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Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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„Wie ist die Sitzung des Gemeinderats in deinem Ort verlaufen? Mir scheint, ich habe etwas in den Lokalnachrichten gelesen ..."
„Ohne ernste Zwischenfälle", antworte ich. „Die Volksparteiler haben den glücklichen Gedanken gehabt, den Geburtstag ihres Mitbürgers General Bava-Beccaris festlich zu begehen. Es ist der, der in Mailand die Ordnung mit Kanonen wiederhergestellt hat und von den Frömmlern bei uns vergöttert wird. Ich habe das Wort verlangt im Namen der Minderheit, und ich habe im Namen der Arbeiter der Opfer des Generals gedacht. Es hat eine kleine Schlägerei gegeben. Die paar Faschisten, die zur Unterstützung der Volksparteiler unter dem Publikum waren, haben sich eingemischt. Es hat ein paar Faustschläge und blaue Augen gegeben. Das war alles."
Gramsci lächelte. Allmählich trafen die Arbeiter ein. Es waren Delegierte aus den Abteilungen der Turiner Großbetriebe.
Die Versammlung wird eröffnet. Die Delegierten erstatten genauen und ins einzelne gehenden Bericht. Es sind Arbeiter, die gekämpft haben und noch immer kämpfen. Sie analysieren die Lage und entwerfen Pläne. Das ist nicht mehr das leere Gerede eines großen sozialistischen Abgeordneten. Hier studiert die organisierte und disziplinierte Masse ihre Probleme.
Dann spricht Gramsci. Er ist kein Redner, er ist ein Denker. Die Arbeiter verstehen ihn, sie fühlen, dass er ihr Führer ist, sie hören zu und stellen Fragen.
Der „Ordine Nuovo" ist von der Reaktion demoliert worden.
Die Reaktion hat gesiegt.
Aber die Wurzeln sind geblieben. Die Arbeiterklasse, die ihre Probleme ins Auge gefasst hat und weiß, wie sie gelöst werden müssen, muss siegen.

Der Kongress des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes hatte den Anschluss an die Rote Gewerkschaftsinternationale bestätigt, aber D'Aragona und die Reformisten hintertrieben die Durchführung des Beschlusses. Wir kommunistischen Gewerkschaftssekretäre lagen uns mit den Führern des Bundes immer in den Haaren. Man wollte uns aus dem Wege räumen. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund wollte, wie die Regierung, in allen Verbänden seine „Präfekten" einsetzen. Gegen die Reaktion wollte er nicht kämpfen, wohl aber gegen die Kommunisten.
Hat nicht in Turin der damalige Sekretär des Metallarbeiterverbandes, Buozzi, die Reaktion und die Ermordung des Genossen Ferrero, des Sekretärs der Ortsgruppe Turin, durch einen Faschisten dazu benutzt, die Führung der Ortsgruppe, die in ihrer großen Mehrheit immer für die Kommunisten gewesen war, an sich zu reißen?
Trotz der Reaktion ließ die Arbeit auch in meiner Provinz nicht nach. Als ich einmal unterwegs war, um eine Versammlung von streikenden Textilarbeiterinnen zu leiten, wurde ich im Zuge von Faschisten überfallen. Wortlos schlug einer von ihnen mir mit einem Knüppel über den Kopf. Mein Kopf dröhnte entsetzlich, dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem mir unbekannten Zimmer. Um mich herum standen Leute. Ich konnte mich nicht rühren. Ein scharfer Schmerz wühlte im Kopf, im rechten Schienbein und in den Schultern. An den ersten Schlag erinnerte ich mich noch, an die anderen nicht mehr. Offenbar hatten die Helden im schwarzen Hemd mich verprügelt, als ich ohnmächtig am Boden lag. Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte mich um. Ein Postenkommandant hatte das Wort ergriffen. Er sagte:
„Sie haben Glück gehabt, das kann ich Ihnen sagen."
Ich war nicht allzu überzeugt, aber wenn die Obrigkeit spricht ...
„Ganz bestimmt", fuhr er fort, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. „Wenn Sie nicht bewusstlos geworden wären, hätten Sie noch viel mehr abbekommen. Auch untereinander haben sie sich geschlagen." „Wo bin ich hier?" fragte ich. „Seien Sie unbesorgt", erwiderte ein anderer Unbekannter, „Sie sind bei anständigen Leuten."
Auf dem ersten Bahnhof hatte man mich aus dem Zuge getragen, und ich befand mich im Hause eines Bäckers, dessen Backstube in der Nähe der Haltestelle lag.
Ich wandte mich wieder an den Carabiniere und sagte: „Meinen Sie im Ernst, dass ich Glück gehabt habe?" „Gewiss, verhältnismäßig natürlich. Der Doktor wird gleich kommen. Inzwischen können Sie die Anzeige an die Behörden schreiben."
„Entschuldigen Sie, Sie haben doch wohl den Auftritt mit
angesehen ..."
„Das schon", sagte der Carabiniere ein wenig verlegen, „aber ich war im anderen Wagen ..."
„Da hätten Sie", fuhr ich fort, „einen von meinen Angreifern am Kragen packen können, und die Anzeige war fertig."
Der Maresciallo schwieg. Dann meinte er: „Schreiben Sie doch die Anzeige." Er holte Papier und Bleistift hervor. „Bemühen Sie sich nicht, Maresciallo. Mir genügt der Schaden, auf den Spott kann ich verzichten. Sie haben Anweisung, die Augen zuzudrücken. Wir wissen das. Wir helfen uns schon selbst, wenn es möglich ist. Lassen wir das Thema."
Der Carabiniere entgegnete nichts. Meine Glieder waren heil geblieben, abgesehen vom Kopf. Aber der ist hart wie die Felsen der Alpen und war bald wieder in Ordnung. Nur das Bein machte mir noch einige Zeit zu schaffen.

Wir näherten uns den neuen Wahlen. Giolitti wollte, während er die faschistischen Banden unterstützte, die Spaltung der Arbeiterschaft für Neuwahlen benutzen. Diesmal stand er auf einer Liste mit dem Faschisten De Vecchi, dem Mörder Ferreros, Berrutis und Dutzender von anderen Turiner Arbeitern.
Wir hatten es besonders schwer. Die Massen verstanden die Spaltung noch nicht. Wenige Tage vor den Wahlen (man suchte nach den Waffen, die während der Fabrikbesetzung in Sicherheit gebracht worden waren) wurde das Gewerkschaftshaus in Fossano (der ehemalige Lagerraum), das vor den Faschisten bewahrt geblieben war, zur Hälfte von der Polizei demoliert. Man vermutete darin die Waffen, fand aber auch diesmal nichts. Sie kamen immer zu spät.
Unsere Partei hatte die Kampagne für die Einheit des Proletariats, für die bewaffnete Verteidigung der Organisationen und für den Kampf eröffnet, während die Sozialistische Partei am 5. August mit der faschistischen Partei den schändlichen Versöhnungspakt unterzeichnete, der praktisch die Entwaffnung der Proletarier bedeutete und ein blutiger Hohn auf das Proletariat war, das der Sozialistischen Partei folgte. Der Pakt wurde unterzeichnet von dem Räuberhauptmann Mussolini, von De Vecchi, der wenige Monate zuvor in Turin gemordet und gebrandschatzt hatte, von Cesarino Rossi und mehreren anderen, von Bacci und Zannerini für die Sozialistische Partei, von Morgari und Musatti für die Parlamentsfraktion der Sozialistischen Partei, von Baldesi, Galli und Caporali für den Allgemeinen Gewerkschaftsbund und vom Präsidenten der Kammer.
Wir stürzten uns verzweifelt in die Propaganda für eine Aktion der Arbeiterschaft. Eine einmütige, tatkräftige bewaffnete Aktion hätte den Erdrutsch aufhalten können. Unsere Aktion konkretisierte sich in dem Vorschlag zur Bildung einer Einheitsfront. Die Reformisten waren dagegen. Dann erklärten sie sich eines Tages plötzlich bereit, der vom Allgemeinen Gewerkschaftsbund, der Syndikalistischen Union und der Eisenbahnergewerkschaft gebildeten „Alleanza del Lavoro" beizutreten. Jetzt hatten sie es anscheinend eilig. Ohne angemessene Vorbereitung wurde der Generalstreik ausgerufen. Ein Geheimkomitee war ernannt worden.
Obwohl nicht die geringsten Vorbereitungen getroffen worden waren, verlief der erste Streiktag erfolgreich. In meiner Provinz war der Ausstand fast allgemein. Azzario bereiste im Auftrage der Partei andere Provinzen. Ich suchte auf einem Motorrad mit Beiwagen, während die Polizei in allen Ecken nach mir forschte, die größeren Städte der Provinz auf. Mit einem guten, zuverlässigen und mutigen Genossen als Chauffeur war ich unterwegs, um den Genossen Mut zu machen und ihnen die Flugblätter oder die Nachrichten, die ich aus Turin erhielt, zu überbringen.
Ü berall war der Streik gelungen, und überall sagte man mir: „Die Carabinieri suchen dich." Die Verhaftungen waren bereits zahlreich und gingen weiter. Ich setzte meine Fahrt fort und aß in den Dorfgasthäusern, wo ich mich vor Carabinieri und Polizisten sicher fühlen konnte. Während des ganzen Streiks erwischten sie mich nicht. In Saluzzo, wo unsere Zeitung „La Riscossa" gedruckt wurde, arbeiteten nur unsere Drucker. Unterwegs versah ich sie mit Material. Dort erwarteten mich die Carabinieri mit offenen Armen auf der Gebirgsseite. Ich kam aber von der anderen Seite und konnte mit den Genossen sprechen. Der Unterpräfekt wollte mich sprechen. Ich rief auf der Präfektur an. Der Unterpräfekt erklärte mir persönlich:
„Kommen Sie sofort auf die Präfektur, ich muss Sie dringend sprechen."
„Tut mir leid, aber ich bin nicht betrunken. Was wünschen Sie?"
„Hören Sie, Sie wollen ein Flugblatt veröffentlichen. Ich bin bereit, es zu genehmigen, wenn Sie die Gasarbeiter zur Arbeit schicken", sagte der Kreisvorsteher.
„Hören Sie, Herr Unterpräfekt, das Flugblatt ist entweder zulässig oder nicht, eins von beiden. Wenn es nicht zulässig ist, kann es auch nicht zulässig werden, wenn ich, wie Sie vorschlagen, die Gasarbeiter zur Arbeit schicke, und umgekehrt."
Ich hängte auf und reiste sofort ab.
Ich musste nach Cuneo zurück. Dort war die Sache schwieriger wegen der Torsteuer. Ich versuchte es gegen Mitternacht. Mit der großen Brille und der großen Mütze sah ich ganz verwandelt aus. Ein schlaftrunkener Zollbeamter kam, um zu sehen, ob wir Waren bei uns hatten. Wir fuhren in die Stadt. Trotz der späten Stunde herrschte noch reges Leben. Wir begaben uns nach dem Hause eines Genossen von der Provinzorganisation. Seine Frau sagte uns, es sei die Nachricht eingetroffen, dass der Generalstreik abgebrochen sei, und ihr Mann sei im Gewerkschaftshaus.
In der Umgebung des Gewerkschaftshauses wimmelte es von Menschen. Ich gelangte ohne Schwierigkeiten in den Saal, in dem der sozialistische Abgeordnete der Provinz sprach. Ich erzähle diese Episode, um zu zeigen, welcher Geist die italienischen Arbeiter trotz ihrer vielen Niederlagen beseelte. Der Abgeordnete also erklärte:
„Genossen! Die italienischen Arbeiter haben trotz der brutalen Reaktion, die sich auf ihre Organisationen stürzt, einen wunderbaren Schwung bewiesen, als sie geschlossen dem Appell des Geheimkomitees der Alleanza del Lavoro folgten. Unsere Gegner wissen jetzt, dass wir da sind. Ihr müsst nun die Arbeit wieder aufnehmen ..."
Missfälliges Gemurmel und Unruhe im Saal ...
„Diese Anweisung kommt vom Komitee der Alleanza del Lavoro. Vor einer Viertelstunde hat der Präfekt persönlich mir das mitgeteilt. Der Präfekt kann keine falschen Nachrichten in die Welt setzen ..."
„Ich bitte ums Wort!" rief ich aus dem Hintergrund des Saales.
Allgemeine Überraschung. Dann wurde ich von den Genossen, die dicht gedrängt den Saal füllten, herzlich begrüßt.
Ich ging auf die Tribüne. Obwohl auf alles gefasst, war ich doch erstaunt über die Nachricht und glaubte, da ich die Naivität des sozialistischen Abgeordneten kannte, noch immer, sie sei ein Querschuss der Regierung.
„Der Genosse Abgeordnete weiß sehr gut, dass die Anweisung zur Einstellung des Streiks durch ein vereinbartes Telegramm an das Ortskomitee und nicht von den Polizeipräfekten der Regierung kommen muss. Sich auf den Präfekten als Garanten für die Glaubwürdigkeit zu berufen, das ist mindestens naiv. Ich jedenfalls als Sekretär des Provinzkomitees fordere die Genossen auf, weiter zu streiken. Wenn die Anweisung zum Streikabbruch richtig ist — ich trage kein Bedenken, diese Maßnahme schon jetzt als schändlichen Verrat zu bezeichnen —, dann muss sie mir von den Genossen des Geheimkomitees zugehen und nicht als Mitteilung des Polizeichefs der Provinz. Genossen, streikt weiter!"
Lebhafter, langanhaltender Beifall antwortete meinen wenigen Worten. Draußen gaben andere Genossen meine Worte weiter. Natürlich verbrachte ich die Nacht im Gefängnis, weil die Polizisten mich nicht mehr entwischen ließen. Der Polizeipräsident war wütend.
„Wo sind Sie gewesen? Ein schönes Benehmen, die Leute in den Streik zu hetzen und dann im Stich zu lassen..."
Unglaublich, aber wahr — dieser würdige Polizist behandelt mich wie einen Verräter an der Arbeiterklasse, um sich dafür schadlos zu halten, dass es ihm nicht gelungen war, mich rechtzeitig zu verhaften.
Am Morgen traf das verabredete Telegramm über die Einstellung des Streiks ein. Der Kommissar rächte sich für seine Niederlage dadurch, dass er mich festhielt, während er die anderen entließ.
Die Banden, die während des Streiks verschwunden waren, gingen nun mit noch größerer Brutalität gegen die Arbeiter und Bauern vor.

In diesen Tagen — ich war gerade erst aus dem Gefängnis gekommen — erhielt ich vom Exekutivkomitee der Partei die Mitteilung, dass ich als Delegierter am IV. Kongress der Kommunistischen Internationale und am II. Kongress der Gewerkschaftsinternationale teilnehmen sollte ... Meine Aufregung war unbeschreiblich. Ich sollte versuchen, einen Pass zu bekommen. Ich begab mich auf die Präfektur. Im allgemeinen ist es in Italien sehr umständlich, einen Pass zu bekommen. Ich beantragte ihn rechtzeitig, weil ich damit rechnete, dass es mindestens einen Monat dauern würde. Der Kommissar war überrascht:
„Wie? Sie wollen ins Ausland? Im Grunde halte ich das für richtig", sagte er. „Sie wollen doch dort bleiben, nicht
wahr?"
„Ja, ja", erwiderte ich. Das Gesicht des Beamten drückte Genugtuung aus. Einer weniger, dachte er wohl.
„Dauert es lange, bis ich den Pass bekomme?" fragte ich. „Nein, nein, kommen Sie in drei Tagen wieder." Nach drei Tagen kam ich wieder und erhielt — unglaublich, aber wahr — den Pass. Der Beamte hatte es eilig, mich loszuwerden. Er war auch höflich und wünschte mir eine glückliche Reise.
„Ihre Kollegen an der Grenze werden mir doch keinen Streich spielen?" fragte ich. „Aber ich bitte Sie!" Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, er beherrschte
sich aber.
Damals suchte man unerwünschte Elemente ins Ausland abzuschieben. Heute ist das anders.
Die Tage bis zu meiner Abreise nach Russland waren für mich eine Qual. Ständig fürchtete ich, ein Zwischenfall oder eine Verhaftung könnten meine Abreise verhindern.
Eines Morgens sagten mir die Polizisten, die am Gewerkschaftshaus Wache hielten: „Der Kommissar will Sie sofort sprechen." Das Herz schlug mir bis in den Hals. Da haben wir die Bescherung, dachte ich.
Zu den Verbrechen, die ich in meinem Journalistenleben begangen habe, gehört auch eine Majestätsbeleidigung. Ich habe den Mut gehabt, Viktor Emanuel von Savoyen zu beleidigen. Diesem Umstand verdankte ich die Vorladung seitens des Kommissars zwecks Einleitung einer Untersuchung.
Es war gegen Ende August 1922. Die regierungsamtliche Agentur „Stefani" hatte eine sehr ausführliche Meldung veröffentlicht, in der es hieß: „Seine Majestät, unser geliebter Herrscher, hat ungeachtet der Gefahr, der er sich aussetzte, bei einem Brande, der in Valdieri im Hause eines einfachen Gebirgsbewohners ausgebrochen ist, bei der Löschung des Feuers Hilfe geleistet." Die Nachricht wurde in ganz Italien wie ein großes Ereignis verbreitet. Ich hatte, nachdem ich bei unserem Korrespondenten in Valdieri Informationen eingezogen hatte, eine Glosse mit der Unterschrift Barbadirame verfasst, in der ich erklärte: „Viktor hat nicht einmal einen Eimer Wasser ins Feuer gegossen, aber auch wenn er es getan hätte, wäre er, wie mir scheint, mit sechzehn Millionen Goldlire Gehalt gut bezahlt." Viele Feuerwehrleute, fügte ich hinzu, hätten ihr Leben gelassen durch Sturz von den Leitern oder durch Erstickung. Ihre Familien hätten ein paar Tausend Lire erhalten, ohne dass die „Stefani" auch nur ein Wort darüber verloren habe. Daran hatte der König, wie es scheint, Anstoß genommen.
Der Kommissar verlangte, ich sollte mich als Verfasser der Glosse bekennen.
„Ich unterschreibe nichts", sagte ich.
„Wir wissen, dass Sie Barbadirame sind."
„Ich unterschreibe nicht. Sie wissen nichts."
Ich dachte an die russische Revolution, an Lenin, an den Kongress.
„Sie haben also nicht den Mut, für das einzustehen, was Sie schreiben", meinte der Beamte.
„Den Trick kenne ich, einen bei der Ehre packen und so weiter, bei mir zieht das nicht", erwiderte ich. „Sagen Sie mir lieber, Herr Kommissar, ob Sie den Artikel gelesen haben und ob darin etwas steht, was nicht der Wahrheit entspricht. Ich bin bereit, dem ,Beleidigten' gegenüber den Gegenbeweis anzutreten."
„Ich verbiete Ihnen, so von Seiner Majestät, dem König von Italien, zu sprechen!" brüllte der Kommissar. Dann ließ er mich gehen.
Auf der Straße atmete ich auf. Zwei Tage später fuhr ich ab.
Es war das erste Mal, dass ich legal die Grenze des „Vaterlandes" überschritt. Ich fühlte mich irgendwie unsicher...
Ein andermal, als ich nach Paris fahren sollte, um in dem Prozess gegen Loriot, Monmousseau, Souvarine und Monatte als Zeuge auszusagen, war ich von den italienischen Behörden in Bardonecchia verhaftet worden, und statt vor Gericht auszusagen, verbrachte ich einige Tage im Gefängnis und wurde dann mit einem Zwangspaß in meine Heimat befördert. Ich habe daher kein allzu großes Vertrauen zu den Pässen, die die italienische Regierung ausstellt. Sie haben mir niemals Glück gebracht. Diesmal kam ich durch, weil man hoffte, ich würde nicht zurückkehren.
Nach zehn Tagen umarmten wir drei oder vier Delegierten an einem kalten Morgen Anfang Oktober den ersten russischen Wachposten, auf den wir vor dem Bahnhof von Sebesh stießen, aßen wir den ersten „Borschtsch", spürten wir zum ersten Mal die grimmige Kälte des russischen Winters. Wir waren auf dem Boden der siegreichen Oktoberrevolution, auf dem Wege nach Moskau, der roten Hochburg, die vom Proletariat so geliebt und von der Bourgeoisie so gehasst wird.

Lenin! Kein Mensch ist in der ganzen Welt je so in aller Munde gewesen wie Lenin. In Italien war er in den entlegensten Dörfern und unter den Massen der großen Städte, in den über die Steilhänge der Alpen verstreuten Hütten und in den Kasernen bekannt. Greise und Kinder wussten, dass er unser großer Genosse war. Überall habe ich seinen Namen gesehen, in den großen Betrieben, an den Eisenbahnzügen, an den Wänden der Dorfkirchen und in den Gefängnissen, in den Kasernen und in den Katakomben von Rom. Tausende von Kindern tragen seinen Namen. Zahllose Zentner Metall sind verarbeitet worden, um Abzeichen mit seinem Bilde herzustellen. Nun sollte ich ihn sehen und ihn sprechen hören.
Auf dem Bahnhof in Moskau Musik und Fahnen. In Leningrad — damals noch Petrograd — ein Meer von Arbeitern und ein Wald von Fahnen. Die Empfänge in den Fabriken, in den Klubs, in den Kasernen. So großartig hatten wir uns das nicht vorgestellt.
Und dann der Vorbeimarsch der Arbeiter vor unserer Tribüne auf dem Roten Platz. Stundenlang zogen die Massen vorüber und grüßten die Vertreter der Bruderparteien der Kommunistischen Internationale. Keiner von uns spürte noch die Kälte, obwohl unsere Mäntel für dieses Klima wenig geeignet waren, das sich so sehr von dem in Neapel oder Rom, in Genua oder Florenz, in Turin oder Mailand unterschied.
Im Kreml wurde dann die „Internationale" im Gleichklang gesungen in mehr als fünfzig verschiedenen Sprachen.
An dem Tage, an dem Lenin seine Rede hielt, waren wir alle ungeduldig, ihn zu sehen, ihn zu begrüßen, ihm unsere Begeisterung auszudrücken.
Ich sah ihn in den Gängen des Kremls, mit seiner Mütze. So vieles wollte ich ihm sagen, brachte aber nur: „Bonjour, camarade Lenine!" hervor.
„Bonjour", antwortete er mir. „Bist du Franzose?"
„Nein, ich bin Italiener."
„Ich spreche ein bisschen Italienisch ..."
Sogleich war er von Kongressteilnehmern umringt.
Ein Genosse von unserer Delegation, ein Arbeiter aus Neapel, der Lenin die Grüße der Genossen seines Betriebes überbringen sollte, blieb bei seinem Anblick stocksteif stehen und konnte kein Wort hervorbringen. Dann ergriff er Lenins Hand und küsste sie.
Als Lenin die Tribüne betrat, empfing ihn stürmischer Beifall. Alle Anwesenden erhoben sich und klatschten. Dann sangen wir die „Internationale".
Immer sehe ich seine Augen vor mir. Sein Blick hat sich mir unvergesslich eingeprägt. Nach den Sitzungen habe ich ihn noch einmal im Kreml gesehen. Er sprach langsam und einfach. Ich war ungeduldig, denn diesmal sprach er deutsch, so dass ich nichts verstand, und ich musste auf die französische Übersetzung warten.

Der IV. Kongress der Kommunistischen Internationale gewann für unsere Partei besondere Bedeutung. Er leitete die Trennung der Mehrheit der italienischen Delegation von Bordiga ein. Die italienische Frage wurde in der Kommission ausführlich erörtert. Ich entsinne mich noch der langen Nachtsitzungen, der Auseinandersetzungen, der Zweifel der Delegierten und schließlich der Abstimmung, bei der Bordiga in der Minderheit blieb. Es war im Thronsaal des Kremls. Ich hatte den Vorsitz. Es war sehr schwierig, in einer so wichtigen Sitzung von Italienern die Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten.
Dann begann für unsere neue Parteiführung die sehr schwierige Arbeit, die Partei völlig auf die Plattform der Internationale zu bringen. Seitdem sind fast sieben Jahre vergangen. Unsere Partei, geboren in einer Zeit stürmischer Kämpfe, ist im Kampf gegen den Faschismus gestählt worden. Viele haben ihr Leben gelassen, aber die Partei ist auf dem Posten geblieben. Sie ist die einzige Partei, die nicht nur den Sturm überstanden, sondern gekämpft hat und weiter gegen den Faschismus kämpft. Es ist klar, dass die Erfahrungen und die Anleitung der Kommunistischen Internationale uns dazu befähigt haben, dem Faschismus Widerstand zu leisten und zu kämpfen.
Der Genosse Lenin wirkte, wie stets, auch auf dem IV. Kongress an der Lösung der italienischen Frage mit.
Die Nachricht von dem faschistischen Marsch auf Rom — er erfolgte in Sonderzügen, die von der Eisenbahndirektion zur Verfügung gestellt wurden — erreichte uns während des Kongresses in Moskau. Die Meldungen waren unklar und widersprachen sich. Die Einzelheiten über die Aktion, blutige Einzelheiten, wie die Ermordung Ferreros, Berrutis und zahlloser anderer tapferer Kämpfer, die Zerstörungen, die Gesetzesverletzungen, die unerhörten Gewalttätigkeiten gegen die Arbeiterklasse und die Bauern, wurden uns in Berlin bekannt.
Die Rückkehr der Delegation ins „Vaterland" musste illegal erfolgen. Nur ein einziger Delegierter lehnte die Rückkehr nach Italien ab. Heute ist er aus der Partei ausgeschlossen und sitzt nicht im Zuchthaus. (Anm.: Es handelt sich um Bombacci.)
Die Einreise musste im Dezember erfolgen, während in den Alpen Schneestürme tobten. Ich fuhr — bei meinem Zustande ging es nicht anders — mit zwei Genossinnen und elf Koffern, den Koffern der Genossen, mit der Bahn. Wir trafen als letzte ein, als die andern schon über die Grenze waren.
Ein Schwarm von Polizisten und Faschisten umringte uns und stürzte sich auf unsere Koffer. Der Grenzkommissar — er kam jedes Jahr in die Provinz Cuneo, um den Sicherheitsdienst während des Aufenthaltes des Königs in Valdieri zu leiten — kannte mich persönlich. ,
Wir mussten uns bis auf die Haut ausziehen und wurden durchsucht, wie ich nie in meinem Leben durchsucht worden bin. Die Leibesvisitation dauerte ziemlich lange. Dann begann die Durchsuchung der Koffer, die die ganze Nacht in Anspruch nahm ... Beschlagnahmt wurden ein paar unbedeutende Kleinigkeiten, die später im Prozess eine Rolle spielten. Schließlich entließ man uns.
Wir waren noch ganz erfüllt von dem kurzen Besuch im revolutionären Russland, von dem Kongress der Kommunistischen Internationale und der Gewerkschaftsinternationale, von den Besichtigungen der Moskauer und Leningrader Betriebe, von den Empfängen der russischen Arbeiter.
Die Grenzpolizei beförderte uns nach Mailand. Die Polizei in Mailand gab mir einen Zwangspaß nach meiner Geburtsstadt Turin. In Turin wollte man mich nicht haben. Ich bekam einen neuen Zwangspaß für Cuneo, wo mein letzter Wohnsitz gewesen war. In Cuneo erklärte mir die Polizei, ich hätte kein Recht, mich dort aufzuhalten.
„Aber hier ist mein Wohnsitz."
„Sie hätten besser getan, wenn Sie nicht zurückgekehrt wären", sagte der Kommissar, der mir in der Hoffnung, dass ich nicht zurückkehren würde, so bereitwillig den Pass ausgestellt hatte. „Wenn wir Ihnen einen Zwangspaß geben, erweisen wir Ihnen einen Dienst, denn wenn die Faschisten erfahren, dass Sie hier sind, werden Sie eine böse Viertelstunde erleben."
„Das bezweifle ich durchaus nicht", sagte ich, „aber ich glaube, Sie werden Ärger bekommen, wenn Sie mir den Pass ausstellen ... Nicht einmal in der Stadt, in der ich geboren bin, will man mich haben!"
„Ich gebe Ihnen einen Pass für Fossano."
Begleitet von den Carabinieri, reiste ich also nach dem Städtchen ab. In Fossano wurde ich gründlich durchsucht, und man beschlagnahmte die 7,5 Millionen Rubel in kleinen Scheinen (es war im Jahre 1922), die ich mitgebracht hatte, um sie als Andenken an Russland an die Genossen zu verteilen. Man kann sich den Aufruhr auf dem Polizeikommissariat vorstellen, auf dem auch die Faschisten waren, als ich seelenruhig eine ordentliche Quittung über die „Millionen" und noch dazu eine genaue Liste der Scheine mit entsprechenden Angaben über die Nummer und die Reihe verlangte. Der Polizeikommissar frohlockte: „Das ist russisches Geld!" Verlangend betrachtete er alle die Millionen. Ich wurde entlassen und erhielt die Anweisung, mein Haus nicht zu verlassen und mit niemand zu verkehren. Wahrscheinlich warteten sie auf Anweisungen.
Die Faschisten versammelten sich eiligst, um zu beratschlagen, was mit mir geschehen sollte. Zwei von ihnen lauerten Tag und Nacht mit dem Gewehr vor dem Hause, in dem ich wohnte. Alle, die den Hausflur betraten, wurden verhört und zurückgewiesen, wenn sie nicht in dem Gebäudeteil wohnten, in dem meine Familie lebte. Inzwischen diskutierten die anderen Faschisten in ihrem Parteihaus.
Da die Faschisten so laut brüllten, dass es bis auf die Straße zu hören war, erfuhr ich später, dass die Sitzung sehr stürmisch verlaufen und es dabei zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Drei Richtungen standen sich gegenüber. Die einen wollten, man sollte mich scheinbar ignorieren und dabei sorgfältig überwachen, um den Eindruck zu erwecken, dass es zu einem Kompromiss gekommen sei. Die anderen waren für Prügel, Rizinusöl und anschließende Ausweisung. Die dritte Richtung, die sich durchsetzte, war für die schlichte Ausweisung aus der ganzen Provinz.
Die Nachricht von meiner Ankunft hatte sich inzwischen rasch verbreitet. „Barbadirame ist aus Russland zurück!" Die Oktoberrevolution hat das italienische Proletariat immer fasziniert. Man kann sich also vorstellen, wie sehr es die Genossen des Städtchens (die Ortsgruppe bestand aus drei oder vier in der Entstehung begriffenen Zellen) verlangte, aus dem Munde eines bekannten Genossen, der Lenin gesehen und gehört hatte, etwas über die Sowjetrepublik und über den Kongress der Kommunistischen Internationale zu erfahren. Aber durch die Haustür kam niemand.
Es war im Januar. Auf der verlassenen Straße sah ich vom Fenster aus die beiden Schwarzhemden mit ihren Gewehren, die auf und ab gingen, um sich zu erwärmen. Gegen zehn Uhr abends, als ich mit meinen Angehörigen am Kamin plauderte, klopfte es.
„Da haben wir's", dachte ich, „wahrscheinlich kommen Sie mich verhaften."
Ich öffnete. Es war ein Genosse.
„Wie bist du hereingekommen?" fragte ich erfreut.
„Die andern kommen auch alle", lautete die Antwort.
Tatsächlich trafen sie einer nach dem andern leise und vergnügt ein. Sie waren über das Dach eines Nachbarhauses zu mir gelangt, dessen Eingang in einer Parallelstraße lag. Wir veranstalteten sofort eine Sitzung zur Berichterstattung. Bei gelöschtem Licht beobachteten wir von dem Fenster an der Straßenseite aus abwechselnd die beiden treuen Wächter.
Um drei Uhr morgens sprach ich noch immer. Die Fragen der Genossen nahmen kein Ende. Ich erzählte ihnen von dem Kongress, von Lenin, von den Besuchen in den Betrieben, in den Genossenschaften, in den Kasernen, in den Klubs. Ihr Interesse und ihre Freude waren grenzenlos. Und grenzenlos war ihr Vertrauen zu der Arbeiterklasse, die den Zarismus gestürzt hatte, und zu dem Genossen Lenin.
Wir trennten uns nach drei, da die Genossen ein wenig ruhen mussten, ehe sie wieder zur Arbeit gingen. Unten auf der Straße wachten noch immer die beiden Faschisten an der verschlossenen Haustür.
Später erschienen mehrere von ihnen in meiner Wohnung. Sie händigten mir den Ausweisungsbefehl aus. (Die Ausweisung bestand in dem Verbot des Aufenthalts in einer Stadt, einer Provinz oder einem Gebiet.) Auch der Kommissar und ziemlich viele Carabinieri waren dabei. Man brachte mich aufs Kommissariat, wo mir das „russische Geld" ausgehändigt wurde. Der Kommissar, der vom Wechselkurs und von der Inflation wenig verstand, machte ein verdrießliches Gesicht. Vielleicht hatte er sich durch die Beschlagnahme einer so ungeheuren Summe „russischen Geldes" eine Beförderung erhofft, aber ...
Noch heute denke ich an die beiden Faschisten, die, während ich den Genossen in jener nebligen Januarnacht des Jahres 1925 Bericht erstattete, in meinem Städtchen unten auf der Straße mit dem Gewehr auf der Schulter so gut Wache hielten.
Vor meiner Abreise hatte ich eine merkwürdige Begegnung. Auf der Straße traf ich den General Capello. Er war bei seinen Verwandten in Fossano zu Besuch. Er kannte mich und erklärte mir bei der Begrüßung, die Verfolgungen seien eine Ehre für diejenigen, die sie träfen. Damals ahnte der General Capello, der im Kriege eine Armee geführt hatte, noch nicht, dass er im Zuchthaus enden sollte, von der faschistischen Justiz als Mitschuldiger Zanibonis beim ersten Attentat zu dreißig Jahren verurteilt.
Jetzt sitzt der General Capello, ein Freimaurer und Antifaschist, in San Stefano, in dem gleichen Gefängnis wie der Genosse Terracini. Es ist eines der furchtbarsten Gefängnisse. Passanante und Bresci, die ein Attentat auf den König von Italien verübt haben, und der berühmte Räuber Musolino aus Kalabrien (nicht zu verwechseln mit dem anderen Räuber, der heute Italien regiert!) sind dort verrückt geworden.

Die Polizei von Fossano erhielt also den Auftrag, den Ausweisungsbefehl der Faschisten gegen mich zu vollstrecken. Zur festgesetzten Stunde erschienen Faschisten und Carabinieri in meiner Wohnung. Ich hatte beschlossen, mich zu fügen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte eine Weigerung zur Folge gehabt, dass meine Mutter den Gewalttätigkeiten der Faschisten, die schon einen großen Teil meiner Bücher- und Zeitungensammlung verbrannt hatten, hätte beiwohnen müssen, und zweitens wollte ich die vorauszusehende — und später auch wirklich erfolgte — Verhaftung vermeiden, um illegal für die Partei weiterarbeiten zu können.
Es war ein großer Jammer für meine alte Mutter und für meine Schwester. Die Bande — es war nicht einmal ein Faschist aus dem Ort dabei, sie waren alle aus anderen Orten gekommen — drängte mich zum Aufbruch. Sie waren alle bewaffnet. Ich umarmte die Meinen. Niemand sprach ein Wort. Eine sechsjährige Nichte von mir — sie war wenige Monate später, nachdem der Mann meiner Schwester in den Krieg gezogen war, geboren worden — wohnte dem Auftritt bei, und plötzlich, ohne dass jemand ein Wort zu ihr gesagt hätte, schrie sie die Faschisten an: „Ihr seid alle gemein und schlecht!" Dann brach sie in Schluchzen aus.
Die Banditen im Schwarzhemd zuckten bei dieser Beschimpfung überrascht zusammen.
Auf dem Bahnhof sah ich viele Genossen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, winkten sie mir zu. Es war mir nicht möglich, mit einem von ihnen zu sprechen. Später erfuhr ich, dass mehrere von ihnen verhaftet und misshandelt wurden, weil sie zu meiner Verabschiedung gekommen waren. Zwei Faschisten und zwei Polizisten fuhren mit mir und brachten mich auf das Polizeikommissariat im Turiner Hauptbahnhof. Ich glaubte, die Ausweisung sei inzwischen in Verhaftung umgewandelt worden, aber es erwartete mich eine Überraschung. Ich wurde dem Kommissar vorgeführt, einem Giolittianer, den ich in Cuneo gekannt hatte.
„Was gibt es?" fragte er einen der beiden Polizisten.
„Wir haben den hier gebracht", sagte er und wies auf mich, „er ist aus Cuneo und aus der Provinz ausgewiesen."
Der Kommissar sprang auf.
„Sie gehen sofort hinaus!" sagte er zu den beiden Schwarzhemden.
Dann wandte er sich an die beiden Polizisten:
„Wer hat Ihnen den Befehl dazu gegeben?"
„Der Kommissar von Fossano, Herr D'Avanzo, hat es uns mündlich befohlen."
„Und so einen Befehl nehmen Sie entgegen? Steht die italienische Polizei unter dem Befehl einer Räuberbande? Es ist eine Schande. Der Herr Kommissar in Fossano hat sich geschämt, Ihnen einen schriftlichen Befehl zu geben ... Das alles ist beleidigend ..."
„Und Sie", wandte er sich an mich, „können gehen. Einstweilen jedenfalls denke ich nicht daran, die Befehle der Faschisten auszuführen. Es gibt noch Gesetze!"
Ich ging. Ich hatte achtzig Lire in der Tasche und keine Arbeit. Die Verbindungen mit den Genossen waren abgebrochen. Sehr viele von ihnen saßen im Gefängnis. Unsere Zeitung war erledigt. Das Gewerkschaftshaus war halb niedergebrannt und von der Polizei besetzt. Ich suchte Zuflucht bei einem Verwandten, der in einem kleinen Cafe arbeitete. Er verließ die Wohnung um fünf und kam um Mitternacht nach Hause. Ich schrieb Artikel über Russland für den „Lavoratore" in Triest. Ich schrieb im Bett, weil der Winter sehr streng und in der Wohnung kein Ofen war. Wenige Tage später erfuhr ich von der Verhaftung Bordigas und Azzarios. Dann wurden Grieco, Berti und viele Hundert andere verhaftet. Eines Abends sagte die Pförtnerfrau zu mir:
„Es sind zwei Herren gekommen und haben nach Ihnen gefragt." Dann sah sie sich vorsichtig um und fügte hinzu: „Es waren zwei Polizisten."
Die Sache war klar. Ich musste die Wohnung wechseln. Zu den Genossen zu gehen, war gefährlich. Eines Abends traf ich einen alten Freund, den ich längst aus den Augen verloren hatte. Er wusste von meinen Erlebnissen.
„Komm zu mir, da bist du in Sicherheit."
Ich willigte ein. Er brachte mich in eine Vorstadt von Turin, in ein Haus von nicht sehr vertrauenerweckendem Aussehen.
„Was machst du jetzt?" fragte ich, als wir zu Tisch gingen.
„Ich schlage mich durch. Anständig kann man ja nicht mehr leben. Du darfst dich nicht wundern. Mit dir kann ich offen reden. Ich kaufe und verkaufe Waren ... unbekannter Herkunft."
Da saß ich nun also. In diesem Hause drohte mir vielleicht nicht die Verhaftung durch die politische Polizei, wohl aber die durch die Gewerbe- oder die Sittenpolizei. Die ganze Nacht ging es hier ein und aus. Erst gegen Morgen hörte die Unruhe auf. Dann war die Arbeit zu Ende, und am Vormittag bis zum Mittag herrschte Ruhe. Die ehrbarsten Bewohner dieses Hauses waren, wie ich später erfuhr, die Taschendiebe und die Prostituierten. Die anderen waren Diebe und Einbrecher. Ich kam ohne Zwischenfall davon, weil ich nach vierundzwanzig Stunden unter einem Vorwand auszog.
Ich suchte Arbeit. Ich fand sie außerhalb der Stadt in einem kleinen Laden, in dem außer mir nur der Chef arbeitete, und wartete ab, was kommen würde. Der Chef gab seinen Angestellten Wohnung und Kost. Er war ein braver Mann und ernährte seine Frau und seine vier Kinder.
Ich griff wieder zum Rasiermesser und zur Schere. Ich war froh, dass ich Arbeit hatte. In den Laden kamen Fuhrleute, Sandverkäufer (der Laden lag nahe am Po) und Gärtner, alles schweigsame Menschen.
Die Verhaftungen gingen weiter. Die Bevölkerung wurde von den faschistischen Banden terrorisiert, die johlend durch die Stadt zogen.

Ich arbeitete seit einer Woche, als an einem Sonntagabend, als wir nach zwölfstündiger Arbeit den Laden schließen wollten, noch ein Kunde eintrat. Ehe ich ihm einen Wink geben konnte, fiel er mir um den Hals. Es war ein Genosse, der sich ebenfalls der Verhaftung entzogen hatte.
„Guten Tag, wie geht es dir? Ich habe gehört, dass du auf dem Kongress in Moskau gewesen und zurückgekehrt bist. Hast du Lenin gesehen?"
In einem Atemzuge stellte er noch viele andere Fragen, bis er endlich einen Wink von mir begriff. Aber da war es schon zu spät. Als er abgefertigt war, sagte er beim Abschied, er werde wiederkommen. „Ich halte dicht", erklärte er.
Wir gingen in die Wohnung hinauf. Auf dem Tisch dampfte das Nationalgericht: Spaghetti mit Tomatensoße. Der Chef war in Gedanken versunken. Ich spielte mit den Kindern, die mich gern hatten. Dann plauderten wir ein wenig. Als Maria, die Frau des Chefs, den Kaffee aufgetragen hatte und in das andere immer Zimmer gegangen war, sagte der Chef zu mir:
„Ich habe alles gehört, was Ihr Freund gesagt hat. Ich weiß auch, wie Sie heißen. Ich habe oft Ihre Artikel im ,Ordine Nuovo' gelesen, aber persönlich habe ich Sie nicht gekannt. Ich habe nicht geahnt, dass ich einen Genossen hier hatte ..."
Ich hörte zu, und mir ging ein Licht auf ...
„Ich bin ein Sympathisierender. Ich habe immer nach meinen bescheidenen Kräften gespendet und Propaganda gemacht, so gut ich es verstand."
Er stand auf, kramte in einer Schublade und zeigte mir einige Ausschnitte aus unserer Zeitung, in denen er als Spender genannt war.
„Was ich Ihnen jetzt sagen muss, zerreißt mir das Herz, aber es geht nicht anders. Ich habe Familie, und wenn die Faschisten erfahren, dass Sie hier arbeiten, schlagen sie mir alles kurz und klein. Sie verstehen mich." „Ich verstehe vollkommen", antwortete ich. „Ich zahle Ihnen zwei Wochen statt einer ..." Der wackere Mann war wirklich bekümmert. Ich ging und war wieder einmal obdachlos. Jeden Tag las ich die Schauergeschichten, die die römischen Zeitungen über die Kommunisten verbreiteten. Jeden Tag fanden Verhaftungen statt. Ich schlief bald hier, bald dort. In ein Hotel konnte ich aus zwei Gründen nicht gehen: erstens war ich knapp bei Kasse, und zweitens würde ich fast mit Sicherheit verhaftet werden. Mehrere Tage fand ich Zuflucht in einer Arbeiterfamilie. Das waren schöne Tage. Abends erzählte ich der am Ofen versammelten Familie — Vater, Mutter und fünf Söhne, die alle Arbeiter waren — von meiner Russlandreise.
Eines Morgens wurde ich verhaftet. In San Carlo wurde ich dem General Zamboni, dem ersten faschistischen Polizeipräsidenten von Turin, vorgeführt.
„Wo sind Sie bis jetzt gewesen?"
„In Turin."
„Wo haben Sie gewohnt?"
„Ich verweigere die Aussage."
„Gut, schafft ihn in den Neubau."
„Warum werde ich verhaftet?" fragte ich.
„Sie wissen es genau und besitzen die Frechheit, danach zu fragen?"
„Es ist mein gutes Recht, den offiziellen Grund zu erfahren."
„Schafft ihn fort!"
Man stieß mich hinaus.
Wenige Stunden danach begann die Rundfahrt durch Turin im Zellenwagen. Es mussten alle Kommissariate abgefahren werden, um die Gefangenen zu sammeln, die ins Gefängnis gebracht werden sollten. Der Wagen war in lauter kleine Zellen für je eine Person eingeteilt, aber in jeder dieser kleinen Zellen waren wir zu zweit. Vom Polizeipräsidium fuhren wir zum Neubau. Drei Viertel elf trafen wir dort ein.
In der Zelle mir gegenüber saßen zwei Frauen, eine weinende Prostituierte und eine alte Kartenlegerin, die auf der Straße arbeitete. Die Prostituierte fragte unter Tränen:
„Was werden sie mit mir machen? Werden sie mich lange festhalten?"
Die Kartenlegerin tröstete sie:
„Wenn es nicht so dunkel wäre, würde ich dir die Karten legen und könnte dir gleich alles sagen."
„Werden sie uns zusammenlegen?"
„Wenn sie uns zusammenlegen, lege ich dir die Karten. Aber auch ohne Karten kann ich die Zukunft voraussagen. Ich lese aus der Hand. Hast du Geld?"
„Ja, aber das haben die Carabinieri."
Dann waren wir an dem großen Tor des Neubaus. Nach Erledigung der Aufnahmeformalitäten und der unvermeidlichen Durchsuchung trat ich, ohne Hosenträger, ohne Schuhbänder und ohne Krawatte — man wollte mir auch den Stock fortnehmen, obwohl ich mich ohne Stütze nicht rühren kann! — in Begleitung des Wärters den Weg zum „Rundbau" an, um durch meinen „Flügel" in die Zelle Nr. 13 geführt zu werden.
Das Sonnenlicht fällt durch die Gitter und das Glasdach ein. Der so genannte Neubau — das Turiner Zellengefängnis — macht beinahe einen freundlichen Eindruck. In den langen Gängen hatten die Kalfaktoren mit dem Kessel voll der üblichen Brühe, die großartig als „Suppe" bezeichnet wird, in Anwesenheit des Wärters bereits die Portionen verteilt.
„Ein Neuer! "verkündete einer der Kalfaktoren und winkte mir zu. „Der kriegt heute kein Essen mehr", bemerkte der Wärter.
Das war kein Unglück; man brauchte nur den Duft zu riechen, den der Kessel ringsum hinterlassen hatte.
Ich grüßte die Kalfaktoren und trat in die Zelle, deren Tür sich klirrend hinter mir schloss. An dieses Geräusch habe ich mich längst gewöhnt, aber jedes Mal ruft es ein eigenartiges Gefühl in mir hervor, das ich nicht gleich überwinden kann. Es dauert aber nur einen Augenblick.
Die Zelle Nr. 13 war eine der üblichen Zellen, klein, finster und feucht. Obwohl sie nur für eine Person bestimmt war, befanden sich schon zwei andere Häftlinge darin. Wir begrüßten uns.
Als ich mich in einer bestimmten Weise nach der Ecke umsah, in der ich meine Sachen unterbringen wollte, sagte einer von ihnen sofort: „Man sieht, dass du kein Rekrut bist!" Er lachte über seinen Einfall.
Er verzehrte sein Essen auf dem einzigen vorhandenen Sitz, einem in die Wand eingelassenen Brett. Der andere lag auf dem Strohsack mit dem Napf neben sich. Er schlief aber nicht und aß auch nicht.
„Ja", antwortete ich, „ich bin ein alter Kunde."
„Bist du ein Krimineller?" fragte er mit vollem Munde weiter.
„Nein", erwiderte ich, „ich bin ein Politischer."
Der andere Häftling betrachtete mich von seinem Strohsack aus aufmerksam, während der erste mich halb mitleidig, halb bewundernd ansah.
„Ihr seid komische Kerle, ihr Politischen. Was so besonders schön daran ist, hierher zu kommen, ohne ,gearbeitet' oder sich mit den Carabinieri herumgeschlagen zu haben, kann ich nicht begreifen ... Der da", fügte er hinzu, als er merkte, dass ich unseren ausgestreckten Mitbewohner beobachtete, „ist ein Bettler. Er ist stumm wie ein Maulwurf und wimmelt von Lausen. Gestern habe ich gedacht, er spielt Theater, aber er hört nicht einmal einen Kanonenschuss. Du kannst ungeniert reden."
„Was möchtest du hören?" begann ich.
„Ihr habt es gut", fiel er mir ins Wort, „ihr macht euch keine Sorgen. Wir dagegen haben immer Pläne im Kopf. Man muss immer auf der Hut sein."
„Gewiss, gewiss", meinte ich.
Aber der andere war in Schwung gekommen.
„Mit dir kann ich reden. Ihr Politischen seid keine Schweine. Diesmal habe ich Pech gehabt, sie haben mich auf frischer Tat ertappt."
Er sprach rasch und mit gedämpfter Stimme, als freute er sich, einmal auspacken zu können.
Er war ein kräftiger Kerl, der einen Ochsen mit einem Fausthieb hätte niederstrecken können.
„Ich bin Spezialist", erklärte er mir, „ich arbeite an den Denkmälern."
Als er merkte, dass ich nichts begriff, erklärte er sich deutlicher.
„Ich bin Spezialist für Denkmalsdiebstähle. Ich füge niemand Schaden zu. Was ist dabei, wenn am Cavour-Denkmal eine Bronzeplatte fehlt, wenn am Denkmal Viktor Emanuels II., der auch ,Vater des Vaterlandes' genannt wird, weil er so viele Geliebte und so viele Kinder gehabt hat, ein Stück fehlt, wenn an einem anderen der vielen Denkmäler in Turin ein Meter von der Kette am Sockel fehlt? Ich lebe, weil Bronze gesucht ist und gut bezahlt wird. Ist ein Bronzering an einer Mühlspindel oder irgendwo anders in einer Fabrik nicht nützlicher als eine Kette um das Denkmal Karls des Glücklichen oder Emanuele Filibertos, die keiner von uns gekannt hat?" Er beobachtete die Wirkung seiner Gelehrsamkeit auf mich, bat mich um eine Zigarre und fuhr fort:
„Ich hatte meinen Beutel voll mit wunderschönen massiven, tadellosen Ketten, als ich Schritte hinter mir hörte. Ich drehte mich um: die Polente. Verfluchtes Pech! Ich wollte türmen, aber es war zu spät. Sie haben mich gepackt ... und nun bin ich hier. Der Untersuchungsrichter hat mich ordentlich gezwiebelt, aber Pustekuchen, ich verrate keinen ..." Er sah sich um und erzählte weiter:
„Ich habe einen falschen Namen angegeben. Da sie mich auf frischer Tat ertappt haben, werden sie mir ohne lange Untersuchung den Prozess machen. Mit meinem richtigen Namen würde ich wegen Rückfälligkeit im allgemeinen und im besonderen verurteilt werden, jetzt komme ich mit bedingter Verurteilung davon. Warum? Weil ich — hier senkte er nochmals die Stimme — den Namen eines lieben Freundes von mir angegeben habe, eines guten Kerls von Arbeiter, dem ich in Frankreich die Papiere gestohlen habe. Man kann nie wissen ... Bei solchen Gelegenheiten präge ich mir auch immer ganz genau alle Personalien ein. Man muss immer vorsorglich sein im Leben. Morgen beim Prozess werden sie mich unter diesem Namen zur Mindeststrafe mit bedingter Strafaussetzung verurteilen ..." Zufrieden rieb er sich die Hände.

Die Riegel rasselten. Zwei Wärter traten mit dem Oberwärter ein. Die Eisengitter wurden geprüft.
„Wer ist der Neue?" fragte der Oberwärter.
„Ich", antwortete ich.
Er musterte mich von oben herab.
„Sie sind Kommunist? Ich werde Ihnen den Kommunismus abgewöhnen ..."
Damit ging er.
Am Morgen wurde der Spezialist abgeholt. Zufrieden folgte er den Carabinieri.
„Ich komme bald zurück und hole meine Sachen. Dann gibst du mir deine Adresse, und ich benachrichtige deine Leute. Wir müssen uns doch helfen untereinander."
Der Tag verging langsam. Man wanderte auf und ab und rauchte. Eine Stunde durfte man an die Luft...
Die Suppe, die Kontrolle durch die Wärter — immer dasselbe, immer zur gleichen Stunde.
Der Bettler aß und schlief oder machte Jagd auf die Läuse in seinem dichten Bart und auf dem Kopf. Er zerquetschte sie auf dem Fußboden mit dem Daumennagel, ich hörte das Knacken immer wieder...
Gegen Abend öffnete sich plötzlich die Tür. Es war der Spezialist. Er schien zur Bestie geworden und grüßte niemand. Gereizt und nervös ging er auf und ab: „Verlass dich auf deine Freunde! So ein Schuft, so ein Lump, so ein Gauner!" Mit langen Schritten durchmaß er die Zelle, ohne sich um mich und den erschrockenen Bettler zu kümmern.
Ich begriff nichts. Vielleicht hatten sie seinen richtigen Namen entdeckt? Vielleicht glaubte er, ich sei das Schwein
gewesen?
„Was hast du?" fragte ich ihn. „Hat dich einer verraten?
Hast du mich im Verdacht?"
„Nicht doch!" erwiderte er und blieb stehen. „Verlas dich auf deine Freunde, auch auf die besten! Erinnerst du dich an den Lumpen, an den Gauner, an den Schuft, von dem ich dir gestern erzählt und den ich für einen Ehrenmann gehalten habe? Nun, er ist vorbestraft ... Der Schuft, der Lump ... Die Höchststrafe habe ich bekommen."
Er warf sich auf den Strohsack.
Tiefes Schweigen. In dem finsteren Gebäude waren nur der gleichmäßige Schritt der Wärter und die Rufe der Posten
zu hören ...
Es begannen die vorgeschriebenen zwölf Stunden Bettruhe ...
Am nächsten Tage wurde ich aus der Zelle Nr. 13 in Einzelhaft verlegt. Verhört wurde ich nicht, nach Hause durfte ich nicht schreiben. Dann brachte man mich in einen großen Durchgangsraum. Das bedeutete, dass ich bald abtransportiert werden sollte. Wohin? Wahrscheinlich nach Rom, zum
Prozess.
Aber warum wurde ich nicht verhört? Ich hatte keine Ahnung von den Vorgängen in der Außenwelt. Einige unbestimmte Nachrichten erhielt ich, als ich in dem Durchgangsraum war. Ein alter Zuchthäusler, der am Abend eingetroffen war, erzählte mir, dass viele Leute verhaftet würden, meistens Arbeiter. Er erzählte von niedergebrannten Genossenschaften, Misshandlungen und Morden.
„Die verfluchten Hunde!" schloss er seinen Bericht. Er war ein sympathischer und sauberer alter Mann.
„Haben Sie keine Angst, so zu reden? Sie können doch mal auf einen faschistischen Wärter stoßen!" warnte ich ihn.
„Das ist schon möglich", erwiderte er.
„Müssen Sie noch lange sitzen?"
„Ich habe nur drei Tage abzumachen", antwortete er. Als er sah, dass ich nichts begriff, fügte er hinzu:
„Die drei Tage bedeuten: heute, morgen und immer. Ich habe lebenslänglich Zuchthaus. Sechsundvierzig Jahre habe ich schon hinter mir! Ich habe einen umgebracht und büße dafür. Ein bisschen teuer ... andere morden und stehlen heute, wie ich es getan habe, und brauchen nicht zu büßen. Aber ich bin ja nun ein alter Mann."
Zu den schlimmsten Qualen für die Häftlinge gehört die ordnungsgemäße Überführung, das heißt die Fahrt im Zellenwagen. Ich glaube, diesen Wagen hat Giolitti erfunden, den Zellenwagen und das übrige. Ich habe diese vergnüglichen Reisen mehrmals gemacht.
Ich kenne ziemlich viele Leute im Ausland, die, wenn sie von den Schönheiten Italiens, von Venedig, von Rom, von Capri, von der Riviera sprechen, nicht einmal ahnen, dass von den 40 Millionen Italienern 39 3/4Millionen Italien überhaupt nicht kennen oder höchstens in den Zellenwagen beziehungsweise in den Viehwagen während des Krieges ein bisschen herumgekommen sind.
Während des Krieges bin ich mehrmals ordnungsgemäß überführt worden, einmal zum Beispiel von Garessio nach Fossano. Die beiden kleinen Städte liegen in derselben Provinz und sind nur etwa sechzig Kilometer voneinander entfernt. Ich habe, einschließlich der Aufenthalte, drei Tage für diese Reise gebraucht.
Ob man auf diese Weise überführt wird, bestimmt die Polizei. Für umstürzlerische Elemente wird die Maßnahme fast immer angeordnet, für gewöhnliche Verbrechen dagegen nur ausnahmsweise. Aber ich will ein Beispiel geben.
Rom ist von Turin etwa 660 Kilometer entfernt. Der Abendschnellzug, der von Turin um 20 Uhr 15 abgeht, trifft in Rom am nächsten Morgen um 7 Uhr 50 ein, braucht also weniger als zwölf Stunden. Mit dem Omnibus dauert die Fahrt achtzehn Stunden. Ich habe diese Reise folgendermaßen gemacht:
Ich lag in tiefem Schlaf auf dem Strohsack, trotz der Tierchen, die uns plagten, weil man sich ja im Leben an alles gewöhnt, als ich barsch geweckt wurde. Vor mir stand ein Gefängniswärter mit Laterne und Schlüsselbund.
„Ziehen Sie sich sofort an, Sie kommen weg. Die Carabinieri warten schon."
Ich zog mich an.
„Wie spät ist es?" fragte ich.
„Es ist zwei. Wir müssen uns beeilen, denn der Zug geht 7 Uhr 15 ab."
„Teufel nochmal!" sagte ich. „Mehr als fünf Stunden brauchen wir bis zum Bahnhof?" Vom Gefängnis bis zum Bahnhof an der Porta Nuova fährt man mit der Straßenbahn fünfzehn Minuten.
„Wir müssen die Kommissariate abfahren, um andere Häftlinge abzuholen."
Der Wärter war eine guter Kerl und unterhielt sich gern mit uns Politischen. Er half mir bei der Sachenabgabe im Magazin und brachte mich dann ins Aufnahmebüro. In dem großen Zimmer standen schon etwa zwanzig Häftlinge. Einige trugen numerierte Zuchthauskleider, andere Zivilkleidung. Alle Altersstufen waren vertreten. Manche waren abgerissen, andere gut gekleidet. Junge und Alte waren darunter. Während die Entlassungsformalitäten (Aushändigung des Geldes und der Sachen, Unterschrift, Fingerabdrücke und so weiter) erledigt wurden, wurde ein Häftling nach dem andern den Carabinieri übergeben und mit Handschellen gefesselt. Diese Handschellen haben mit den alten Ketten nichts gemein. Es handelt sich um eine Art von Armbändern, die wie ein großes E geformt sind und dann durch einen Eisenstab mit drei Löchern, in die die drei Spitzen des E sich einfügen, geschlossen werden. Das Schließen erfolgt mit einer durch ein Vorlegeschloß gesicherten Schraube. Die Eisenstäbe drücken furchtbar auf die Handgelenke. Die geringste Bewegung verursacht große Schmerzen. Dann werden die Häftlinge durch eine lange Kette miteinander verbunden.
Als ich an die Reihe kam und nach Erledigung der Formalitäten gefesselt werden sollte, weigerte ich mich und wies darauf hin, dass ich ohne Stock nicht gehen könne.
Der Transportführer wollte mich ohne Handschellen nicht übernehmen. Der Beamte erklärte ihm, dass ich auch ungefesselt nicht würde flüchten können.
Der andere gab nicht nach, ich auch nicht.
„Lassen Sie mich untersuchen!"
„Der Arzt schläft."
„Macht nicht so viele Umstände und legt ihm Handfesseln an", sagte der Transportführer. „Die Vorschrift verlangt es. Wenn er nicht gehen kann, soll er dafür sorgen, dass er nicht ins Gefängnis kommt. Wer ein Verbrechen begeht, muss auch büßen."
Man fesselte mich.
Ich war der letzte an der Kette. Nach und nach rollte die Kette sich auf, und ich musste mich in Bewegung setzen. Ohne Stock und mit den Handschellen nebst einem Bündel Wäsche konnte ich mich aber nicht bewegen. Ich rührte mich nicht. Mein Kettennachbar, ein alter Zuchthäusler mit seinem Bündel und einem Käfig, in dem ein Fink saß, blieb stehen. Auch die anderen blieben stehen, trotz des Gebrülls und der Flüche des Transportführers.
Es herrschte eine unglaubliche Solidarität unter den Zuchthäuslern. Kein Geschrei, keine Stöße, keine Beschimpfungen brachten die lange Reihe der Nummernträger in Bewegung.
Der Transportführer erklärte:
„Die Vorschrift besagt, dass alle Häftlinge Handschellen tragen müssen. Verstanden?"
„Natürlich habe ich verstanden", antwortete ich. „Wenden Sie nur die Vorschrift an! Sie können mir ja Handschellen anlegen und mich dann auf einer Bahre tragen lassen. Dann sind das Vaterland und die Vorschrift gerettet."
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