Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik
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Es war an einem Sommernachmittag, zu der Zeit, in der in den Provinzstädten nicht gearbeitet wird. Ich sah ihn kommen. Es war außerhalb der Arbeitszeit. Das wunderte mich sehr, denn er war pünktlich und methodisch. „Die Sache steht gut", sagte er beim Eintreten und begrüßte mich. „Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen." „Nehmen Sie Platz und sprechen Sie!" Ich glaubte, es handle sich um ein ganz ungewöhnliches Wunder. Der Domherr setzte sich, nahm eine tüchtige Prise Tabak und begann dann ernst und feierlich, wie es sich für einen Diener Gottes schickt: „Ich weiß, dass Sie Sozialist sind, dass Sie kein Gläubiger sind. Ich bin ein Knecht Gottes, ein unwürdiger Knecht Gottes, aber ich bemühe mich, ihm zu dienen." Ich sah ihn an und wusste nicht, worauf er hinauswollte. Nach einer neuen Prise Tabak fuhr er fort: „Sie wissen, wie sehr ich die Heilige Jungfrau von Lourdes verehre." „Aha", dachte ich. „Nun also, ich bin überzeugt, dass die Jungfrau von Lourdes Ihr Bein heilen wird. Die Genesung wird Sie bewahren vor dem falschen Wege, der ins Verderben führt, denn nur ein Wunder kann Sie überzeugen. Die Jungfrau, zu der ich seit Monaten für Sie bete, wird dies Wunder tun. Ich habe einen konkreten Vorschlag. Was auch Ihre Gegner heimlich sagen mögen — ich glaube, dass Sie arm sind. Sie werden daher die Kosten für eine Beteiligung an der Pilgerfahrt, die nächste Woche nach Lourdes abgeht, nicht tragen können. Ich habe Ersparnisse. Ich stelle Sie Ihnen für die Reise- und Aufenthaltskosten zur Verfügung. Sie werden genesen und sich so überzeugen müssen, dass Gott allmächtig ist. Sie sind intelligent, ehrlich und anständig. Sie werden ein vorzüglicher Missionar werden. Das wird ein Sieg des Glaubens sein." Der Domherr war in Eifer geraten und schwitzte, aus der Nase tropfte ihm Tabaksaft. Es war interessant. „Und wenn ich nicht gesund werde?" „Das ist ausgeschlossen. Wenn Sie nicht gesund werden, sollen Sie das Recht haben, alles zu schreiben, was Sie wollen ..." „Dieses Recht habe ich jetzt schon." Der Priester wischte sich den Schweiß ab, der in dicken Tropfen auf seiner Stirn stand. Er fing noch einmal an und redete lange. Sein Vortrag und die Hitze machten mich ein wenig schläfrig, und ich gab mir die größte Mühe, dagegen anzukämpfen. „Antworten Sie mir: Ja oder nein!" „Ich bin einverstanden", sagte ich halb im Schlaf. Der Domherr strahlte. „Ich mache sofort einen Platz in der zweiten Klasse fest. Morgen — ich muss mich ja auch rasieren lassen — komme ich mit der Fahrkarte und dem Ausweis wieder." Er verabschiedete sich und verschwand mit unglaublicher Geschwindigkeit. Ich bediente wieder die Kunden und vergaß den mit Schnupftabak besudelten Domherrn rasch. Am nächsten Tage ging die Stunde, in der der Domherr zu erscheinen pflegte, vorüber. Beim nächsten Mal war es ebenso. Eines Tages erhielt der Chef einen Brief. Der Domherr schrieb ihm: „Ich kann mich bei Ihnen nicht mehr bedienen lassen. Die Gründe teile ich Ihnen mündlich mit. Den Abonnementsbetrag füge ich bei und empfehle mich Ihnen." Der Chef sagte zu mir: „Der kommt nicht mehr, weil Sie ihn beleidigt haben." „Nicht einmal im Traum ... Er wollte mich nach Lourdes schicken, und ich habe angenommen. Was will er mehr?" Das Gesicht meines Chefs war ein einziges Fragezeichen. „Sie gehen nach Lourdes?" „Ich bin bereit dazu. Sie wissen, wie lange der Domherr mich schon dazu bewegen will. Neulich hat er mir angeboten, mich auf seine Kosten nach Lourdes zu schicken. Er hat die Fahrkarte kaufen wollen und ist nicht mehr wiedergekommen. Er wird seinen schlaueren Kollegen erzählt haben, dass er mich bekehrt hat, und dadurch haben Sie einen Kunden verloren." Die Geschichte machte die Runde im Ort. Ich habe den Domherrn nicht wieder gesehen. Ihm war ein Licht aufgegangen. Mussolini! Der Herausgeber des „Avanti" ist in der Sozialistischen Partei Italiens immer der eigentliche Führer der Partei gewesen. Die Herausgeber des „Avanti" haben jedoch alle ein schlimmes Ende genommen. Der erste, Bissolati, wurde schließlich Interventionist und Minister für nationale Propaganda während des Krieges. Dem Abgeordnetenhaus drohte er mit der Erschießung der Sozialisten. Enrico Ferri war der größte Hanswurst, den die italienische Politik kennt. Oddino Morgari ist heute Reformist, Treves ebenfalls. Serrati ist im Jahre 1924, nachdem er die Internationale lange bekämpft hatte, zur Kommunistischen Partei zurückgekehrt und hat seine Fehler eingesehen. Mussolini? Der Henker des italienischen Proletariats war vielleicht einer der populärsten Herausgeber des Organs der Sozialistischen Partei Italiens. Unter seiner Leitung war die Zeitung nicht mehr, wie unter Bissolati, Treves und Ferri, voll von endlos langen Artikeln und maskierten oder offenen Empfehlungen der Klassenzusammenarbeit, die einem schwer im Magen lagen, wie unter der Leitung Morgaris, sondern sie wurde ein richtiges Kampfblatt. Wenn ich die verstaubten Nummern des armen „Avanti" heute wieder lese, denke ich an den Misserfolg der Fabrikbesetzungen und an die Niederlage des italienischen Proletariats. Mussolini begeisterte die Parteimitglieder mit seiner Demagogie. Die Zeitung war voll von ... Mussolini. In den sechsspaltigen Titeln stand der Name Mussolini, wie jetzt im „Popolo d'Italia". Der Prozess von Roccagorga, der der Prozess gegen die Sozialistische Partei sein sollte, wurde zur Apotheose des künftigen Henkers des italienischen Proletariats. Seine Artikel waren unserer romanischen Mentalität angepasst. Worte, schwülstige Worte. Auch sein letztes Dokument, das Manifest gegen den Krieg, ist von dieser Art. Übrigens waren wir an diese Art von Propaganda gewöhnt. Der Sozialismus? Gerechtigkeit, Freiheit ... Wie war er zu verwirklichen? Durch Zusammenarbeit mit den fortgeschritteneren Schichten der Bourgeoisie und durch begeisternde und begeisterte Reden. Wie macht man Revolution? Die meisten Ortsgruppen blühten in der Zeit vor den Wahlen und starben am Tage danach. Mussolini hatte alle anderen mit seiner Demagogie überboten. Ich lernte ihn persönlich kennen in Mailand, dem Erscheinungsort des „Avanti", in einer kleinen Versammlung von Berichterstattern der Zeitung. Er erschien mir anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und dieser Eindruck verstärkte sich, als ich ihn hörte. Ich war enttäuscht! Er sprach immer nur von sich, von seinen Vorschlägen, von seinen Artikeln ... Es war kurz vor dem Kriege in Libyen. Er gab uns Direktiven, wie wir unsere Berichte schreiben sollten. Er sprach lange ... Gleichgültig unterzeichnete er die Berichterstatterausweise, die mir mit mehreren seiner Briefe bei den Haussuchungen abgenommen wurden. Man spürte den Genossen nicht. Zwischen den anderen Redakteuren und ihm stimmte etwas nicht. Bei den Wahlen in Turin begegnete ich ihm wieder. Sein Ehrgeiz ging dahin, Kandidat der Turiner Arbeitermassen zu sein. Aber die Turiner Arbeiter hatten alle intellektuellen Kandidaten abgelehnt. Und es waren viele, die gern die ... Bürde der Macht auf sich genommen hätten. Zu ihnen gehörte Mussolini. Er verzichtete „freiwillig" auf seine Kandidatur, als er erfuhr, dass der Arbeiter Bonetto gegen den Anhänger des Krieges in Libyen, den Nationalisten Bevione, als Kandidat aufgestellt worden war. Er kam nach Turin, um die Kandidatur Bonettos zu unterstützen. Er hatte große Angst, vor dieser Wählerschaft zu sprechen. Die Nationalisten waren sehr kampflustig. Mussolini hatte nicht seinetwegen Angst, er sorgte sich um den Herausgeber des „Avanti". Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, wie die faschistischen Studenten in Bologna den Genossen Ettore Croce, der Abgeordneter und Universitätsprofessor war, überfielen. Wie gewöhnlich, stürzten sich die faschistischen Studenten zwanzig gegen einen auf den Genossen Croce. Sie erklärten ihm: „Wir verprügeln nicht den Professor Croce, vor dem wir große Achtung empfinden. Wir verprügeln den Kommunisten Croce." Dann schlugen sie blind drauflos! Nicht umsonst studierten sie an der Universität. Mussolini fürchtete Ausschreitungen dieser Art. Aber in Turin war das damals nicht möglich. Trotzdem hatte Napoleon Sorgen. Ich dachte an seine Artikel! Als er aber auf der Tribüne den allgemeinen Beifall hörte, wurde er ein anderer Mensch. Er wirkte wie ein Löwe. Er war nicht wieder zu erkennen. Ich habe ihn erst auf Photographien in Polizeiämtern und in Gerichtszimmern wieder gesehen. Damals lernte ich auch Serrati persönlich kennen. Welcher Unterschied! In Serrati spürte man den Freund, den Genossen. Er flößte Vertrauen ein, gab Ratschläge, sammelte Eindrücke. Streng und unerbittlich bei der Arbeit, war er verspielt wie ein Junge, wenn er mit der Arbeit fertig war. Ich habe an vielen Kongressen und Konferenzen mit ihm teilgenommen, habe gemeinsam mit ihm in der Sowjetunion gelebt, habe in Italien mit ihm gearbeitet vom Januar 1925 bis zu seinem Tode am 10. Mai 1926. Wir haben ihn bekämpft, und er ist fröhlich und unbefangen zu uns zurückgekehrt. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, ein guter Genosse und Freund. Sein bewegtes Leben, die Kämpfe, das Gefängnis, die schwierige Arbeit unter den Emigranten in Amerika, in Frankreich, in der Schweiz hatten seinem Kampfwillen und der Heiterkeit seines Gemüts nichts anhaben können. Er war ein naives Kind geblieben, immer bereit, dem ersten besten Genossen, der es benötigte, sein letztes Hemd zu geben. Mussolini wusste das aus langer Erfahrung. Aber ich komme hierauf noch zurück. Serrati hatte Verständnis für unsere schwierige, langwierige und geduldige Arbeit in den Grundorganisationen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bauarbeiter waren trostlos, und den Ziegelbrennern ging es nicht besser. Die Propaganda, die Agitation und die günstigen Bedingungen führten zu einem Streik. Dies erschien unerhört in der Heimat Bava Beccaris'. Die Diskussionen im Laden nahmen sehr heftige Formen an. Das Ende der Welt schien gekommen. Wie konnte man den Mut haben, meinten die Geschäftsleute, in der schönen Jahreszeit, wo Geld zu verdienen war, die Arbeit einzustellen! Wie konnte man sich von den Umstürzlern den Kopf verdrehen lassen! zeterten die anderen. Sie haben schon so viele Arbeitstage verloren, dass zum Ausgleich dieses Verlustes eine Lohnerhöhung für ein ganzes Jahr nicht mehr genügt, falls sie sie durchsetzen, verkündeten die Schlauköpfe. Jetzt müsse gehandelt werden, ein halbes Dutzend Rädelsführer müsse man einsperren und der Sache ein Ende machen, meinten die Praktiker. Allgemein war man der Ansicht, dass so etwas in unserer Stadt noch niemals vorgekommen sei. Natürlich wurde ich mit faulen Witzen, mit Fragen und mit dunklen Drohungen bombardiert. Der Streik der Maurer endete mit einer Lohnerhöhung und mit einigen Errungenschaften moralischer Art. Die Ziegelbrenner setzten den Kampf fort. Der Unternehmer hatte erklärt, er werde der Organisation das Rückgrat brechen, und sah sich nach Streikbrechern um. Er fand sie. Ich machte die Anschrift einer Kolonne ausfindig, die an die Stelle der Streikenden treten sollte. Die Leute wohnten fast alle in einem Dorf der Provinz Novara. Ich schrieb ihnen einen Brief, in dem ich die Tatsachen schilderte — den heldenhaften Kampf ihrer Kollegen, die alle Familienväter seien und nicht genug verdienten, um ihre Kinder satt zu machen, die Erbitterung dieser Arbeiter, unsere Bemühungen, um ihnen zu helfen. Ich versuchte, sie zu überzeugen. Einige Tage nach der Absendung dieses Briefes wurde ich von den Carabinieri abgeholt. Man schaffte mich ins Gefängnis. Der Polizeikommissar, der mich verhörte, war ein unverbesserlicher Trunkenbold. „Diesmal haben Sie eine Dummheit gemacht", erklärte er mir. „Dieser Brief genügt, um Sie auf einige Jahre ins Zuchthaus zu bringen. Das ist ein Anschlag auf die Arbeitsfreiheit. Durchsuchen und einsperren!" Am nächsten Tage wurde ich entlassen. Offenbar hatte der weinselige Kommissar, nachdem sein Rausch verflogen war, begriffen, dass hier nur ein Anschlag auf meine eigene Freiheit begangen worden war. Es erschienen nur sehr wenige Streikbrecher. Die meisten hatten Angst oder schämten sich. Auch die Ziegelbrenner siegten. Einer dieser Streiks war besonders charakteristisch und originell. In Fossano gibt es zwei Zuchthäuser, Santa Caterina und das Kastell. Das erste ist ein neues Gebäude, das zweite ein altes Kastell, das mit seinen vier Türmen wie ein umgekehrter Tisch aussieht und gegen Ende des 15. Jahrhunderts von einem Fürsten von Acaia erbaut worden ist. Mehr als tausend Häftlinge und hundert Wärter bevölkerten die beiden düsteren Gebäude. In den beiden Zuchthäusern gab es Werkstätten für Schuhmacher, Weber und Korbmacher. Die Zuchthäusler arbeiteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend für vierzig Centesimi. Dieser Lohn ging in drei Teile: einen erhielt die Direktion, einer wurde den Häftlingen gutgeschrieben und bei der Entlassung ausgezahlt, der Rest wurde in der Gefängniskneipe ausgegeben. Ich habe Häftlinge kennen gelernt, die nach fünfzehnjähriger Haft hundert Lire zusammengekratzt hatten! Ausgebeutet wurden diese Unglücklichen von einem ortsansässigen Unternehmer, der ein Kunde meines Chefs und natürlich einer der wildesten Sozialistenfresser war. Seit dem Tage, an dem er das Unternehmen im Gefängnis übernommen hatte, herrschte in unserem Schuhmacherverband eine schwere Krise. Seit mehr als einem Jahr war die Arbeitslosigkeit auffallend groß. Allgemein war dies so in den kleinen Städten, in denen sich Zuchthäuser mit Schuhmacher Werkstätten befanden, weil das Ministerium beschlossen hatte, die Gefängniswerkstätten an private Unternehmer zu verpachten. Die Ledefarbeitergewerkschaft hatte eine Konferenz beschlossen, um die Frage zu prüfen. Als Konferenzort wurde Fossano gewählt. Das Ergebnis der Konferenz war eine umfassende Agitation, durch die die Regierung veranlasst werden sollte, für die freien Arbeiter und die Zuchthäusler gleiche Bedingungen zu schaffen. Die Agitation hatte unerwartete Ergebnisse. Entschieden wurde der Ausgang des Kampfes durch einen eigenartigen Umstand. Von Gefängniswärtern, die ich im Laden rasierte, wussten wir, dass unter den Häftlingen dumpfe Unzufriedenheit herrschte wegen der Bezahlung, die sie von dem Unternehmer erhielten. Es war nicht schwierig, ihnen dann und wann einen Zettel zustecken zu lassen. „Eure Arbeitskollegen sind in Bewegung. Durch die Arbeit unter so demütigenden Bedingungen bereichert ihr nicht nur das Unternehmen und richtet euch zugrunde, sondern ihr nehmt auch zahlreichen Arbeitern und ihren Familien das Brot fort. Wir haben eine Agitation eingeleitet, um die unerhörte Ausbeutung anzuprangern, der ihr ausgesetzt seid. Rührt euch und verweigert die Arbeit!" In der Zeitung schlugen wir inzwischen Lärm über die unerhörte Ausbeutung der Gefangenen und ihre Folgen. Der eigenartige Umstand, der den Kampf entschied, War der Streik der Häftlinge! Eines Morgens — es war ein böser Tag für den Unternehmer — lehnten die Häftlinge die Arbeit ab. Da sie sich nicht weigern konnten, ihre Zellen zu verlassen, gingen sie in die Werkstätten, setzten sich an die Arbeitstische und begannen einmütig einen Sitzstreik. Man kann sich den Eindruck in der Stadt vorstellen. Das Zuchthaus Santa Caterina wurde von Soldaten umstellt. (In Italien tragen die Gefängnisse und Polizeiämter immer die Namen von Heiligen: Das Turiner Polizeipräsidium heißt San Carlo, das Polizeipräsidium in Mailand San Fedele, das Zuchthaus in Rom heißt Regina Coeli, das in Mailand San Vittore, das in Bologna San Giovanni.) Die Häftlinge waren alle mit Schuhmachermessern ausgerüstet, machten aber sonderbarerweise nicht einmal angesichts der Provokationen — man provozierte sie, um Gewaltakte zu rechtfertigen — von ihrer furchtbaren Waffe Gebrauch. Dabei waren es alles Menschen, die zu Gewalttätigkeiten neigten. Es kam zu Verhandlungen, bei denen die Häftlinge sich ruhig und diszipliniert verhielten. Das Ergebnis war, dass das Unternehmen unverzüglich einen Tagelohn von 1,40 Lire anbot, also eine Lohnerhöhung von einer Lira. Bei der besonderen Lage der Verurteilten bedeutete dies, dass die unfreiwillige Konkurrenz, die sie den freien Arbeitern gemacht hatten, unmöglich wurde. Der Unternehmer schäumte vor Wut. Im Laden zeterte man laut über die Umstürzler, die auch im Zuchthaus Verbindungen haben mussten. Wie immer in solchen Fällen, wurden einige Wärter versetzt und einige Häftlinge in strengen Arrest gesteckt. Trotzdem erhielt ich manchen mit Bleistift oder Streichhölzern geschriebenen Zettel, durch den man uns den Dank für unsere Aktion aussprach. Einer dieser Zettel war sogar mit Blut geschrieben. Mehrere von uns wurden aufs Polizeiamt bestellt. Man verhörte uns, bekam aber nichts heraus. Der Gefängniskaplan, ein alter Priester, erzählte mir mehrmals, dass die Häftlinge immer wieder von mir und den Sozialisten sprächen. „Das sind keine schlechten Menschen", schloss er, „es sind Unglückliche." Anstatt nach Lourdes zu gehen, wohin mich der ewig mit Schnupftabak beschmierte Domherr hatte schicken wollen, musste ich mich damals am Bein operieren lassen. Es war eine ziemlich schwierige Operation, da es sich um eine fortschreitende Verkrümmung handelte. Der Doktor erklärte mir: „Wenn es gut geht, machen wir den Fuß ein wenig gerader, wenn es schief geht, amputieren wir ihn, und Sie bekommen ein Gummibein." „Wie Sie wollen", erwiderte ich ... Was hätte ich auch sonst sagen können? Ich bat um Urlaub, der mir — das muss ich sagen — mit den besten Wünschen gewährt wurde. Mein Chef war auch großzügig. In den drei Monaten meiner Abwesenheit ließ er mir zwanzig Lire zukommen! Zu Hause, wo ich anfangs Vaterstelle für meine Geschwister vertreten hatte, arbeiteten jetzt alle. Ich kam ins Krankenhaus. Es war nicht das Mauritius-Krankenhaus, wohin mein armer Vater mich hatte schicken wollen, sondern das San-Giovanni-Krankenhaus in Turin, im Volksmund das „Große Schlachthaus" genannt. Im „Großen Schlachthaus" fielen sofort die Schwestern über mich her. Die meiner Abteilung zugeteilte Nonne erklärte mir: „Übermorgen werden Sie operiert. Morgen gehen Sie zum Abendmahl und zur Beichte. Man muss immer bereit sein, vor dem Gericht Gottes zu erscheinen. Ist Ihnen Don Gaudenzio oder Don Giovanni lieber?" „Vielen Dank", erwiderte ich. „Bemühen Sie sich nicht, Schwester, und bemühen Sie auch Don Gaudenzio oder Don Giovanni nicht. Ich habe nichts zu beichten." Die Schwester sah mich entsetzt an und sagte dann: „Die Hausordnung schreibt die kirchlichen Gebräuche vor. Sie sind doch Christ? Nummer 99, Ihr Nachbar, hat gebeichtet." „Lassen Sie mich in Ruhe, Schwester!" Sie ging. Bald danach erschien ein Priester. Auch er sprach zu mir von der Hausordnung, von Gott und seiner Barmherzigkeit und zog mit langer Nase ab. Gegen Abend erschien noch einer. Meine Bettnachbarn sagten zu mir: „He, 98" — das war die Nummer meines Bettes —, „Seine Hochwürden kommt. Vielleicht kommt er auch zu dir." Tatsächlich blieb Seine Hochwürden an meinem Bette stehen. „Guten Abend, Bruder", sagte er, „Sie sind der Neue?" „Ja, der bin ich. Wollen Sie mir auch die Geschichte von der Hausordnung erzählen? Ich weiß schon Bescheid." Seine Hochwürden war klüger als seine Untergebenen. „Nein, beunruhigen Sie sich nicht, ich achte alle Ansichten und möchte mich nur ein bisschen mit Ihnen unterhalten, wenn ich nicht störe." Ich gab keine Antwort, aber Seine Hochwürden nahm keine Notiz von der Missachtung seiner bischöflichen Würde. Er hatte ein bestimmtes Ziel. „Wie fühlen Sie sich hier? Gut? Schlecht?" „Wie man sich eben fühlt, wenn man operiert werden soll", erwiderte ich. Das war keine sehr ermutigende Antwort. Seine Hochwürden suchte ein Gesprächsthema um jeden Preis. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Professor Isnardi ist weltberühmt. Er ist ein Chirurg, um den sich die Kliniken im Ausland reißen. Die Wissenschaft ist sehr fortgeschritten. Hier kommen kaum Todesfälle bei Operationen vor. Nicht einmal ein Prozent. Natürlich ist es immer gefährlich. Ein Versehen, eine Infektion ... Das Leben hängt an einem Faden. Jenseits des Lebens ist das Paradies, ist Gott, an den Sie nicht glauben. Manche träumen von den Huris (Anm.: Die Jungfrauen des Paradieses der Moslems). Jedenfalls muss man zum Sterben bereit sein. Fast immer ist der Tod uns nahe, und daran sollten wir denken, wenn wir vor einer Operation stehen!" So ging es weiter. Seine Hochwürden bemühte sich, wie man sieht, in echt christlicher Weise, Zweifel zu säen. Ich hörte ihm zu. Mein Schweigen ermutigte ihn. Er glaubte, einen Weg zu meinem Herzen gefunden zu haben... „Der heilige Ignatius von Loyola von der Gesellschaft Jesu hat Schule gemacht, nicht wahr, Hochwürden?" sagte ich spöttisch. Der Priester verstummte. Er erhob sich. „Ist das Ihre christliche Nächstenliebe?" Im Fortgehen sagte Seine Hochwürden: „Ich werde für Sie beten." „Danke, bemühen Sie sich nicht!" Der Patient im Bett Nummer 99 meinte lächelnd: „Der kommt nicht wieder." Es war ein Arbeiter, der aus seinen Bergen nach Turin gegangen war. „Du hast doch aber gebeichtet und das Abendmahl empfangen. Bist du gläubig?" „Heilige Madonna", erwiderte er und richtete sich mühsam auf, „wie kann ich gläubig sein? Seit wer weiß wie vielen Monaten wandere ich von einem Krankenhaus ins andere! Wenige Tage nach der Ankunft aus meinem Heimatdorf traf ich eines Abends — ich hatte von dem Leben in den großen Städten noch keine Ahnung — eine Frau. Sie war schön wie das Madonnenbild in der Kirche Santa Anna in meinem Dorf. Sie fragte mich nach dem Weg. Ihre Stimme war wie Musik, und sie hatte wunderschöne Augen. Ihr Blick regte mich richtig auf ... Ich antwortete, dass ich die Stadt nicht kenne. Sie bot mir ihre Begleitung an. Wie schön sie war! Ich hatte Geld und lud sie zum Abendessen ein. Sie kam mit und blieb die ganze Nacht bei mir ... Ich glaubte zu träumen! Am nächsten Morgen, sagte sie, müsse sie früh aufstehen und zur Arbeit gehen ... Als ich erwachte, war sie nicht mehr da! Ich dachte, die Ärmste habe mich nicht wecken wollen, und phantasierte weiter. Ich sollte erst nach einigen Tagen zu arbeiten beginnen. Als ich feststellen wollte, wie spät es war, war meine Uhr nicht mehr da. In der Westentasche suchte ich sie vergebens. Wo konnte sie nur sein? Ich hatte das Gefühl, dass ich sie, wie immer, auf den Nachttisch gelegt hatte. Ich stand auf. Es war ein böses Erwachen. Auch meine Brieftasche war fort. Ich ging zur Polizei und erstattete Meldung. Der Kommissar sah mich lächelnd an und sagte: ,Machen Sie sich keine Sorgen, das ist unsere Sache.' Das ist noch nicht alles, mein Lieber. Sie hat mir auch ein Andenken hinterlassen. Vierzig Tage war ich bei Salsotto." Salsotto war ein berühmter Arzt, Direktor des Lazarus-Krankenhauses für Geschlechtskrankheiten. „Und als ich, noch recht schwach, wieder herauskam, glitt ich aus und brach mir ein Bein! Aber auch das ist noch nicht alles. Wenige Tage vor deiner Ankunft bekam ich furchtbare Zahnschmerzen. Der zuständige Arzt sagte, der Zahn müsse gezogen werden. ,Ziehen Sie ihn!' sagte ich. Er zog mir den Zahn, aber statt des kranken hat der Idiot einen gesunden gezogen ... Und gestern kam das letzte Unglück. Der Doktor sagte mir, ich müsse wegen meines linken Auges in die Augenklinik." „Und du hast gebeichtet, um deinem Gott zu danken?" „Aber nicht doch! Ich habe gebeichtet, weil sie mir keine Ruhe gelassen und mir gesagt haben, dass man besser behandelt wird, wenn man beichtet." Die eiligen Schritte von Krankenwärtern und unterdrücktes Stöhnen kündigten die Ankunft eines Verletzten an. Man legte ihn in das Bett Nummer 97. Es war ein Mann von etwa dreißig Jahren. „Der ist verloren", sagte ein Krankenwärter. „Er ist von einer Straßenbahn überfahren worden. In zwei Stunden ist er tot." Kaum lag er im Bett, als die Schwester erschien. „Wollen Sie beichten, Bruder?" sagte sie. „Himmel Herrgott, verschwinden Sie schleunigst und lassen Sie mich in Frieden sterben!" Der Arzt kam und gab ihm zwei Spritzen. Dann entfernten sich alle. Als der arme Teufel — ein Toscaner — nicht mehr fluchte und nur noch röchelte, kam der Priester allein, um ihm die letzte Ölung zu geben. Später erschien die Familie. Um sie zu trösten, sagte der Priester: „Er ist wie ein Kind gestorben." Meine Operation verlief auch ohne die Gebete Seiner Hochwürden erfolgreich. Schwester Rosa, die Nonne, sagte zu mir: „Ich habe für Sie gebetet, und Gott hat Ihnen geholfen." „Ein sonderbarer Kauz ist Ihr Gott, dass er Atheisten hilft!" Entsetzt trat sie den Rückzug an. Durch die zahlreichen Aktionen, die Streiks, einige Verurteilungen und das Ausscheiden einiger Kollegen war unsere Zahl etwas geringer geworden, so dass die Kampfkraft unserer Gewerkschaft nachließ. Es ist dies eine normale Erscheinung in Italien. Wir arbeiteten nunmehr auf die Gründung einer Gewerkschaftszentrale für die Provinz hin. Ein Provinzialverband der Sozialistischen Partei bestand bereits. Die Provinz Cuneo ist vorwiegend agrarisch. Die Höfe sind so klein, dass es in einigen Dörfern, vor allem nach dem Gebirge hin, Kleinbauern gibt, die nur sechs Monate im Jahr von ihrem Boden leben können. Im hügeligen Teil wird viel Wein gebaut, und auch hier ist das Land in kleine Parzellen zersplittert. Die Seidenraupenzucht ist sehr verbreitet, und es gibt daher viele Seidenspinnereien und Seidenwebereien. Andere Industriezweige sind wenig entwickelt. Es gibt nur wenig Eisenindustrie und chemische Industrie, einige Tonwarenfabriken und Gerbereien. Die Arbeitsverhältnisse waren sehr schwierig. Die kleinen Geschäfte und die Handwerksbetriebe lagen weit verstreut. Auch unmittelbar nach dem Kriege gab es niemals viele organisierte Arbeiter, 12 000 in der ganzen Provinz. Die Zusammenfassung der Ortsverbände entsprach nicht nur der allgemeinen Direktive, sondern war auch deshalb notwendig, weil mehrere Firmen in verschiedenen Städten der Provinz Niederlassungen unterhielten. Wir veranstalteten daher Kreis- und Bezirkskonferenzen, um einen Provinzialkongress vorzubereiten. Oft war ich genötigt, auch sonntags dem Geschäft fernzubleiben. Das war der wunde Punkt. Mein Chef hatte zwar den Stürmen, die ich in seinem friedlichen Laden entfesselt hatte, standgehalten und keinem Druck nachgegeben, als sich aber mein Fernbleiben von der Arbeit, das immer mit seiner Genehmigung geschah, auf seine Kasse auswirkte, wurde er unzufrieden mit mir. Er sagte mir das auch. Eines Tages machte ich gemeinsam mit einem anderen Friseur, der in Paris gearbeitet hatte, einen kleinen Laden auf. Jeder von uns steuerte ein Kapital von 165 Lire bei. Als ich meinem Chef diesen Entschluss mitteilte, bekam er beinahe einen Schlaganfall. Im Grunde war er mir wohlgesinnt, und auch meinem Fernbleiben von der Arbeit hatte er schließlich immer zugestimmt. „Aber Sie sind ja verrückt! Wer wird denn in Ihren Laden kommen? Wenn man Sozialist ist, kann man in unserer Gegend nicht vorankommen. Haben Sie Gagna gekannt? Er ist nach Amerika gegangen, und viele andere sind arbeitslos. Auch der Fuseri" — das war der Mineralwasserfabrikant und Erfinder des Schraubenflugzeuges, das niemals flog—„kommt mit seiner Maschine nicht mehr weiter. Wenn Sie einen Laden aufmachen, wird man Sie boykottieren. Außerdem hat der Laden da niemals Kunden gehabt." Auch von meinem Kompagnon redete er schlecht. In der ersten Woche nahmen wir jeder vierzehn Lire ein! Wir waren, offen gesagt, ein wenig enttäuscht. Allmählich aber vermehrten sich die Kunden. Hier und da tauchte ein neues Gesicht auf. Es waren Genossen, Sympathisierende, einige Priester und mehrere Beamte, die meinen alten Chef im Stich gelassen hatten. Bald hatten wir genügend Arbeit, um leben zu können, und unsere Diskussionsfreiheit war unbeschränkt. Mein Kollege fand sich damit ab, dass er mehr arbeiten musste, wenn ich zu Versammlungen oder zu Besprechungen gerufen wurde. Diese Arbeit betrachtete er als Beitrag zur Propaganda. Es war eine Zeit intensiver Arbeit. Ich betätigte mich als Propagandist, verfasste Flugblätter und Aufrufe, war Kandidat und Zettelankleber, Journalist und Zeitungsverkäufer. Abends schrieb ich in der Gewerkschaftszentrale Gesuche und füllte Formulare aus für diejenigen, die einen Arbeitsunfall gehabt hatten. Ich war Berichterstatter des gerichtsärztlichen Büros, das geschaffen worden war, um die verunglückten Arbeiter den Klauen der Advokaten zu entreißen. Durch diese Arbeit wurde ich auch in einen Prozess verwickelt. Ich wurde zwar freigesprochen, erhielt aber eine Anklage wegen unberechtigter Titelführung. Was war geschehen? Eines Tages kam ein Bettler zu mir in den Laden. Er war fast blind und stark wie ein Stier. Ich fragte ihn aus. Er erzählte mir, er sei bei der Explosion einer Mine im Bergwerk von Colle di Tenda verwundet worden. „Hat die Firma Ihnen keinen Schadenersatz gezahlt?" „Nein, ich habe ein paar hundert Lire bekommen." Er hatte einige Papiere. „Wenn es Ihnen recht ist, werde ich unseren Anwalt zu Rate ziehen, obwohl die Frist überschritten ist." Er hinterließ mir eine Adresse und die Papiere. Ich erhielt die Antwort, dass eine Entschädigung sowie eine Nachzahlung möglich sei, und teilte ihm dies sofort mit. Als die Sache bei der Firma bekannt wurde, geriet der Direktor in helle Wut, ließ sich den Blinden kommen und wollte wissen, wer es ihm in den Kopf gesetzt habe, dass er eine so hohe Entschädigung bekommen könne. „Ein Anwalt in Fossano", antwortete der Bettler, nannte meinen Namen und gab ihm auch meine Adresse. Ich bin nie in meinem Leben Rechtsanwalt gewesen und habe auch aus meiner Abneigung gegen Anwälte nie ein Hehl gemacht. Und jetzt sollte ich wegen einer solchen Anklage vor Gericht geschleppt werden! Die Firma unterrichtete ihren Anwalt über den Fall, und der Anwalt schrieb an mich und an die Polizei. Ich wurde vernommen. Ich leugnete nicht, dass ich mich grundsätzlich solcher Fälle annahm, und stellte alle Einzelheiten über den Fall des Bettlers zur Verfügung. Zur Verhandlung waren mehrere von mir unterstützte Verunglückte sowie unser Rechtsanwalt vorgeladen worden. Die Verunglückten sagten auf Befragen aus, dass sie nie einen Pfennig bezahlt hatten, und der Anwalt erklärte, dass ich die Unterlagen sammelte und er die Fälle praktisch bearbeitete. Die Sensation, die einige von dieser Ausbeutung lebende Winkeladvokaten aufgezogen hatten, brach zusammen. Die italienische Bourgeoisie rüstete zum Kriege in Afrika. Mit den Millionen der Bank von Rom suchte die Regierung Giolitti die öffentliche Meinung für die Eroberung der Kolonie zu gewinnen. Die Nationalisten schlugen mächtig auf die Pauke. Tripolitanien wurde in ihren Artikeln zum gelobten Land, zur Kornkammer Italiens. „Tripoli, bel suol d'amore ..."(Anm.: Tripolis, Land unserer Liebe.) erklang es auf den Plätzen Italiens. Die Studenten stellten die Demonstrationen für Trient und Triest ein und demonstrierten nun für Tripolis. „Ein militärischer Spaziergang", sagten die Patrioten. Die öffentliche Meinung wurde gut „gemacht". Wehe dem, der nicht an den Weizen von Tripolis, an die Dattelpalmen, an die Bananen, an die Liebe der Tripolitaner zu Italien geglaubt hätte. Die Araber standen alle am Strande des „Goldenen Afrikas", wie es im Liede hieß, und warteten auf die italienischen Schiffe und Soldaten. Der patriotische Rummel war komplett. Auch auf die Sozialistische Partei Italiens wirkte er sich aus: es kam zu mehreren Ausschlüssen. Die Leidtragenden waren die wenigen in Italien lebenden Türken und die Sozialisten; denn in vielen Städten war es beim Abtransport der Soldaten nach Tripolitanien zu Demonstrationen gekommen. Besonders stark waren die Demonstrationen in Toskana. Eisenbahngeleise wurden ausgerissen; Frauen mit Kindern auf dem Arm stürmten die Bahnhöfe und legten sich quer über die Schienen, um die Abfahrt der Züge zu verhindern. Schuld daran waren natürlich die Sozialisten und die Türken. Die Häuser und Läden der Türken wurden demoliert, die Sozialisten wurden vor Gericht gestellt und eingekerkert. Mehrere Jahrgänge wurden einberufen. Überall Musik und Reden. Krieg, Krieg! Und Unzufriedenheit. Niemand wagte zu sprechen. Uns Sozialisten nannte man die „Türken" Italiens, wie wir später als „Österreicher" und als „Deutsche" bezeichnet wurden. In unserer Ortsgruppe bekannte sich der Erfinder des Schraubenflugzeugs zum Interventionismus. Auch uns wollte er überzeugen, konnte aber seine Propaganda nur in den nationalistischen Zeitungen unterbringen. So trat er aus der Partei aus. Mussolini war gegen den Krieg und kam ebenfalls vor Gericht. Gerade in diesen Tagen hatten wir den Kongress für die Gründung des Provinzialverbandes der Gewerkschaft einberufen. In der Reihenfolge, wie unsere Genossen aus den verschiedenen Gegenden am Tagungsort eintrafen, wurden sie verhaftet. Ich entging der Verhaftung, weil ich mit dem Rad fuhr. Daher konnte ich Vorsorge treffen für die Verteidigung der Genossen, die alle wegen ihrer angeblichen Absicht, eine umstürzlerische Versammlung abzuhalten, zu einigen Tagen Gefängnis verurteilt wurden. In meinem Ort gab es zahlreiche Einberufungen. An einem Sonntagmorgen veranstalteten die Einberufenen eine Kundgebung, die auf die Einwohnerschaft und die Behörden starken Eindruck machte. Auf Grund einer von irgend jemand — nicht von uns — ausgegebenen Parole versammelten sie sich alle auf dem Marktplatz. Es waren einige Hundert Menschen. Keiner sprach, keiner lärmte. Die stumme, geschlossene Masse wirkte tatsächlich eindrucksvoll. Einige anwesende Offiziere begannen unter den Soldaten umherzugehen. „Was macht ihr hier?" „Nichts, wir schnappen Luft..." „Weitergehen, weitergehen!" Aber niemand rührte sich. Das dauerte einige Minuten. Als ich eintraf und sprechen wollte, waren nur noch einige Dutzend Soldaten und viele Carabinieri da. Am nächsten Tage — es war ein Montag, der Ruhetag für die Friseure — wurde ich von den Carabinieri abgeholt. Der Kommissar erklärte mir: „Wir wissen alles. Leugnen ist zwecklos. Wir kennen auch Ihre Komplicen, die schon ausgesagt haben. Am besten ist es, Sie gestehen." „Gestehen? Was soll ich gestehen?" sagte ich. Ich begriff natürlich, worum es sich handelte, aber diesmal war ich unschuldig. „Stellen Sie sich nicht blöde! Wer hat die gestrige Kundgebung vorbereitet? Wir wissen, dass viele Soldaten zu Ihnen kommen. Zwei haben wir schon. Wollen Sie leugnen, dass Sie mit dem Korporal Comei und mit dem Oberkorporal Bibolotti in Verbindung stehen? Nun, die haben ,gesungen'." „Sie werden wohl singen können, ich kann es nicht!" „Machen Sie keine Witze! Besser ist es, Sie gestehen." Ich gestand nichts. Ich wurde durchsucht und in eine Zelle gesperrt. „Sieh da, der Friseur!" sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. „Was führt Sie her?" Es war einer meiner Kunden. „Ich habe mir gestern Abend einen Rausch angetrunken und einen der Polizisten einen Esel genannt. Er hat sich beleidigt gefühlt und mich hierher geschafft." Ich wurde zweimal verhört und dann nach Hause geschickt. Meine beiden Genossen und angeblichen Komplicen — Comei war ein Anarchist aus Apulien und Bibolotti ein Sozialist aus Toscana — ließen sich mehrere Tage nicht sehen. Früher waren sie alle Tage in den Laden gekommen, um den „Avanti" zu lesen. Endlich erhielt ich einen Zettel mit einer Verabredung. Sie waren beide da. Sie erzählten mir, dass sie im Gefängnis gewesen und von dem Major des Regiments verhört worden waren. Dieser hatte ihnen gesagt, ich hätte „gesungen". Die beiden hatten sich weder durch Drohungen noch durch Schmeicheleien mürbe machen lassen. Der Major hatte gesagt: „Ich weiß, dass ihr beide vernünftige Jungen seid. Schuld ist dieser Lump von Friseur. Wir wollen ihn fertigmachen. Ihr seid gute Italiener und müsst uns helfen. Ihr sollt aufpassen, was er treibt. Geht weiter zu ihm und achtet darauf, was er den Soldaten sagt." Der wackere Major, ein hundertprozentiger Italiener, hatte dem Gendarmeriekommando folgende Anweisung zugehen lassen: „Der bekannte sozialistische Friseur ...." — es folgte mein Name — „ist sorgfältig zu überwachen. Er steht in dem Ruf, kein guter Italiener zu sein, und verdirbt die Soldaten. Er ist am Sonntag bei der Kundgebung auf dem Marktplatz gesehen worden. Es besteht starker Verdacht." Die Araber wehrten sich inzwischen. Die Zeitungen sprachen immer nur von „Siegen", und der im Jahre 1911 begonnene „militärische Spaziergang" dauert heute noch an! „Die Rebellen", schreibt die faschistische Presse heute, „sind endgültig erledigt." Das liest man Jahr für Jahr und unter jeder Regierung. Immer nur Siege, niemals Niederlagen und Tote! Nur die Telegramme an die Bürgermeister mit den Todesnachrichten trafen in aller Stille ein und versetzten die Familien in tiefe Trauer. Die Nachrichten aus Libyen waren immer zensiert, und die Anzeigen bei den Gerichten wegen unserer Zeitungsartikel gegen den imperialistischen Krieg häuften sich. Die Reaktion war stark. Eines Abends war ich in einem kleinen Theater. Eine miserable Operntruppe misshandelte in übler Weise Bellinis „Norma", als die Zeitung mit dem Bericht über irgendeinen Sieg unserer Truppen in Afrika eintraf. Ein Schauspieler trat an die Rampe, um das Telegramm vorzulesen. Die Musik intonierte die Nationalhymne, und alle Anwesenden sprangen auf — nur ich nicht. Ungeheurer Skandal! Ein Offizier beschimpfte mich: „Türke! Türke!" Ich erwiderte: „Idiot, geh nach Afrika, wenn du den Helden spielen willst!" Die Carabinieri erschienen und brachten mich in die Kaserne. Nun brauchte ich nicht mehr den miserablen Sängern zuzuhören, die sich den Tod Bellinis zunutze gemacht hatten, um seine „Norma" zu misshandeln. Dafür bekam ich eine lange Rede des Postenkommandanten zu hören. „Mit Ihnen nimmt es ein schlechtes Ende. Das sage ich Ihnen, denn ich verstehe mich darauf. Sie täten besser daran, sich als Friseur zu betätigen, statt sich mit Politik abzugeben. Dafür haben wir die Advokaten. Sie haben doch eine Familie zu unterhalten. Es ist nicht zu glauben, immer wieder muss ich Ihnen das sagen. Dabei gelten Sie allgemein als ziemlich intelligent. Sie wollen nicht begreifen. Eines Tages werde ich es satt..." „Dann halten Sie mir keine Vorträge mehr, nicht wahr, Maresciallo? Schön wird das sein ..." „Es ist wirklich zwecklos, mit Ihnen zu reden! Ich muss Sie jetzt einsperren lassen. Viel Freude macht mir das nicht..." „Nun, dann schicken Sie mich nach Hause." In diesem Augenblick klopfte es. Der Offizier, der mich hatte festnehmen lassen, trat ein. „Schicken Sie ihn nach Hause", sagte er zu dem Maresciallo. Der Maresciallo war zufrieden. Das waren noch andere Zeiten als heute! Ich aber erklärte: „Ich möchte von Ihnen wissen, mein Herr" — es war ein Artillerieleutnant — „wie Sie sich das mit mir heute Abend denken. Ich habe nicht die Absicht, die Sache so einfach hingehen zu lassen. Sie haben sich der Freiheitsberaubung schuldig gemacht, als Sie mich durch zwei Carabinieri festnehmen ließen." „Sie müssen das verstehen. Ich bin begeisterter Italiener und habe Anstoß genommen an Ihrem Verhalten. Nun ist das vorbei, ich bedaure es." Er war ein junger Mensch, und man sah ihm deutlich an, dass er sich vor Weiterungen fürchtete. „Warum wollen Sie als begeisterter Italiener nicht nach Afrika?" „Meine Mutter würde sterben vor Kummer", platzte der Leutnant heraus. „Ach so, die anderen Soldaten, die nicht Karriere machen wie Sie, haben natürlich keine Mutter ..." Der Maresciallo wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. „Jedenfalls werden wir sehen, Herr Leutnant, wie die Geschichte enden wird." Damit ging ich. Am nächsten Tag erschien ein Veterinärleutnant in Begleitung eines mit mir befreundeten Photographen. Er wollte mich im Namen des Artillerieleutnants bitten, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Dahinter steckte die Mutter. „Mein Bericht an den ,Avanti' und an die ,Lotte Nuove' ist schon abgegangen. Der Herr Leutnant muss logisch sein. Nicht hier, mit den jungen Damen in den Säulengängen, kann man sich mit Ruhm bedecken, sondern bei Sciara-Sciat gegen die Araber." Die Sache wurde in der Öffentlichkeit bekannt, und der kleine Leutnant — verspottet von seinen Kameraden, denen das Garnisonleben mit Flirt, Poker und Bakkarat lieber war als der Krieg — musste gute Miene zum bösen Spiel machen und um seine Entsendung an die Front bitten. Er kam zu mir. Ich wünschte ihm einen Heimatschuss, damit er sich noch lange an den Krieg erinnern könne. Dies alles hatte großen Eindruck auf die Soldaten gemacht. Sehr viele erschienen aus Neugier im Laden, andere wollten diskutieren, einige baten mich schüchtern, die sozialistische Zeitung aus ihrem Ort zu bestellen, die sie in der Kaserne nicht bekommen konnten. Es kamen auch Offiziere. Offensichtlich wollten sie die Soldaten bespitzeln. Eines Tages fiel es mir auf, dass nicht nur die Soldaten, die Gelegenheitskunden waren, sondern auch die Abonnenten nicht mehr kamen. Was war geschehen? Die Sache war sehr einfach. Der Garnisonskommandant hatte in allen Kasernen bekannt machen lassen, dass die Soldaten davor gewarnt würden, zu dem „antiitalienischen und sozialistischen Friseur" zu gehen, der seinen Laden in der Via Roma Nr. 46 habe. Natürlich wurde mit Arrest und für die Folge mit Gefängnishaft gedroht. Man versuchte mich zu treffen, wo man konnte. Das dauerte aber nicht sehr lange, denn die Soldaten erschienen wieder im Laden, um die Zeitungen zu lesen, auch wenn dann und wann jemand für einige Tage ins Gefängnis wanderte. Andere Angriffe richteten sich gegen das Gewerkschaftshaus. Man wollte uns ausquartieren und versuchte dies auf die verschiedenste Weise. Die Hausnachbarn beschwerten sich bei der Polizei über angebliche Störungen durch das Klavierspiel. Der Hauswirt wurde von der Polizei unter Druck gesetzt. Zunächst nahm er die Gelegenheit wahr, unsere Miete zu erhöhen; dann entschloss er sich und kündigte uns, weil er Angst hatte und man ihm viele Angebote gemacht hatte. Unter den Arbeitern gab es einen Aufstand. Am festgesetzten Tage, nachdem wir uns vergeblich bemüht hatten, ein anderes Quartier ausfindig zu machen, wurden unsere wenigen Möbel und die Fahnen auf die Straße geworfen. Wir hielten nun unsere Versammlungen wieder in Wirtshäusern und in der schönen Jahreszeit auf freiem Felde ab. Die Ausschüsse traten bei mir im Laden nach der Arbeit zusammen. Die Priester beschränkten sich nicht darauf, alle auf unsere Exmittierung abzielenden Machenschaften zu unterstützen, sondern eröffneten gegen den „sozialistischen Friseur" eine sehr lebhafte Kampagne. So etwas ist nur in Kleinstädten und in Cuneo möglich. Warum gerade in Cuneo? Darüber gibt es eine Legende, über die ich berichten werde. Jetzt schildere ich zunächst die Kampagne. Um diese Zeit kam der so genannte Bubikopf in Mode. In dem kleinen Ort, in dem ich lebte, wurde diese Mode zuerst von den Freudenmädchen und von der Halbwelt aufgegriffen. Meine Kollegen, die nicht in großen Städten oder, wie mein Geschäftsteilhaber, im Ausland gearbeitet hatten, verstanden sich nicht auf diesen Haarschnitt. Wir besaßen das Monopol. Die Priester sind immer gegen Neuerungen gewesen, und als sie in unserem Schaufenster ein Plakat mit der Aufschrift „Haarschnitte für Damen" entdeckten, eröffneten sie (ausgerechnet sie!) in der Presse und von der Kanzel die Kampagne gegen die angeblichen Schänder des weiblichen Schönheitsempfindens. Die Pfarrer bemerkten aber zu spät, dass sie kostenlos Reklame für uns machten, und stellten die Kampagne ein. Frauen sind eben Frauen, und unsere Kundschaft vergrößerte sich. Ich glaube, heute lassen sich auch die „Haushälterinnen" der hochwürdigen Pfarrer in meiner Provinz einen Bubikopf schneiden, und viele Pfarrer besorgen ihnen das ebenso, wie die Haushälterinnen ihnen die Tonsur schneiden ... Nun zur Legende von Cuneo. Sie ist beinahe weltberühmt. Ein Bürgermeister von Cuneo hat ein Buch über sie geschrieben, und auch Edmondo. De Amicis erwähnt sie in einem seiner Bücher. In Cuneo wurde die neue elektrische Anlage um die Mittagszeit ausprobiert, und ein Versuch mit Feuerwerkskörpern wurde am Morgen gemacht. Als die Regierung von Turin — Italien zerfiel damals noch in viele Kleinstaaten — die Stadtverwaltung von Cuneo um einen Stadtplan ersuchte, schickten die Stadtverordneten die schönste Ulme von der Engelsallee nach Turin. (Anm.: Wortspiel mit ital. „pianta", was „Plan" und „Pflanze" bedeuten kann.) Es wird auch erzählt, dass die Stadtverwaltung von Cuneo aus Ersparnisgründen beschloss, den Henker und seine Gehilfen zu entlassen und nötigenfalls den Turiner Henker hinzuzuziehen. Als nun zum ersten Mal ein Verurteilter hingerichtet werden sollte, knüpfte man Verhandlungen mit Turin an. Die Turiner Stadtverwaltung verlangte für die Hinrichtung die ungeheure Summe von siebenhundert Lire. Die Stadtverordneten waren tief bestürzt. Einer von ihnen aber rettete die Situation und schlug vor: „Da unsere Gemeinde die siebenhundert Lire nicht ausgeben kann, beantrage ich, dem Verurteilten zweihundert Lire auszuhändigen mit der Maßgabe, dass er sich aufhängen lässt, wo es ihm passt." Der Vorschlag wurde von den Stadtverordneten einstimmig angenommen. Die Legende berichtet, dass auch der Verurteilte ihn annahm. So geht es weiter. Die Legende muss, wie alle Legenden, ihre Grundlagen haben, denn es existiert in Cuneo noch ein Glockenturm mit der, Inschrift: „Dieser Glockenturm ist ,hier' im Jahre ... erbaut worden." Nicht selten hat es wegen dieser Legende Schlägereien gegeben. Einmal soll ein Hauptmann zu einem Rekruten aus Cuneo, der niemals das Exerzierreglement begriff, gesagt haben: „Sind Sie eigentlich aus Cuneo?" Der Erbprinz, der damals Sergeant in dieser Kompanie war, bemerkte daraufhin: „Ich bin auch aus Cuneo, Herr Hauptmann." Das war dem Hauptmann sehr unangenehm. Dies schließt nicht aus, dass der Sohn des großen Briefmarken- und Münzensammlers, der die Geschicke Italiens leitet und Mussolinis Dekrete unterzeichnet, der Legende nicht würdig wäre. Er ist nämlich in Racconigi in der Provinz Cuneo geboren, wo Morgari den Zaren von Russland ausgepfiffen hat. Noch ein anderer erschwerender Umstand ist geeignet, die Legende zu bestätigen. Viktor Emanuel II., der „Vater des Vaterlandes" genannt wurde, der Großvater des jetzigen Königs, ging in der Provinz Cuneo immer auf die Jagd, und zwar nicht nur auf die Rebhuhn-, Hasen- und Gämsenjagd ... Die alten Leute pflegen halblaut in ihrem Dialekt zu erzählen: „Wisst ihr, warum Viktor ,Vater des Vaterlandes' genannt wurde? Weil es in der Provinz Cuneo von seinen Bastarden wimmelt, und der Staat bezahlt es!" Tatsächlich gibt es viele Leute, die auf ihre Ähnlichkeit mit Viktor stolz sind, und viele alte Frauen erinnern sich noch des verstorbenen „Vaters des Vaterlandes" und seiner Leutseligkeit. Das sind Legenden, und in der Provinz Cuneo, die als besonders katholisch gilt, gibt es nicht nur besonders viele Legenden, sondern auch viele sonderbare Gewohnheiten. Diese Dummheiten haben aber immer die Regierenden gemacht, nicht das Volk... Damals wollte ich heiraten. Ich hatte eine Arbeiterin kennen gelernt, die mir gefiel, und ich sagte es ihr. Ich bin nie imstande gewesen, etwas in die Länge zu ziehen. Sie sagte nicht nein. Die Frauen sind wie die Berufsdiplomaten: wenn sie nicht nein sagen, meinen sie ja. Die Sache hatte aber einen Haken. In dieser Gegend war es für einen Sozialisten schwierig, eine Frau zu finden, die bereit war, sich mit der Zivilehe einverstanden zu erklären. „Gibst du deine Ideen auf, wenn du mich heiratest?" fragte sie. „Ich denke nicht daran", antwortete ich. Wir trafen uns weiter — wir waren Nachbarn — und trieben es weiter wie alle Verliebten. Aber ich wollte sie durchaus überzeugen. Ich erklärte rund heraus, ich würde meine Ideen nicht aufgeben und mich auch nicht kirchlich trauen lassen. Sie war verstimmt. Sie schmollte ein wenig, wurde dann aber wieder freundlich. „Ich lasse dir die größte Freiheit", sagte ich zu ihr. „Du kannst versuchen, mich zu überzeugen. Einverstanden?" Sie sagte nicht ja, hatte aber auch nicht den Mut, nein zu sagen. Ich hatte Verständnis für ihr Zögern. Niemand in dem Ort hatte jemals eine Zivilehe geschlossen. Die jungen Damen des Ortes, die ewig unter den Bogengängen spazierten, mit den Offizieren der verschiedenen Waffengattungen äugelten, sich in die Wohnungen der Junggesellen schlichen oder unter den Platanen des Exerzierplatzes ihre Liebesspiele trieben, ohne vorher zum Bürgermeister oder zum Pfarrer zu gehen, hätten sich auf eine Zivilehe niemals eingelassen. Das war unmoralisch und hätte Anstoß erregt. Einmal erzählte man meiner Mutter, ich hätte die Absicht, eine Jüdin zu heiraten. „Ist es wahr", fragte mich meine Mutter, „dass du eine Jüdin heiraten willst?" Ich lachte. „Aber wie wollt ihr denn heiraten? Geht ihr in die Kirche oder in die Synagoge?" Sie konnte sich eine so komplizierte Heirat nicht vorstellen. „Wenn ich eine Jüdin oder eine Mohammedanerin oder eine Protestantin heiraten wollte, liebe Mutter", erwiderte ich, „würde ich weder in die Kirche noch in die Synagoge noch anderswohin gehen ... Auch auf den Bürgermeister würde ich dann verzichten ..." Verzweifelt hob meine Mutter die Hände zum Himmel. Die Angehörigen meiner Verlobten waren fromme Katholiken. Sie war es auch. Endlich entschloss sie sich: „Gut, wir werden heiraten, wie du es willst. Ich bitte dich nur, dass wir die Zivilehe nicht hier im Ort schließen. Du bist Turiner, wir wollen es also in Turin machen... Das ist meine einzige Bitte." Ich war gern damit einverstanden. Ich begann, regelmäßige Ratenzahlungen an eine Gesellschaft zu leisten, die sich als „gemeinnützig" bezeichnete, in Wirklichkeit aber den armen Teufeln, die die Möbel nicht bar bezahlen konnten, das Fell über die Ohren zog. Wenige Wochen vor dem festgesetzten Tage erklärte mir meine Verlobte: „Ich habe mich erkundigt und mir die Sache überlegt. Ich möchte meinen Angehörigen und auch deiner Mutter keinen Kummer machen. Wenn du mich gern hast, musst du mir das Opfer bringen, mich in der Kirche zu heiraten. So machen es alle, so hat man es immer gemacht." Ich war recht niedergeschlagen. Ich hatte meine Verlobte gern. Später erfuhr ich, dass ihre weiblichen Angehörigen und alle Betschwestern aus der Nachbarschaft ihre Nase in die Sache gesteckt hatten. Ich dachte lange nach und fasste dann meinen Entschluss. Kurze Zeit danach wurden die Verhandlungen abgebrochen. Ich litt darunter, aber was hätte ich tun können? Ich konnte unmöglich nachgeben. Bei unserer letzten Unterredung erinnerte ich sie an ihre Versprechungen. Da die Betschwestern und ihre Angehörigen nicht dabei waren, hatte sie Verständnis für mich. Sie war bewegt, schwankte, konnte sich nicht entscheiden. Ich merkte, dass es nicht nur um die Formalität ging. Ich muss gestehen, dass auch ich mit mir kämpfte. Ich legte der Sache keine große Bedeutung bei, aber ich überlegte. Ich wollte mit dieser Tradition brechen und nahm mich zusammen. An einem nebligen Abend hatten wir in Turin in der Valentinsallee unsere letzte Unterredung. Ich bemühte mich, sie zu überzeugen. Ich flehte sie sogar an. „Alle machen es so", antwortete sie. Weiter wusste sie nichts zu sagen. „Du warst doch schon überzeugt, und ich habe niemals ein Hehl gemacht aus meiner eigenen Überzeugung", wandte ich ein. „Ich weiß, ich weiß, du hast recht. Ich bin schwach. Ich habe das Gefühl, dass ich dir wie mir weh tue, aber ich habe keinen Mut ... Verzeih mir." Sie weinte. Der Po, durch einen dichten Nebelvorhang unseren Blicken verborgen, rauschte geheimnisvoll an der Ufermauer. Selten nur kam jemand vorbei. Die Laternen sahen aus wie winzige Lichtpünktchen. „Dein Entschluss ist endgültig?" fragte ich. „Und du?" Wir sahen uns an. Ich hatte das Gefühl, am Boden festgenagelt zu sein. Auch sie rührte sich nicht. Ich gab mir einen Ruck. Wir verabschiedeten uns. Ich habe sie nie wieder gesehen. Die „gemeinnützige" Gesellschaft behielt die Raten, die ich schon für die Möbel bezahlt hatte. Sie wollte mich sogar verklagen, weil ich nicht, wie der Kontrakt es vorschrieb, weiterzahlte. Meine Mutter schüttelte den Kopf. Der Krieg und unsere Aktionen nahmen mich ganz in Anspruch. Allmählich schwand die Erinnerung, wie sie an jenem Abend verschwunden war, vom Nebel verschluckt. Das Problem unseres Büros war noch immer ungelöst. Einige von uns waren in die verschiedenen Tanzvereine eingetreten, die es in der Stadt gab, in der Hoffnung, einen von ihnen in die Hand zu bekommen. Ich sollte einen großen Schlag versuchen. Im Zentrum der Stadt, in einem sehr schönen Gebäude, sollte ein Klub eröffnet werden. Ich trat als einziger von uns ein. Es waren fast alles kleine Gewerbetreibende und Kaufleute. Jemand bemerkte: „Der sozialistische Friseur will Bürger werden!" Die Genossen ließen sie reden. Sie arbeiteten in den anderen Vereinen. Ich wurde in den Verwaltungsrat gewählt und auf der ersten Versammlung zum Sekretär ernannt. Hier musste ein bisschen gearbeitet werden. Die anderen bevorzugten die Ehrenämter und die Tanzvergnügen ... Ich hatte ein schönes Büro und einen sehr intelligenten Bürodiener. Er überbrachte auch die Benachrichtigungen für die Mitglieder in der Ortsgruppe der Sozialistischen Partei und drückte ein Auge zu, wenn ich dann und wann eine Sonderversammlung abhielt. Die Mitglieder waren übrigens zu stark in den Ballsälen beschäftigt, und der Bibliothekssaal mit seinen vielen schönen Büchern war immer leer. Ich stellte den Antrag, Mitglieder mit einem bescheidenerem Beitrag nur für die Bibliothek aufzunehmen. Das Betreten des Ballsaales sollte ihnen verboten sein. Die Krämer waren einverstanden, und wir machten die Sache bekannt. In aller Stille traten nach und nach die weniger bekannten Genossen ein. Allmählich wurden wir als Bürger anerkannt. Als ich einige Jahre später auf dem Balkon im Zentrum der Stadt zum ersten Male sprach, gingen den Krämern die Augen auf. Vielleicht hatten sie es auch schon gemerkt. Aber es war eine langwierige und mühselige Arbeit. Es war ja mitten im Weltkrieg. Inzwischen war es vor dem Ausbruch des Weltkrieges uns und anderen sympathisierenden Vereinsmitgliedern gelungen, dann und wann unsere Redner und Vortragsthemen einzuschmuggeln. |
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