bei Fuß steht.
— Dich haben sie wohl hier vergessen? — sagt der hagere Kanonier zu dem Wachtposten.
— Ist es schon soweit? — antwortete der mit einer Frage, halb auf den Kanonier, halb auf den erschrockenen Feldwebel blickend. Der Mann mit dem aufgestülpten Kragen winkt nervös mit der Hand. — Bleiben Sie doch still! Aber der hagere Kanonier achtet gar nicht darauf.
— Schließlich hatte das Volk das Gemetzel satt! — sagte er. — Wenn die Herren Offiziere absolut krepieren wollen, mögen sie allein an die italienische Front gehen...
— Hm — sagte der Wachtposten und seine Haltung wurde etwas lässiger. Hinter ihm öffnete sich die Tür, unser Führer, der kleine Offizier trat hervor. Die Lampe wirft das Licht gerade in sein Gesicht. Er ist blass und selbst seine Lippen sind weiß. Er stottert:
— Exzellenz erwartet die Herren.
Der hagere Kanonier ging als erster. Dann der Korporal, der den Mann mit dem aufgestülpten Kragen am Arm mitschleppte. Hinter ihnen ging ich — hinter mir der Oberleutnant. Er schloss die Tür zu.
Wir kamen in ein großes halbdunkles Zimmer. Die auf dem prunkvollen Schreibtisch stehende Tischlampe erhellte nur einen kleinen Kreis. Vor dem Tisch, mit dem Rücken zur Lampe, stand ein großer hagerer Mann in Generalsuniform, sein Gesicht war beschattet, die Lampe beleuchtete nur seinen grauen Kopf. Der hing etwas seitlich herunter, wie wenn er überlastet wäre und den ganzen Mann mit sich hinunterziehen wollte.
Der Oberleutnant trat vor den General hin und warf sich stramm in Positur.
— Eure Exzellenz, ich melde gehorsamst, die Delegation des Nationalrats ist da.
Der General sagte kein Wort, er bewegte nur ein wenig den Kopf. Er blickte über den Kopf des Oberleutnants hinweg und sah uns mit prüfenden Augen an. Einige Augenblicke betrachteten auch wir schweigend den großen Herrn, der gestern noch Todesurteile unterschrieben hatte. Jetzt hatte er Angst vor der eigenen Stimme. Seine linke Hand, die auf dem Säbel ruhte, zitterte, die rechte Hand hielt er auf dem Rücken, wie wenn er sich so gegen den drohenden Lärm wehren wollte, der sich hier im halbdunklen, verhängten, verschlossenen Zimmer noch beängstigender anhörte als unten. Der hagere Kanonier verlor als erster die Geduld.
— Wir könnten beginnen — sagte er und stieß den Mann mit dem aufgestülpten Kragen, der mit dem Hut in der Hand neben ihm stand, in die Seite.
— Ja — sagte der fast flüsternd und machte einen Schritt nach vorwärts.
— Exzellenz — wandte er sich zum General — , der Nationalrat schickt uns zu Ihnen...
— Ich weiß es — unterbrach ihn der General. — Ich habe aber den Eid auf den höchsten Kriegsherrn, auf 6eine kaiserliche und königliche Majestät geleistet.
— Exzellenz, der Nationalrat wünscht...
— Ich habe dem höchsten Kriegsherrn Treue geschworen — sagte der General in etwas sichererem Ton — , und kann meinen Eid nicht brechen. Ich kann mich nicht an ihre Seite stellen. Ich bin Ihr Gefangener.
— Aber, Exzellenz...
— Verstehen Sie nicht?
— Ich bin Ihr Gefangener — schrie der General dem Mann in Zivil zu.
Dieser wandte sich jetzt uns zu. Er machte ein mordsdummes Gesicht und breitete die Arme aus, wie wenn er sagen wollte, dass er nicht wisse, was er jetzt anfangen solle. Er nickte mit dem Kopf dem Korporal zu, wie wenn er von ihm Hilfe erwarte, aber bevor der Korporal seinen Mund öffnen konnte, trat der Kanonier vor den General hin und legte die Hand auf seine Schulter.
— Herr Stadtkommandant, Sie sind der Gefangene der Revolution — sagte er.
In eben diesem Augenblick zertrümmerte ein Stein oder eine Kugel das Fenster. Der Oberleutnant fasste den General beim Arm und führte ihn ins Vorzimmer. Der Kanonier fasste den General am anderen Arm. Der General brummte irgend etwas, aber so leise, dass es niemand verstand.
— Ich bleibe hier — sagte der Korporal — - und übernehme bis auf weiteres das Kommando. Ihr — sagte er zum Kanonier — bringt die Gefangenen zum Nationalrat.
— Zu Befehl, Genosse — antwortete der Kanonier. Der Wachtposten an der Tür lehnte das Gewehr an
die Wand, riss die Rosette von seiner Mütze ab, warf sie zu Boden und zertrat sie.
Wir gingen dieselbe Treppe hinunter, die wir heraufgekommen waren, aber wir gelangten — unter Umgehung des Hofs — zu einem hinteren Tor. Bis das Dienstauto des Generals vorgefahren war, warteten wir im Hof. Der Oberleutnant hängte dem General einen feldgrauen, fast bis zum Boden reichenden Kragen um, er selbst stülpte den Samtkragen seines Mantels hoch und setzte sich eine Mannschaftsmütze auf den Kopf.
— Ins Hotel Astoria — gab der Kanonier dem Chauffeur den Befehl.
Bis zum Astoria blieben wir etwa zehnmal stecken. Wir kamen nicht schneller vorwärts als die Fußgänger. Endlich — nach einer langen Weile — hatten wir die freudetrunkene Kossuthgasse hinter uns, und wir kamen zum hinteren Tor des Hotels Astoria. Hier war der Zugang noch immer frei — niemand fragte woher, niemand fragte wohin — , wir konnten ungehindert in das Hauptquartier des Nationalrats gelangen. Der General und der Oberleutnant gingen stumm die Treppe hinauf, der Genosse in Zivilkleidung begann auch erst zu reden, als wir oben angekommen waren.
— Kommen Sie herein — sagte er zu mir und zu dem hageren Kanonier.
Er öffnete eine Tür und wir gingen alle in ein Zimmer.
Das nicht besonders große Zimmer war voller Rauch und mit lärmenden, gestikulierenden Menschen überfüllt. Zivilisten und ein paar junge Offiziere. Ein dicker Herr brüllte ins Telefon, in einer Ecke schnarchte jemand auf dem Boden.
Ein schlanker, blonder, junger Mann trat vor uns hin, er sah den General groß an, dann blickte er fragend auf den in Zivil gekleideten Mann hin, der noch immer mit aufgestülptem Kragen und tief in die Augen gedrücktem Hut dastand. Plötzlich wurde es still, nur das Telefongespräch ging weiter.
— Ich kann nur vier Soldaten schicken, nicht mehr — brüllt der Dicke ins Telefon.
— Sprich doch — wandte sich der blonde, junge Mann zu dem mit dem aufgestülpten Kragen, aber statt zu reden, zuckte der nur mit den Achseln.
— Meine Herren! — sprach jetzt plötzlich der General — , ich habe dem Kaiser und König den Eid geleistet. Ich kann mich Ihnen nicht zur Verfügung stellen, ich bin Ihr Gefangener.
In dem Zimmer waren schon zehn oder noch mehr Menschen, aber einige Augenblicke lang wusste keiner, was er antworten sollte. Alle blickten hilflos von einem zum andern.
— Ich bin Ihr Gefangener — wiederholte der General etwas ungeduldig.
Der dicke Herr unterbrach sein Telefongespräch für einen Augenblick und wandte sich zum General.
— Also gut — sagte er mit etwas heiserer Stimme. — Gehen Sie, bitte, in das Nebenzimmer und erwarten Sie dort das Weitere.
Der General schlug die Sporen zusammen, der Oberleutnant ebenfalls. Ich machte die Tür hinter ihnen zu.
— Die Sache ist in Ordnung! Ich schicke es sofort. Guten Tag! — brüllte der Dicke ins Telefon und legte den Hörer nieder.
— Was hast du gemacht — stürzten sich jetzt gleich zehn Mann auf den mit dem aufgestülpten Kragen — , was hast du getan, du Unglücksmensch?
— Was hätte ich tun sollen? Er wollte mich gar nicht anhören. So oft ich zu sprechen begann, fiel er mir ins Wort, er sei mein Gefangener, er hat den Eid geleistet, er sei Gefangener? Was hätte ich tun sollen?
— Du hättest ihm sagen sollen, was du vorhast.
— Wie hätte ich es ihm sagen können, wenn er mich doch nicht anhören wollte. Wie hätte ich mich mit ihm auseinandersetzen sollen, wo ich nur drei Soldaten hatte, und er hundertmal soviel.
— Wir werden alle gehängt — sagte ein schwarzhaariger Herr.
— Ihr würdet es schon verdienen — sagte der Dicke darauf, der vorher telefoniert hatte — , nur wird man euch nicht aufhängen — setzte er lächelnd fort — , die ganze Stadt steht hinter uns. Die Offiziere des Kaisers sind noch feiger als ihr. Ja — wandte er sich zu dem schlanken, blondhaarigen Offizier — , der Kommandant der Telefonzentrale „Joseph" — irgendein verrückter Oberleutnant — will sich nur dann ergeben, wenn wir Truppen gegen ihn schicken. Ich sagte ihm, dass ich vier bewaffnete Leute hinschicke.
— Vier Mann bewaffnete Soldaten? Sind nicht da!
— Wieso denn nicht — fuhr der Kanonier dazwischen. — Auf der Straße gibt es Soldaten, soviel wir nur wollen.
— Das ist richtig — sagte der Blonde — , gehen Sie
hinunter, Kanonier, holen Sie sich zehn bis zwölf Soldaten und besetzen Sie die Telefonzentrale.
— Zu Befehl — sagte der Kanonier und ging auch schon los. Er ließ die Tür hinter sich offen, ein großer junger Mann in schwarzem Anzug trat aus dem Flur herein. Sein Gesicht war rot vor Erregung.
— Ein Telegramm! — schrie er.
— Für uns?
— Nein. Wir haben es aufgefangen. Es kommt von der Hauptpost. Es ist an den Stadtkommandanten gerichtet. Chiffriert. Der Schlüssel ist auch da. Wir haben es gelesen. Dem Stadtkommandanten wird die Weisung gegeben, dass er schießen lassen solle. Die Weisung stammt vom Generalkriegsquartier. Vier Divisionen sind auf dem Marsch nach Budapest.
— Der Stadtkommandant sitzt hier im Nebenzimmer; er ist gefangen.
— Und jetzt?
— Wir werden allesamt gehängt.
— Aber Kunfi! — schrie der Dicke. — Die vier Divisionen werden nicht ankommen. Wir lassen die Eisenbahner streiken. Und bis morgen muss die ganze Arbeiterschaft mobilisiert werden. Das ist eure Aufgabe — sagte er, zu Kunfi gewandt.
— Mich lasst nur in Ruhe! — Lasst mich nur in Ruhe! Siehst du denn nicht, verstehst du denn nicht, dass ich es mit meinen Nerven nicht mehr aushalte! Man wird uns aufhängen, ganz bestimmt wird man uns aufhängen!
— ... deine Großmutter! — sagte der Dicke und ging zum Telefon.
Immerfort wurden Offiziere eingebracht — viele meldeten sich freiwillig als Gefangene. Sie wurden sämtlich in das Nebenzimmer gewiesen. Wenn wir nur halb soviel Soldaten gehabt hätten, als wir gefangene Offiziere hatten, hätte vielleicht nicht einmal Kunfi am Sieg gezweifelt.
Kunfi bebte am ganzen Leibe in der Revolutionsnacht und doch — oder vielleicht gerade deshalb — fiel ihm als erstem ein, dass man die Gefangenen entwaffnen müsse. Der gute Gedanke kam aber schon etwas zu spät. Im Nebenzimmer hatten sich inzwischen soviel Gefangene angesammelt, dass es niemand mehr für ratsam hielt, hineinzugehen — und sie zu entwaffnen. Ich wurde als Wache an die Tür gestellt. Gewiss, wenn es den Gefangenen eingefallen wäre, den Nationalrat zu verhaften, ich allein hätte nichts dagegen unternehmen können. Aber, zum Glück verhielten sich die Gefangenen ruhig.
Gegen Morgen löste mich der hagere Kanonier ab und ich legte mich in eine Ecke schlafen. Als ich gegen Mittag aufwachte, stand der Kanonier noch immer Wache, aber das Gefangenenzimmer war leer.
— Auf Anordnung des Nationalrats ließen wir die Offiziere laufen — erzählte er mir.
— Wozu stehst du dann noch immer hier Wache? — Damit sie nicht zurückkommen.
Das Zimmer war voll gepfropft von Menschen. Zivilisten und Offiziere. Die Offiziere hatten eine Kokarde in den Nationalfarben auf die Brust geheftet. Als ich mir den Schlaf aus den Augen rieb, erkannte ich Gyulai unter ihnen. Er stand innerhalb einer Gruppe und zankte wütend mit jemandem. Ich ging zu ihm hin und fasste ihn beim Arm. Er freute sich und drückte mich so fest an seine Brust, dass mir die Knochen krachten.
— Was gibt es Neues, Genosse Gyulai?
— Neues? Alles geht in schönster Ordnung — sagte
er und lachte bitter dazu. — Die Revolution hat gesiegt und die Minister sind in die Burg hinaufgegangen, um dem König den Eid zu leisten.
— Das verstehe ich nicht — sagte ich.
— Beruhige dich, Peter, das kann keiner verstehen.
— Aber trotzdem...
— Frage den Genossen Antalfy, der kann mehr erzählen.
Er zeigte auf den hageren Kanonier, der hieß Antalfy. Antalfy ließ sich nicht lange bitten, er begann gleich, die Dinge zu erklären:
— Wir dürfen nicht zu hohe Ansprüche stellen — sagte er — , vom ersten Akt dürfen wir nicht mehr verlangen, als er geben kann: die mitwirkenden Personen stellen sich vor. Hoch, Genosse Sigmund Kunfi, der erste ungarische königlich sozialdemokratische Minister! Hoch! Ruf doch mit! — zu fluchen bleibt dir Zeit im zweiten Akt. Im dritten Akt werden andere fluchen, oder auch weinen. — Na — jetzt weißt du ja alles.
— Ich weiß gar nichts.
— Gut. Übernimm den Wachdienst statt meiner, ich habe genug von diesem Theater. Kennst du Gyulai?
— Ja.
— Dann treffen wir uns noch. Auf Wiedersehen! Der Kanonier ging tatsächlich fort und kam nicht
mehr wieder. Einige Stunden hielt ich Wache in dem Zimmer, in dem die Menschen gingen und kamen wie in einem Kaffeehaus. Zehn Leute sprachen zugleich, schrieen um mich herum, dass ich kein Wort verstand, aber ich erfuhr bald, dass die Leute zum Ablegen des Eides hierhergekommen waren: alle wollten dem Nationalrat den Eid leisten. Gewiss, es kamen auch welche, die Rat oder Hilfe verlangten — Soldaten, Gewehre, Geld, Lebensmittel, Wohnung, Kleidung, Legitimation, Sittenzeugnis, Heiratserlaubnis — , ich hab wirklich vergessen, was alles an diesem Tag vom Nationalrat verlangt wurde. In einer Ecke wurde eine Sitzung abgehalten, in einer anderen wurden Legitimationen ausgestellt, in einer dritten Ecke schlief laut schnarchend ein junger Offizier. Das Telefon klingelte ununterbrochen.
— Was? — schrie der blonde junge Mann, der Sekretär des Nationalrats ins Telefon. — Was? Was, sagen Sie? Tatsache? Hm. Ja.
— Meine Herren — schrie er so laut, dass alles aufhorchte — , meine Herren, soeben wird telefoniert, dass Graf Stephan Tisza ermordet worden ist..
— Was? Unglaublich! Schrecklich! Schändlich! Das wird uns schwer diskreditieren. Nein — nein, das durfte nicht kommen!
— Meine Herren — fuhr der blonde junge Mann fort, die Sitzung geht weiter. Der zweite Punkt der Tagesordnung...
Plötzlich halte ich's nicht mehr aus. Was zum Teufel soll ich hier die Zeit vertrödeln, die Wand stützen, wenn draußen auf der Straße die Revolution emporlodert? Wenn doch wenigstens Antalfy hier wäre, oder jemand käme — denn man kann doch nicht nur so einfach das Gewehr an die Wand stellen.
— Höre, Kamerad — wandte sich ein Soldat zu mir, der eben hereinkam — , wo ist hier der Kommandant?
Aus dem Mund des Soldaten strömte Schnapsgeruch.
— Ich weiß nicht. Was willst du?
— Was ich will? Na, schau mal her, Bursche, so sieht einer aus, der Stephan Tisza ermordet hat.
In diesem Augenblick ging der Dicke an uns vorbei, ich wusste schon, dass es Landler war, der Führer der Eisenbahner, der erst kürzlich aus dem Gefängnis herausgekommen war.
— Hören Sie, mein Freund — sagte Landler zu dem schreienden Soldaten — , gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich richtig aus. Sie haben ein bisschen zuviel getrunken.
— Herrgott, Kruzifix! So leicht lasse ich mich nicht rausschmeißen... Der Herr glaubt vielleicht...
Auf Landlers Wink beförderte ich ihn hinaus. Es ging viel leichter, als man dachte — kaum fasste ich ihn an, ging er von alleine.
Einige Minuten später kam ein anderer Soldat. Der war auch stockbesoffen, der schlug auch an seine Brust, er habe Tisza ermordet. Binnen einer kleinen halben Stunde meldeten sich etwa zehn Tisza-Mörder.
— Wir müssen eine Tafel an die Tür hängen — sagte Landler — , Tisza-Mörder werden nur vormittags von zehn bis zwölf empfangen.
Endlich am Spätnachmittag wurde ich abgelöst. Ich wurde mit einem geschlossenen Brief nach der Stadtkommandantur geschickt. Nach mir übernahm ein junger Feldwebel den Dienst.
Ich rannte die Treppe hinunter.
Unten im Tor standen soviel Leute, dass es nicht leicht war, sich durch die Menge auf die Straße zu schlagen. Ich bekam einen tüchtigen Stoß in den Bauch, ich teilte auch nach allen Seiten Stöße aus. Einem Offizier trat ich auf den Fuß, ein Fräulein schrie laut auf — ich gelangte auf die Straße.
Die Straße hatte sich seit gestern wesentlich verändert. Die Straßen waren gedrängt voll — alles war schwarz wie Pech anzusehen, aber es war ein ganz anderes Bild, eine andere Stimmung als gestern. Es waren weniger Frauen zu sehen, man sah auch weniger gutgekleidete Bürger. Arbeiter und Soldaten beherrschten die Straße. Die Luft war dicht wie in einer riesigen Werkstatt, in der hundert Schmiede zugleich das glühende Eisen hämmern. Die Masse brüllte nicht in den Straßen wie gestern, und doch war sie mächtig. Es herrschte ein beständiges Summen, man sprach untereinander, es wurde auch geschrieen und gesungen — aber dieses Summen, dieses Sprechen, Schreien und Singen ballte sich zusammen und dröhnte wie eine riesige Maschine. Ich blickte nach dem schlanken Hotel Astoria hinauf, von dem Balkon sprach ein großer, schwarzgekleideter, junger Mann. Er fuchtelte mit beiden Armen herum — aber ich hörte keinen Laut von dem, was er sprach.
Ich wusste bis dahin nicht, dass der Lärm einer Menschenmasse dröhnt wie eine arbeitende Maschine, aber jetzt, wo mich der Strom der Masse langsam, langsam vorwärts trieb, hämmerte das Rattern der riesigen Maschine immer stärker in meinen Ohren. Zwischen den schwarzen Arbeitermengen erschienen die grünen Soldatenuniformen, wie frische Zweige auf der bekränzten Maschine. Die Fahnen glichen bunten Blumen. Nebeneinander rot — weiß — grüne und blutrote Fahnen. Die riesige Maschine rattert: Revolution, Revolution, Revolution. Ich vergaß, woher ich kam, wohin ich gehen wollte, ich wurde in den nach der Donau zuströmenden Fluss der Menge mitgerissen, mitgeschleudert. Meine Stimme verschmolz mit dem gewaltigen Dröhnen: — Es lebe die Revolution! Es lebe die Revolution! Die Masse teilt sich in wuchtiger Ruhe. Ich bemerke das Lastauto, dem der Weg freigemacht wird, erst als es an mir vorbeifährt. Das Auto ist gedrängt voll mit blumengeschmückten, singenden Soldaten.
— Hoch die Revolution! Hoch die Revolution!
Ich werde bis an die Donau mitgerissen. Dort schlage ich mich langsam aus der Menge heraus. Ich muss mir jeden Zentimeter erkämpfen, aber jetzt habe ich Kraft und Mut zu kämpfen. Ich springe über einen Zaun, ich biege in eine Querstraße ein, dort muss ich wieder einen Zug durchschneiden, und endlich erreiche ich das Stadtkommando.
Beim Tor werde ich ohne weiteres durchgelassen. Auf der Treppe fragt niemand, wo ich hingehe. Ich gehe geradewegs in das Zimmer hinein, in dem wir heute Nacht den General verhaftet hatten. Zehn oder noch mehr junge Offiziere sind in dem Zimmer — sie sind ebenso laut wie die Zivilisten im Nationalrat. Ein junger Artillerieleutnant übernimmt den Brief.
— Bekomme ich Antwort? — fragte ich.
— Nein. Der Nationalrat weiß, dass wir die Befehle der Revolution unbedingt durchführen.
Nur auf großen Umwegen gelange ich zum Astoria zurück. In dieser Gegend ist die dichteste Menge. Unendliches Fahnenmeer. Oben kreisen zwei Flugzeuge.
Im Tor bewaffnete Wachposten. Offiziere und Unteroffiziere.
— Wohin?
— Zum Nationalrat.
— In welcher Angelegenheit.
— Ich gehöre hin.
— Haben Sie eine Legitimation?
— Es wurde mir noch keine ausgefolgt.
Wie immer auch ich mich dagegen auflehne, ich werde nicht hereingelassen. Ich versuche die Sache klarzulegen, ich bitte um Einlass, ich drohe, aber keiner schenkt mir Gehör. Es ist nicht zu machen, ich komme nicht hinein, ich steige auf ein Lastauto, in dem blumengeschmückte singende Soldaten fahren. Das Auto kriecht dahin, langsam bahnt es sich einen Weg durch die Menge. Jetzt bleibt es wieder stecken, aber hinter dem Westbahnhof rast es durch den von Fabriken begrenzten Vaczer-Weg, hinaus nach Neupest.
Beiderseits die Fabrikschornsteine wie schwarze Wachposten.
Wir singen wie Trunkene wirr durcheinander. Wir wissen selbst nicht, was wir singen.
— Schluss mit dem Krieg — sagt einer dazwischen.
— Schluss.
Dann fängt das Singen von neuem an.
Als der Morgen dämmerte, waren die Kameraden langsam verschwunden und auch ich musste herunter, weil das Auto in eine Garage eingestellt wurde. Ich hatte keinen Bekannten in Budapest außer Gyulai. Also zu ihm! Ich tippelte gute anderthalb Stunden, bis ich hinkam und musste noch über eine Stunde auf der Straße herumstehen, bis ich hinauf gelassen wurde. Gyulai wohnte nämlich in einem kleinen Hotel, und der Portier wollte mich unter keinen Umständen vor acht Uhr hereinlassen.
Dem Hotel gegenüber war ein großes Lebensmittelgeschäft. Das Geschäft war geschlossen, die Rollläden heruntergezogen, aber vor dem Laden warteten schon in langen Reihen Frauen mit Tüchern, frierende kleine Mädchen, alte Männer. Einige Frauen hatten sich Schemel mitgebracht, sie warteten sitzend den Morgen ab und standen nur zeitweilig auf, um sich etwas Bewegung zu machen und, sich die Hände reibend, gegen den beißenden Novemberwind zu schützen. Ich ging einige Mal an den Wartenden vorbei, die schon am frühen Morgen müde, unter den abgetragenen Tüchern zitterten.
— Die haben's gut, die unweit einer Kaserne wohnen.
Die haben die Magazine ausgeleert, dort gab es alles: Mehl, Fett, Fleischkonserven, Milchkonserven, Speck, Zucker, Schuhsohlen, Tabak, Zündhölzer, ich sage, die haben alles, die in der Nähe einer Kaserne wohnen. Die Soldaten sahen zu und lachten, wie alles weggetragen wurde. Was hat uns die Revolution gebracht?
— Den Frieden.
— Und was sollen wir kochen?
— Es gibt jetzt alles — sagte eine Frau mit breiten Hüften. Die Entente wird alles liefern, wenn sie überzeugt ist, dass bei uns die Demokratie herrscht. Denn das will die Entente, die Demokratie. Dafür hat sie gekämpft. Die Deutschen und die Unseren waren für den Militarismus, deshalb kam es zur Blockade und zur Aushungerung. Mein Mann erzählt — mein Mann ist nämlich beim Zollamt und dort erfahren die Herren alles zuerst, ja, ich sage — mein Mann erzählt, dass das Gefrierfleisch, wovon mehrere Waggon an der Grenze stehen, eine Liebesgabe Englands — nicht nur billiger, sondern auch ausgiebiger ist, als das ungarische Rindfleisch und wir werden soviel davon bekommen, wie wir nur brauchen.
— Also mit dem Fleisch werden wir schon irgendwie zurechtkommen, Frau Nachbarin, aber es heißt, dass die Rumänen und die Serben nicht damit einverstanden sind, dass wir uns mit der Entente aussöhnen, denn alle wollen sie ein Stück von diesem unglücklichen Land.
— Wollen können sie schon — sagte die Nachbarin — Frankreich läßt's aber nicht zu. Der Franzose weiß wohl, dass er uns Magyaren noch einmal gut gebrauchen kann, und dann dürfen wir auch nicht vergessen, dass ihr Präsident ein guter alter Freund unseres Karolyi ist. Das fällt auch ins Gewicht.
Ich fand Gyulai im Bett. Er war auch spät nach Mitternacht nach Hause gekommen, allzu viel hatte er also nicht geschlafen, er war aber trotzdem sehr gesprächig. Ich war so zerschlagen, dass ich mich einfach auf den wackligen Diwan hinwarf, dessen Federn sich wie spitzige Steine in meinen Körper bohrten. Ich hörte noch, wie Gyulai zu mir sprach, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte, erst als er mich gegen Mittag aufrüttelte, verstand ich, dass ich mich waschen sollte, denn wir mussten unserer Arbeit nachgehen.
Gyulai lachte, dass ihm die Tränen kamen, als ich ihm erzählte, wie ich meinen Dienst beim Nationalrat verloren hatte.
— Du hast verfluchtes Glück, Junge! Wenn du dageblieben wärst, hätten die Herren Revolutionäre noch einen hohen Herrn aus dir gemacht, und du wärst früher oder später an den Galgen gekommen.
— Glauben Sie, dass die Revolution ein so schlechtes Ende nehmen wird?
— Die Revolution nicht, Aber gerade deshalb wird es diesen Herren noch schlecht ergehen.
— Sie meinen die Führer der Revolution?
— Die Wanzen der Revolution! Vorläufig ist es das Wichtigste, dass du dich wäschst und dass wir los gehen. Ich stecke dich in eine Arbeit, bei der du uns nützen kannst.
Die Straßenbahn ist voll gepfropft. Die müden, etwas eingeschüchterten Bürger bieten den blumengeschmückten, lauten Soldaten ihre Plätze an.
— Setzen Sie sich nur, Herr Soldat! In den vier Jahren sind Sie alle müde geworden.
Der Soldat setzt sich hin, ohne zu danken, der höfliche Bourgeois sieht erschrocken nach dem roten Band auf der Mütze des Soldaten. Eine runzlige alte Frau — in dem braunen haarigen Tuch verliert sich ihr zusammengeschrumpfter, abgenagter Körper völlig — drückt mir einen welken Apfel in die Hand.
— Ich habe auch einen so schönen, großen Soldatensohn — sagte sie stolz. — Ich erwarte ihn jeden Augenblick, vielleicht ist er schon zu Hause, bis ich heimkomme. Das letzte Mal schrieb er von der serbischen Front. Vor zwei Monaten.
— Die Rumänen sind in Siebenbürgen eingebrochen — sagte ein Herr in einem steifen Hut — jedes Mal, wenn er sich bewegte — stieß er mit dem Ellbogen in meinen Bauch. — Während wir hier zu Hause einander zerfleischen, schläft der Feind nicht.
— Die Entente wird sie schon zurückbefehlen — sagte ein nervöser Herr mit einem Kneifer, der sich entschuldigte, weil er mir auf den Fuß getreten war.
— Weshalb sollte die Entente sie zurückbefehlen, wenn ich fragen darf? Sie waren doch ihre Verbündeten, und wir kämpften gegen die Entente.
— Ja, aber jetzt ist auch bei uns die Demokratie------
— Unser Militär haben wir nach Hause geschickt. Wo hat man jemals so etwas gehört, dass ein Kriegsminister sagt, ich will keine Soldaten sehen? — Was will er denn sonst sehen, wenn keine Soldaten? Will er zusehen, wie der Rumäne und der Serbe das Land auffressen? Oder, wie der Bauer die Stadt ausplündert.
— Der Bauer muss das Land bekommen, er wird es schon beschützen — sagte Gyulai.
— Das glaube ich schwerlich. Der Bauer ist nicht reif dafür, dass wir uns auf ihn verlassen könnten. Wir brauchen alte, bewährte, geschulte Politiker, denen es unter den heutigen Umständen auch nicht leicht gelingen wird, einen Ausweg zu finden. Die Lösung der Bauern- bzw. Bodenfrage müssen wir auf eine Zeit verlegen, in der das Land vom Feind befreit ist.
— Also, wir müssen das Schicksal des Landes in die Hand jener legen, die den Krieg gemacht und ihn verloren haben?
— Ich sage nicht, dass man das Land gerade denen anvertrauen soll----------
Während wir hier politisieren, sind die Soldaten vorne im Wagen mit einem Herrn im Pelzmantel aneinander geraten. Als wir aufhorchten, schrieen die Soldaten dermaßen durcheinander, dass man nicht erkennen konnte, um was es sich handelte. Der Lärm dauerte nicht mehr lange. Zwei Soldaten fassten den Herrn im Pelzmantel an und beförderten ihn aus dem fahrenden Wagen heraus.
— Geh zum Teufel wie dein Freund Tisza, du Wanzenbrut !
— Er wagt es, die Revolution zu beschmutzen, der Hund-----------
— Er sagt, die Revolution sei schuld daran, dass wir den Krieg verloren haben und nicht der deutsche Kaiser mit seinem Wasserkopf!
— Wie mag der erst brüllen, wenn wir das Haus über ihm anzünden?
— Sehen Sie, — wandte sich der Herr im steifen Hut zu Gyulai — das ist Ungarns Tod.
— Ja — antwortete Gyulai, das Ungarn der Grafen und Pfaffen ist tot. Ein Schuft, wer es zurückersehnt.
Der Herr mit dem steifen Hut stieg an der nächsten Haltestelle aus.
Wir gingen in ein Kaffeehaus. Das große, elegante, geräumige Lokal war fast leer. An einem Tisch — hinten in einer Ecke — saßen ein junger Mann mit gekrümmten Schultern und ein Artilleriefeldwebel. Gyulai begab sich direkt zu dem Tisch, grüßte, setzte sich und wies mir auch einen Platz an.
— Ich habe einen Genossen mitgebracht, Otto — sagte er.
Der Mann mit dem krummen Rücken sah mir ins Gesicht, reichte mir die Hand, nickte mit dem Kopf, dann wandte er sich wieder zum Artilleriefeldwebel. Der Feldwebel erklärte ihm etwas auf deutsch, worum es sich handelte, weiß ich nicht, ich verstand damals nur ein paar Brocken deutsch. Der Mann mit den gekrümmten Schultern war mir bekannt, aber erst später, als er mit mir sprach, erinnerte ich mich daran, woher ich ihn kannte. Ich hatte ihn beim großen Januarstreik sprechen hören. Als der Feldwebel aufstand, wandte sich Otto zu Gyulai.
— Die Herren Revolutionäre haben dem König den Eid geleistet — sagte er — und haben Truppen gegen die Bauern gesandt, zum Schutz der Herrschaftsgüter. Heute nachmittag haben wir eine Versammlung am Koloman-Platz.
— Die Situation ist so klar — sagte Gyulai — , dass wir leichte Arbeit haben werden.
Der Mann mit der schiefen Schulter sah einige Augenblicke nachdenklich vor sich hin, sagte nichts zu Gyulai, sondern wandte sich mir zu.
— Wo haben Sie gedient, Genosse?
— Er war mit mir zusammen interniert — antwortete Gyulai statt meiner. — Ein Landsmann von mir, ich kenne ihn seit Jahren. Ein guter Genosse.
— Kommen Sie heute Nachmittag um fünf auf den Koloman-Platz, Genosse, bis dahin will ich überlegen, was wir für Sie zu tun haben. Falls Sie mich dort nicht finden, lasse ich ihnen Bescheid durch Gyulai zukommen.
Auf dem Koloman-Platz versammelten sich Arbeiter und Soldaten mit roten Fahnen. Es dunkelte. Die Lampen beleuchteten den Platz nur spärlich. Um den Redner besser zu hören, schlossen wir uns eng zusammen, — trotzdem auf dem riesigen Platz mehr Raum vorhanden war, als wir brauchten — es war ein schwarzer, sich lebhaft bewegender Fleck auf dem grauen leeren Platz — heiß wie ein Schrapnell, eine hundertstel Minute vor der Explosion. Hier war die Stimmung nicht so rosig, wie bei den Straßendemonstrationen. Hier wurde die Revolution nicht bejubelt, sondern kritisiert. Ich hörte drei Redner, alle drei griffen die Regierung heftig an, weil sie dem König den Eid geleistet hatte — alle drei forderten die Ausrufung der Republik. Die Menge stimmte zu, aber hier und dort fiel eine kritische Bemerkung.
— Die Republik ist nur der erste Schritt! Wir wollen den Sozialismus!
— Das russische Beispiel!
— Sozialisierung der Fabriken!
— Bewaffnung der Arbeiterschaft!
Zum Schluss der Versammlung wurde die Marseillaise gesungen, danach von einer kleinen Gruppe — die Internationale. Ich konnte weder die Melodie noch den Text, ich wusste nicht, was das Lied bedeutete, aber es machte großen Eindruck auf mich. Ich war ganz trunken von dem Lied. Vielleicht darum, weil unmittelbar in meiner Nähe zwei Soldaten dasselbe Lied auf russisch mitsangen.
Ich sah Otto, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich erfuhr von Gyulai, dass ich beim Empfang der Frontsoldaten beschäftigt werden solle.
Am Nachmittag des nächsten Tages konnte ich schon meinen Dienst antreten. Auf Anweisung des Soldatenrates wurde ich zu dem Hilfszug beordert, wo für die heimkehrenden Soldaten Tee und Kaffee gekocht wurde. Der Hilfszug stand unter dem Glasdach des Ostbahnhofs.
Vier Soldatenköche bereiteten in riesigen Kesseln Tee und Kaffee. Damit sie etwas zu beißen hatten, wurde Essen aus der Stadt gebracht. Der Nationalrat ordnete an, dass jeden Tag die Bewohner einer anderen Straße für die heimkehrenden Soldaten kochen sollten. Die jeweils bestimmte Straße führte die Anweisung aus. Die ausgehungerte Stadt kochte, wie wenn Hochzeit wäre. Korbweise wurden allerlei gute Sachen gebracht, die ich armer Teufel seit Jahren nicht gesehen hatte.
— Die Gauner haben Angst.
— Sie glauben, wenn sich der arme Soldat einmal vollfrisst, hat er sofort alles vergessen.
— Er wird eher sagen, her mit dem Rest.
— Denn wo soviel ist, gibt's noch mehr.
— Wie kann man so undankbar sein — rügte uns der Oberkoch.
— Na, na! Mit einem Napf Kaffee wollen sie uns dumm machen.
Der Zug läuft ein. Er hält kaum und schon strömen die Soldaten heraus. Die Soldaten, die auf den Dächern gefahren sind, fluchen wütend, weil andere, die durch das Fenster aus dem Innern des Wagens herausspringen, sie beim Herunterklettern hindern. Der Abgesandte des Nationalrates — ein junger Journalist, mit einer nationalfarbenen Kokarde an dem schwarzen Rock — nimmt seinen Hut ab und beginnt zu sprechen.
— Soldaten! Das Herz des Landes, die Hauptstadt Ungarns-----------
Weiter kommt er nicht, die davonstürmenden Soldaten reißen ihn mit sich. Die Rote-Kreuz-Schwester, die weiße Herbstblumen unter die heimkehrenden Soldaten verteilen wollte — die gute Schwester bricht in Tränen aus, irgend jemand hat ihr auf den Fuß getreten. Die Soldaten stürmen unseren Zug. Sie fliegen auf den Essensgeruch, wie der Nachtfalter auf das Licht. Abgemagert, zerfetzt, dreckig — noch mit dem Geruch der Schützengräben an sich. Die meisten haben nicht einmal einen Rucksack, aber ein Gewehr hat fast jeder von ihnen. Sie hüten es wie ihren Augapfel. Sie legen es nicht aus der Hand, auch beim Essen nicht. Und wie sie essen! Sie verschlingen alles — sie zerbeißen selbst die Knochen. Schon sind auch die Kessel leer. Noch, noch, noch! Sie zerreißen das Brot mit den Händen, sie zerschneiden das Fleisch mit dem Bajonett.
— Wo sind die Galgen? — fragte mich ein großer, schwarzer Kanonier mit hellen Augen und mit knochigem Gesicht.
— Nirgends.
— Wo werden die Halunken aufgehängt?
— Wir hängen nicht.
— Das ist eine Schmach — sagt er, sein Gesicht wird dunkelrot, nur die große hässliche Narbe über seinem Auge ist blass. Mit Spülwasser werden wir begossen — anstatt, dass----------
— Willst du Blut trinken, Goldmann? — fragt ein anderer Kanonier.
— Ja, Blut — sagt Goldmann.
Aus dem zum Lebensmittelmagazin verwandelten königlichen Empfangsraum wird das Bratfleisch in Waschkörben herausgeschleppt. Es ist keine Zeit, das Fleisch auf Schüsseln anzurichten, schon ist wieder ein neuer Zug da. Die auf den Wagendächern liegenden Soldaten schießen blindlings in die Luft.
Zwei Tage später stand Goldmann neben mir im selben Dienst. Auch er war durch Otto an diese Stelle gekommen.

— Wie? Du erkennst mich nicht?
— Aber doch, warte nur-----------
— In Molodetschno sahen wir uns zuletzt.
— Daniel Pojtek! Du siehst aus wie ein russischer
Bauer!
— Ich war ja Kriegsgefangener, zum Teufel noch mal. Was hast du denn getrieben, seitdem wir uns nicht gesehen haben?
— Ich bin im Gefängnis gewesen, und dann war ich interniert.
— Schön! — nickte Pojtek mit dem Kopf und 6chob 6eine riesige Pelzmütze zurecht. Ja, — hm, — hast du eine gute Adresse?
— Adresse?
— Ja, eine gute Adresse? Verstehst du mich nicht?
— Und ob ich dich verstehe. Warte nur. Ich habe eine. Ich bringe dich hin. Warte nur, wie machen wir das? Ja. Ich habe noch eine kleine halbe Stunde Dienst, dann bin ich bis morgen Mittag frei. Setz dich, oder leg dich hin für eine halbe Stunde, dann gehen wir zusammen in die Stadt.
— Sehr gut. In einer halben Stunde hol ich dich ab. Bis dahin sehe ich mich hier ein wenig um.
Ich brachte Pojtek noch abends mit dem Verwachsenen, mit dem Genossen Otto zusammen. Otto sagte uns, dass Gyulai nach Hause gefahren sei.
— Dieser Waschkorb enthält kein Brot, sondern Flugzettel. Niemand darf an die Dinger rankommen, außer dir oder Goldmann. Die Herren vom Nationalrat haben ein Telegramm unterschlagen, das Genosse Swerdlow, der Vorsitzende der russischen Räterepublik, an die ungarische Arbeiterschaft gesandt hat. Wir müssen dafür sorgen, dass die Botschaft der russischen Genossen nicht verschwiegen bleibt. Deine Aufgabe ist, in jedem Zug, der Soldaten heimholt, unter den Bänken und oben möglichst viele Flugzettel zu verstecken. Dann gib den Soldaten, die auch dann noch fluchen, wenn sie satt sind — , aber nur diesen — je einen Flugzettel. Mach's geschickt, wie wenn es auf Befehl des Nationalrates geschähe. Gib acht — es wäre sehr schade, wenn sie dich schon bald hinausschmeißen würden. Du verstehst mich?
— Ja.
Der Waschkorb wurde leer. Es kam ein neuer. Der wurde auch leer. Wenn ich nicht im Dienst war, arbeitete Goldmann — ich löste wiederum ihn ab — einer von uns war immer am Bahnhof. Am dritten Tag erwischte man mich, und ich wurde zum Bahnhofskommandanten geführt. Der Oberleutnant brüllte mich an, dann übergab er mich zwei Soldaten, die mich auf die Stadtkommandantur bringen sollten. Als wir auf die Straße kamen, ließen mich die Soldaten laufen. Bevor wir uns trennten, erzählte ich ihnen die Botschaft des Genossen Swerdlow.
— Dafür wollte dich das verfluchte Schwein einsperren lassen? Wie könnte ich einige hundert von den Zetteln herbekommen — ich werde sie so verteilen, dass kein Herrgott dahinter kommt.
— Schreibe mir auf, wohin du sie geschickt haben willst, du bekommst sie noch heute.
Ich ging geradewegs zu Otto, er ließ mich noch am selben Tag nach Hause fahren. Ich musste mich bei Gyulai melden.

Ich fuhr auf dem Dach eines Waggons, sonst war nirgends mehr Platz. Neben mir lagen Bauernburschen aus Bereg. Sie waren schon seit zwei Wochen unterwegs. Zwei Wochen sind eine lange Zeit — sie hatten den Krieg ganz vergessen. Sie sprachen kein Sterbenswörtlein von dem, was geschehen war, das Gespräch richtete sich auf das, was wohl die Zukunft bringen werde: ob man den Boden aufteilen wird...
— Wir haben nicht umsonst gelitten, Bruder. — Das Land----------das Land----------
— Es heißt, die Revolution zahlt jedem Soldaten dreihundertsechzig Kronen---------------
— Sie gibt Pferd und Pflug zum Ackern----------
— Die Kriegsunterstützung treib ich beim Dorfnotar ein, der Hurenbock! Der Schuft hat von den Unterstützungsgeldern mehr gestohlen, als er ausbezahlt hat. Als ich während meiner Urlaubszeit für meine Familie etwas forderte — hetzte er die Gendarmen auf mich. Na warte nur, du Kerl — schick mal jetzt Gendarmen zu mir, wenn du Mut hast!
Wenn einer hungrig wurde, kletterte er an einer Station vom Dach herunter und holte sich Essen in seiner Mütze. Wein bekamen wir nur heimlich. Der Nationalrat hatte das Weintrinken verboten. Das Essen war meistens noch mit Blumen und grünen Zweigen geschmückt. Wir waren aufgeputzt wie Hochzeitspferde.
Die Fahrt, die sonst kaum einen Tag beanspruchte, dauerte jetzt anderthalb Tage. Es war Abend, als ich ankam. Ich war hundemüde. Der kalte Wind zerbiss mir Gesicht und Hände, sie waren feuerrot. Ich ging nicht gleich zu Gyulai — ich suchte vorher meine Mutter auf. Sie sah aus, wie wenn sie in dem kurzen Jahr, in dem ich sie nicht gesehen hatte, um zehn Jahre älter geworden wäre. Ihr Haar war ganz weiß, ihr Gesicht voller Runzeln, der Rücken gebeugt, der ganze Körper zusammengeschrumpft.
— Mein lieber Sohn! Mein treuer lieber Junge! Als sie mich erblickte, brach sie in Tränen aus, als ob
sie die Nachricht von meinem Tod erhalten hätte.
— Lass den Jungen Wein trinken, nicht Salzwasser — sagte mein Onkel zur Mutter. Trink und iss, ruh dich aus, Peter, du hast dich lange genug geplagt — sagte er zu mir.
— Genosse Nemes ist Regierungskommissar des Komitats geworden — erzählte mein Onkel, als ich den Dreck der Reise abgescheuert hatte und wir uns zu Tisch setzten. — Ich bin auch Mitglied des städtischen Nationalrates — ich bin von der sozialdemokratischen Partei hineingeschickt worden.
— Onkel ist Sozialdemokrat geworden? — fragte ich verwundert.
— Gewiss. Ich habe mein Leben lang immer mit dem Volk gefühlt, sollte ich es jetzt im Stich lassen, wo man erfahrene Köpfe am meisten benötigt? Denn das arme Ungarn war noch nie in einer solchen Not wie heute. Der Tscheche, der Rumäne — jeder Hund beißt uns ins Fleisch, um uns gleich darauf das Gewehr aus der Hand zu drehen. Und wie sieht es im eigenen Haus aus! Die Leute begreifen nicht diese große Zeit — sie begreifen nicht, was Revolution heißt. Keiner will arbeiten — aber alle fordern höheren Lohn; und wenn sie ihn nicht erhalten, kommen die Arbeiter mit Drohungen.
Der Bauer plündert und brandschatzt. Heute kam die Nachricht, dass das Räubergesindel das Schloss des Herrschaftspächters in Dobos vollständig ausgeplündert hat — den Wein haben sie ausgesoffen, das Vieh fortgetrieben, ein Glück, dass sie ihn selbst nicht ermordet haben. Genosse Nemes hat einen Zug Gendarmen nach Dobos gesandt, aber das Volk ist so verwildert, dass es schwer war, mit aufgepflanzten Bajonetten die Ordnung wiederherzustellen. Hier in der Stadt hält die Volkswehr die Ordnung aufrecht — du musst auch in die Volkswehr eintreten. Wir dachten daran, dass es gut wäre, eine Bürgerwehr zu organisieren. Genosse Nemes sieht auch ein, dass das notwendig ist, aber leider sind ihm die Hände gebunden. Tja, die Genossen. Der Hauptmann Töggyössy wollte eine zionistische Garde organisieren — die jüdischen Gutspächter hatten für Sold, Kost und Fahnen binnen zwei Tagen hunderttausend Kronen zusammengebracht, aber es haben sich nur zwei Offiziere als Zionisten gemeldet, so ist aus dieser Sache nichts geworden. Wir leben in verflucht schlechten Zeiten, mein Junge!
Schon am frühen Morgen suchte ich Gyulai auf, d. h. ich dachte acht Uhr morgens sei noch sehr früh, aber bei Gyulai war schon lange alles auf den Beinen. Auf dem Hof standen einige Bauernwagen. Drinnen in Gyulais Zimmer gab es große Besprechungen. Eisenbahner, Bauern, Ziegeleiarbeiter berieten miteinander— etwa zehn bis zwölf Mann. Das Zimmer war voll dichter Rauchwolken — wahrscheinlich saßen die Genossen schon lange da.
Gyulai trug keine Militäruniform mehr. Neben ihm saß der alte Hubchen, unter dessen Hand ich meine erste Lehrzeit verbracht hatte.
— Du kommst zur rechten Zeit — sagte Gyulai — du kannst schon heute antreten. Du musst nach Nameny fahren. Du fährst auf einem Bauernwagen. Onkel Kenyeres nimmt dich mit. Er erklärt dir unterwegs alles, was du wissen musst. Aber das eine kann ich dir jetzt schon sagen, dass du ganz besonders vorsichtig sein musst, denn Nemes' Gendarmen verstehen keinen Spaß. Gestern haben sie Hajos in Tarpa halbtot geschlagen — du erinnerst dich noch an Hajos.
— Er wohnte in unserem Hof, er hat mich in die Eisenbahn Werkstatt gebracht.
— Natürlich kennst du ihn, er hat dich ja auch in die Bewegung eingeführt. Ja, er wurde gestern in Tarpa halbtot geprügelt. Jetzt kann er monatelang das Bett hüten und man muss noch froh sein, wenn er kein Krüppel bleibt.
— Du musst dich sehr in acht nehmen — sagte auch der alte Hubchen — , Nemes ist zu jeder Niedertracht fähig. Wir dürften vielleicht Peter überhaupt nicht dahin schicken, ehe er mit den Verhältnissen ganz vertraut ist — sagte Hubchen noch zu Gyulai.
— Peter ist kein Kind mehr, wir brauchen ihn nicht mehr am Gängelband zu führen. Er wird schon seinen Mann stehen. Und dann — wir haben sonst niemanden bei der Hand, den wir nach Nameny schicken könnten. Du gehst zur Versammlung der Eisenbahner, Dudas geht in die Ziegelfabrik, ich muss nach Tarpa gehen — die Genossen müssen nach Hause ins Dorf — wen sollen wir nach Nameny schicken? Hajos hätte hingehen sollen. Einen geeigneteren Genossen als Peter könnten wir gar nicht finden. Er ist in Nameny geboren, sein Vater war Stallknecht bei Sigmund Braun, — den Kopf hat er
auch am richtigen Fleck, mit einem Wort----------willst
du nach Nameny gehen, Peter?
— Ja. Was gibt's denn dort?
— Du sollst in einer Versammlung reden. Du musst dem Landvolk klarmachen, dass sie vergebens darauf warten, dass ihnen die Regierung den Boden gibt — der Boden ist da, wozu noch warten, die Bauern müssen sich den Boden nehmen. Hast du die Botschaft der russischen Genossen gelesen?
— Ja, ich habe sie gelesen.
— Du wirst auch darüber sprechen. Und auch von anderen Dingen, die mit Russland zusammenhängen. Erwähne mit ein paar Worten auch den Dorfnotar. Noch immer ist der alte Schuft in Nameny Notar, der damals die Gendarmen auf deinen Vater gehetzt hat. Der muss zum Teufel geschickt werden. Verstehst du?
— Ja.
— Also verstanden. Vater Kenyeres, Ihr könnt abfahren. Es schadet nichts, wenn Ihr etwas früher da ankommt, noch bevor sich die Leute versammelt haben. Peter kann sich vor der Versammlung noch ein wenig umsehen.
— Ich bin soweit.
— Onkel Michel, Ihr seid immer noch bei Brauns im Dienst? — fragte ich den Alten, als wir im Wagen saßen.
— Ja — sagte der Alte und schnappte nach Luft, wie wenn ihn der Fluch, der auf seiner Zunge lag, zu ersticken drohte. — Bei dem Brot, das der einem zukommen lässt, wird der Mensch ganz elend, nur noch Haut und Knochen, eine wahre Vogelscheuche. Ich wollte schon immer aus Nameny fortgehen, aber wo sollte ich hingehen? In Nameny gehört das Land Brauns, in Tarpa gehört es Mendel — und was weiter kommt, beherrschen alles die Grafen Schönborn, die die Arbeitsknechte noch niederträchtiger behandeln als Brauns. Wo sollte ich hingehen?
— Ist Joska auch bei Brauns?
— Joska? Erinnerst du dich denn noch an ihn?
— Gewiss. Wir sind im gleichen Alter. Wir zwei haben einmal das Fenster vom Speicher eingeschlagen — der Aufseher hat uns tüchtig durchgewichst — ich kann mich auch noch erinnern, wie Joska in den Bach gefallen ist — Ist Joska jetzt zu Hause?
Der Alte senkte den Kopf.
— Er ist in Italien geblieben — sagte er leise. — Joska fiel durch eine Kugel. Ich kriege es nicht fertig, ich kann's nicht aussprechen, wie der Berg heißt, wo ihn die Kugel traf. Nur eine Postkarte vom Roten Kreuz erhielten wir — darauf stand: Heldentod gestorben. Joska
----------Du hast oft mit ihm gespielt? Ihr wart gute
Freunde. Schon als kleiner Junge saß er auf dem Pferd -----------Er liebte die Pferde-----------Heldentod gestorben. Wir bekamen auch keine Unterstützung wegen seiner — es kam uns nicht zu. Der Notar sagte, es komme uns nicht zu. Nichts kam uns zu, als die Karte vom Roten Kreuz — Heldentod gestorben. Erinnerst du dich an den Dorfnotar?
— Ja, ich erinnere mich. Er hieß Okulicsany.
— Er ist noch immer da. Du sollst ihn auch nicht vergessen. Erinnerst du dich auch an den Aufseher Istvan Toth?
— Gewiss erinnere ich mich; er lief immer mit der Reitpeitsche herum.
— Ja, das ist er. Ich sage dir, Peter, es gibt keine Gerechtigkeit, wenn der nicht am Galgen endet. Der Herr Aufseher Istvan Toth, ein Büffel von einem Mann, der war nicht Soldat. Der Stuhlrichter auch nicht. Die haben die Italiener nicht erschossen, und ihre Knochen sind auch nicht abgenagt vom Hunger. Sie sind alle fett geworden. Die wussten auch nichts davon, dass es kein Petroleum, keinen Zucker, keinen Tabak, kein Geld gab — die Frauen der Eingerückten, alles gehörte ihnen, wer wagte, den Mund aufzumachen, dem schickten sie die Gendarmen auf den Hals. Vergiss es nicht, vergiss es nicht, Istvan Toth heißt der Aufseher.
Eine kleine Stunde später, als man von weiter Entfernung das Blechdach der Namenyer Kirche wahrnehmen konnte, dachte ich zum ersten Mal daran, dass ich bisher noch nie öffentlich gesprochen hatte. Im Gefängnis, im Interniertenlager verschwieg ich nie meine Ansichten, aber hier sich vor eine Menge Menschen hinzustellen und zu sprechen — mir wurde plötzlich heiß bei diesem Gedanken. Vater Kenyeres zog seine Augenbrauen über den graublauen mattglänzenden Augen zusammen und sah mir zweifelnd ins Gesicht, wie wenn er ahnte, weshalb sich meine Miene plötzlich verändert hatte.
— Kannst du denn auch wirklich sprechen, Peter?
— Ja, schon — sagte ich etwas unsicher.
— Wo hast du's gelernt?
— Im Gefängnis.
— Richtig, Junge — nickte Vater Kenyeres und zog seinen grauen, in den Mund hängenden Schnurrbart mit seiner linken Hand straff auseinander. — Sehr richtig — wiederholte er, und schlug auf die Pferde ein.
— Djü! Djü!
Der Kirchturm war klar zu sehen, dann erkannte ich Brauns Haus mit den roten Dachziegeln — wie das Kreuz mit dem Christus am Dorfende verkommen ist! Die alte vom Blitz getroffene Eiche, von der es heißt, dass seinerzeit der Landesfürst Rakoczy — als er aus dem Land flüchtete — dort gerastet habe, — hat sich gar nicht verändert. Sie ist so alt und so trocken, dass die Zeit keine Lust hat, sie anzugreifen. Noch eine Einbiegung, dann die große verfallende Flussbrücke, — bei der man stets Angst hat, dass sie zusammenbricht, wenn die Dreschmaschine über sie fährt — und wir sind im Ort.
— Na, was ist los? Was ist passiert?
— Vater Kenyeres merkte sofort, dass etwas im Dorf vorgefallen war, während er in der Stadt war — es ist erst fünf Stunden her und schon ist's-----------
Hier hielten wir keine Versammlung ab, es war keine mehr nötig. Am frühen Morgen hatten die Bauern mit Heugabeln den Dorfnotar erschlagen. Sie hatten auch die Tür zu Istvan Toths Wohnung erbrochen, aber der Halunke war verschwunden. Sie suchten ihn vergebens, sie konnten ihn nicht finden. Über einem riesigen Feuer wurde ein Bratspieß gedreht — das ganze Dorf, klein und groß, saß um das Feuer herum. Wer auf dem Hof keinen Platz fand, der wartete, an den Zaun gelehnt, was geschehen werde. Ein paar Bauern, die aus Russland zurückgekommen waren, führten das Wort, aber auch den anderen löste sich die Zunge — jeder wusste, was jetzt zu machen war — nur dass jeder etwas anderes wusste.
— Hier ist ein Genosse aus der Stadt, der sich auf die Revolution versteht — empfahl Vater Kenyeres lebhaft.
— Was versteht einer aus der Stadt vom Boden. Er weiß vielleicht, dass es Dreck und Kot gibt, wenn's regnet.
— Wir brauchen uns von anderen Leuten keinen Verstand zu leihen. Haben wir vielleicht nur dazu einen Kopf, dass die Gendarmen ihn einschlagen können?
— Also ist Genosse Peter Kovacs für euch nur so ein hergelaufener Fatzke aus der Stadt — sagte Vater Kenyeres plötzlich ganz zornig. — Der Vater dieses Jungen ist im Gefängnis gestorben, so müsst ihr ihn betrachten. Wessen Verstand soweit zurückreicht, der wird sich erinnern — der Vater des Genossen Peter, Joseph Kovacs, hat sich sein Recht nicht nehmen lassen, er hat zur Heugabel gegriffen. Der Junge aber erst, der saß im Komitatsgefängnis — so müsst ihr ihn einschätzen. Christus predigte schon, aber auch Vater Kossuth sagte, wenn jemand in Büchern sein Gehirn schärfte, so darf man ihn nicht gleich schief ansehen — nicht jeder ist ein Halunke, der studiert hat. Nein!
Ich sandte schnell einen Boten zu Gyulai. Ich bat ihn um Rat. Bis die Antwort kam, unternahm ich alles Mögliche, damit nicht das ganze Dorf zerstört wurde. Da es mir nicht gelang, Brauns Weinkeller richtig abzuschließen, waren alle Bemühungen umsonst, auch die Jungen, die aus Russland gekommen waren, versuchten alles Mögliche vergebens. Als es dunkel wurde, sah man kaum einen Menschen, der nicht singend durch die Straßen torkelte. Gegen Abend benachrichtigte ich Gyulai zum zweiten Mal, und als es finster wurde, legten wir an den beiden Enden des Dorfes auf der Landstraße große Lagerfeuer an. Neben den Lagerfeuern wachten mit Heugabeln ausgerüstete Posten — Burschen, die aus Russland gekommen waren, zwei von ihnen waren erst gestern angekommen. Die halbe Nacht wachte ich mit ihnen am Feuer, dann ging ich an das andere Ende des Dorfes hinüber. Da war es schon mit dem Johlen zu Ende. Betrunkene lagen da und dort herum. Ich wartete ungeduldig auf Gyulais Antwort — ich ging bis zur Rakoczy-Eiche dem Boten entgegen. Ich wartete immerzu, aber er kam nicht. Es kam niemand, ich bekam keine Antwort auf meine Nachricht. Gegen Morgen, als das Wachfeuer nicht mehr nötig war, ging ich aufs Gemeindehaus und legte mich hin. Ich nahm mir fest vor, nicht einzuschlafen, aber der Schlaf überwältigte mich doch. Als ich erwachte, brannte das Strohdach des Hauses in hellen Flammen. Drei Gendarmen brachen in das Zimmer ein----------Als ich aufsprang, versetzte mir der eine — ohne einen Laut zu sagen — einen solchen Schlag mit dem Gewehrkolben, dass ich sogleich wieder hinfiel.
Als ich zu Bewusstsein kam, lag ich im Gefängnis des Komitatshauses. Vater Kenyeres hatte meinen Kopf mit seinem Hemdärmel verbunden. Unter dem Verband sickerte langsam Blut hervor. Ich war hundemüde, alles tat mir weh, es fiel mir schwer zu sprechen — und da auch der alte Kenyeres nicht gerade gesprächig war, erfuhr ich erst viel später von ihm, dass es mehr als zehn Tote gegeben hatte — so hatten die Gendarmen Ordnung geschaffen!
Die Nacht durch lagen wir auf nassem, stinkendem Stroh. Der Alte nahm meinen Kopf in den Schoß. Ich hatte Fieber und zitterte.
Am nächsten Morgen wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert.
Zwölf Tage lag ich im Krankenhaus. Als der Arzt mich für gesund erklärte, holte mich ein Kriminalbeamter ab. Der Kriminalbeamte brachte mich nicht ins Gefängnis zurück, er führte mich direkt aufs Stadthaus in das Zimmer, wo sich früher der Komitatspräsident befand — und wo jetzt der Regierungskommissar Nemes amtierte. Der Kriminalbeamte flüsterte dem Sekretär des Regierungskommissars etwas ins Ohr, der nickte mit dem Kopf, worauf der Kriminalbeamte sich entfernte. Der Sekretär bot mir einen Stuhl an, er selbst ging zum Regierungskommissar hinein. Einige Augenblicke später kam er zurück und winkte mir zu. Da ich die stumme Aufforderung nicht verstand, kam er zu mir hin und sagte, indem er sich verneigte:
— Der Regierungskommissar erwartet Sie. Nemes fasste mit beiden Händen meine Hand.
— Es freut mich, es freut mich sehr, dass Sie wieder gesund sind, lieber Genosse Kovacs. Ich war Ihretwegen sehr besorgt. Gerade genug Opfer hat das verantwortungslose, wahnsinnige Treiben Gyulais gefordert. Natürlich hat der Regimentsarzt für sich selbst gesorgt
— er flüchtete rechtzeitig nach Budapest — und ließ Sie allein in der Gefahr zurück. Wenn ich mich nicht um Sie gekümmert hätte, wären Sie alle dort umgekommen. Er rührt für niemanden einen Finger. Und gerade jetzt hätten wir alle erprobten Menschen besonders nötig. Die Tschechen sind hier in der Nähe, und wenn wir uns nicht zusammenraffen, sind sie bald in der Stadt.
Nemes sprach, die Worte strömten aus seinem Mund
— ich hätte nicht stummer sein können, wenn man mich nochmals auf den Kopf geschlagen hätte.
— Die Soldaten wollen nicht gegen den Feind kämpfen, die Tschechen erobern mit ein paar hundert Leuten ganze Komitate — klagte Nemes — der Bauer nimmt um keinen Preis das Gewehr in die Hand. Denen ist das Vaterland nichts. Die Arbeiter verlangen jetzt, in der größten Gefahr, Lohnerhöhung, sie schrecken sogar vor dem Streik nicht zurück und denken nicht daran, in welche Gefahr sie die junge Revolution infolge ihres egoistischen, kurzsichtigen Leichtsinns stürzen.
Während Nemes mir vorjammerte, hatte ich genügend Zeit, das riesige dreifenstrige Zimmer mit den eleganten Möbeln zu betrachten. Ich setzte mich bequem in den braunen Lederfauteuil zurück und blickte auf das Bild König Karls, das hinter Nemes an der Wand hing und das die Revolution hier vergessen hatte.
— - Hören Sie, lieber Genosse Kovacs, ich weiß, dass Sie ein guter, ehrlicher Sozialdemokrat sind, der — wie auch ich — bereit ist, sein Leben für die Volksrepublik zu opfern. Vielleicht wissen Sie es noch nicht, wir haben den König vor mehr als zwei Wochen vom Thron gestürzt — ja — Ungarn ist eine Volksrepublik. Ja. Also passen Sie auf, lieber Genosse. Es handelt sich darum, dass wir keine Soldaten haben. Die wenigen, die wir besitzen, die benötigen wir hier in der Stadt zur Unterdrückung der latenten, sich heimlich organisierenden Gegenrevolution. Denn die Gegenrevolution ist in jedem Augenblick bereit, uns auf den Kopf zu schlagen — ja — und sie erwartet die Tschechen mit weitgeöffneten Armen, denen sind die Tschechen noch immer lieber als die Republik. Der Bischof von Nyitra — ein Graf Battyanyi — hat den Tschechen den Eid geleistet. Allein dieses Beispiel besagt, dass der Aristokratie die Tschechen willkommener sind als die Republik. Aus diesem Beispiel muss das Volk lernen, dass wir seine Freunde sind und die Tschechen seine Feinde. Na ja, Sie, lieber Genosse, werden sich fragen, weshalb ich Ihnen das alles erzähle. Deshalb, weil Sie das Landvolk kennen, Sie reden ihre Sprache, und gerade solche Menschen braucht die Revolution jetzt. Aus Budapest bekam ich die Weisung, dass ich freiwillige Truppen gegen die Tschechen organisieren soll. Einige gewesene Soldaten, jüngere Bauern, ein paar Arbeiter, ein bis zwei verlässliche Offiziere, mehr brauchen wir dann nicht. Wenn man die Tschechen ansieht, laufen sie schon davon. Sehen Sie, lieber Genosse, wenn Sie sich ernstlich der Sache widmen wollten, könnten Sie uns viel nützen, Sie könnten den Bauern bestimmt verständlich machen, dass das Schicksal der Revolution wichtiger ist als die elende Bodenaufteilung, die sich die Bauern gerade jetzt im Augenblick der größten Gefahr in den Kopf gesetzt haben. Ich will ja nichts sagen, die Zeit wird schon kommen, wo wir die Bodenaufteilung durchführen werden, aber vorher müssen wir die Tschechen aus dem Land jagen, damit wir Boden zum Aufteilen haben. Geld, Gewehre, alles was zur Ausrüstung eines kleinen Heeres nötig ist, ist vorhanden, nur Soldaten fehlen. Ich würde gern die Organisierung der freien Truppen Ihnen und dem Herrn Hauptmann Töggyössy überlassen. Na, was sagen Sie dazu?
Bisher konnte ich nur vor Offizieren oder Gendarmen lügen, aber während Nemes sprach, wurde es mir klar, dass ich auch hier lügen musste. Gewiss sah ich die Dinge damals noch nicht so klar wie heute, ich hätte nicht recht sagen können, weshalb ich lügen musste, aber das eine fühlte ich schon damals, dass, trotzdem der Herr Regierungsrat und ich in derselben Partei waren, er ein Feind und kein Genosse war.
— Na, wie denken Sie? — fragte er mit liebenswürdigem Lächeln.
— Na ja — ich werde es versuchen — und mir blieb das Wort in der Kehle stecken.
— Sehr schön, sehr schön, ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht, Genosse Kovacs. Wenn man solange in der Arbeiterbewegung steht wie ich — genügt mir ein Wort, und ich kann schon beurteilen, was los ist. Und mit uns wollen diese Hergelaufenen konkurrieren! Na ja. Mit einem Wort, wir sind einig. Es ist wirklich eine Freude für mich, Genosse Kovacs. Sie werden diesen Tag nicht bereuen! Die Volksrepublik wird sich nicht undankbar zeigen gegenüber ihren Beschützern. Keinesfalls. Also — ja — was die Details anbelangt, das werden Sie mit Herrn Gendarmeriehauptmann Töggyössy besprechen. Töggyössy steht mit Leib und Seele zu unserer Sache. Suchen Sie ihn in der Kaserne auf, ich gebe Ihnen einen Brief für ihn mit.
— Der Hauptmann Töggyössy wird sich wahrscheinlich bei Ihnen erkundigen, lieber Genosse, — sagte Nemes und unterbrach sich einen Augenblick beim Briefschreiben — es wird den Herrn Hauptmann interessieren, zu erfahren, was Gyulai den Leuten in Nameny versprochen hat, wenn sie seinen langjährigen persönlichen Feind Okulicsany um die Ecke bringen würden. Wenn Sie bei dem Handel nicht anwesend gewesen sein sollten, können Sie selbstverständlich keine Auskunft geben, wir haben ja ohnehin genügend Zeugen, die gegen Gyulai ausgesagt haben.
Nemes gab mir einen verschlossenen Brief mit und zum Schluss eine feine Zigarette. Und was das Wichtigste war: ich ging ohne Begleitung eines Gendarmen oder eines Kriminalbeamten auf die Straße. Als ich draußen war, sah ich mich nochmals um, ob mir jemand folgte, und dann rannte ich Hals über Kopf zum Bahnhof, direkt zu Hubchen in die Werkstatt — er hatte mich dreimal im Krankenhaus besucht, man ließ uns aber nie unter vier Augen sprechen. Ich hatte Glück, der Alte war in der Werkstatt.
— Ist Gyulai nach Pest gefahren?
— Ja — . Im letzten Moment gelang es mir, mit ihm zu flüchten. Dieser Schuft, der Nemes, und der Hauptmann Töggyössy arrangierten eine direkte Hetzjagd gegen ihn. Sie würden ihn in Stücke zerreißen wenn sie ihn fassen könnten. Szekeres, der Buchhalter aus der Ziegelfabrik — ich glaube du kennst ihn — hat die Sache übernommen. Wenn du Gyulai triffst, kannst du ihm sagen, dass alles in Ordnung vor sich geht. Jetzt musst du aber sofort verduften; wenn du auch weiter nichts tust, wirst du wieder eingesperrt, weil du den Herrn Regierungskommissar so zum Narren gehalten hast. In einer Stunde fährt der Zug nach Budapest.
Eine Stunde später saß ich im Zug und am nächsten Morgen stieg ich am Ostbahnhof aus.

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