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Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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Ich nahm einen Artikel aus Mussolinis „Popolo dTtalia", setzte eine andere Überschrift darüber und schrieb meinen Namen darunter. Von dem Artikel blieben nur die Unterschrift und der Titel übrig. Nun wählte ich die verschiedensten Decknamen und zwang dadurch den Zensor, die Sachen zu lesen. Das Ergebnis war das gleiche.
So hatte sich das Material angesammelt, das zu meiner Internierung führen sollte. Die Internierung wurde gegenüber Ausländern und Sozialisten angewandt. Viele Genossen wurden davon betroffen. Manche wurden nach Sardinien, auf die kleinen Inseln oder in die Berge verbannt. Ein unserer Partei angehörender Lehrer zum Beispiel wurde aus der Romagna nach Kalabrien verschickt. Mit Handschellen gefesselt, musste er viele Kilometer über Gebirgspfade zu Fuß gehen und dann lange Zeit in einem kleinen Dorfe leben, völlig abgeschlossen von der Welt.

Die Reaktion wurde jeden Tag schlimmer. Die Verhaftungen und Verurteilungen nahmen kein Ende. Die Soldaten, die auf Urlaub kamen, erzählten von den Schrecken des Krieges und beobachteten empört, wie andere Leute sich bereicherten und sich amüsierten. Die Bourgeoisie kannte kein Maß mehr. Die Neureichen hatten nur Hohn und Spott für das Massenelend. Man versuchte, die Bauern gegen die Arbeiter in den Städten aufzuhetzen. „Ihr geht an die Front, und die Arbeiter sind in den Fabriken freigestellt." Oder umgekehrt: „Ihr habt nicht einmal Schwarzbrot, und die Bauern essen Weißbrot."
Die interventionistische Presse heulte: „Räumt auf mit den Barbaren! Bauern, schützt euer Land! Arbeiter, verteidigt die Fabriken! Vorwärts, vorwärts!" Alles mögliche wurde versprochen, Land für die Bauern, Arbeiterkontrolle in den Fabriken, Demokratie und Freiheit.
Die Lieferanten stellten Schuhe aus Pappe her und gaben Baumwollkleidung als Wollkleidung aus. Die Soldaten starben nicht nur durch feindliche Kugeln, sondern erfroren auch in den mit Wasser gefüllten Gräben oder gingen an dem schlechten Essen zugrunde.

In dieser Atmosphäre kam es in mehreren Städten zu Aufständen. Der größte Aufstand brach in Turin aus. Kennzeichnend für ihn war seine Spontaneität. Er war heldenhaft, hatte aber keine Führung. Dabei war die Lage furchtbar, und es wurden die dümmsten politischen Ränke gesponnen.
Die Sozialistische Partei Italiens hatte eine andere Haltung eingenommen als die meisten Parteien der II. Internationale. Sie hatte es abgelehnt, den Krieg zu unterstützen, sich dem Block der Vaterlandsverteidiger anzuschließen und sich an der Verantwortung für den Krieg zu beteiligen. Der Verrat Mussolinis, der doch der Führer der Partei war, hatte nicht zu einer Krise geführt. Die Interventionisten waren ohne Spaltung ausgeschieden. Die Massen hatten sich sogar noch fester um die Partei zusammengeschlossen.
Die Haltung der Partei war klar: Ablehnung des Krieges. Aber diese rein negative Haltung war nicht kämpferisch. „Nicht mitmachen und nicht sabotieren", sagte die Parteiführung, und dadurch wurden wir in den unteren Einheiten praktisch lahm gelegt. „Nicht mitmachen" — das war schon recht, und keiner von uns machte mit, mit Ausnahme der Reformisten, die in den Mobilmachungskomitees mitarbeiteten. Was das „Sabotieren" betraf, so war die Sache weniger klar. „Nicht mitmachen" bedeutete bereits „sabotieren".
„Neutral", „über dem Getümmel" bleiben, das war nicht möglich, das wird niemals möglich sein. Die in ihrer passiven Negation erstarrte Partei sah nicht die tatsächliche Zusammenarbeit der Reformisten, die die noch bestehenden Gewerkschaften beherrschten, mit den Industriellen. Sie sah auch nicht die Empörung, die unter den von der Kriegsmaschine zermalmten Massen heranreifte.

Die Tragödie Italiens hieß Caporetto. Die Armee brach zusammen, die herrschenden Klassen und der Staatsapparat gerieten in Verwirrung und standen vor dem Nichts, in der gesamten werktätigen Bevölkerung herrschte ungeheure Unzufriedenheit. Und die Partei der Arbeiterklasse, die Sozialistische Partei Italiens, war gefesselt durch ihre Formel, den Krieg, diesen größten Unterdrückungspakt der Bourgeoisie gegen das Proletariat, „nicht mitzumachen und nicht zu sabotieren".
Hier liegen die objektiven Ursachen für die spätere Niederlage des italienischen Proletariats.
Der Turiner Aufstand im August 1917 kam für die Partei völlig überraschend. Er verlief ohne Führung und wurde trotz des Heldenmutes der Arbeiter im Blut erstickt. Turin hat in Bezug auf Kämpfe und Massenstreiks eine revolutionäre Tradition. Während die Führung der Sozialistischen Partei sich nicht imstande fühlte, zu Beginn des Krieges den Generalstreik auszurufen, war der Generalstreik in Turin ausgebrochen und hatte heftige Formen angenommen. Im Frühjahr 1917 kündigten sich in den großen Industriestädten bedrohliche Ereignisse an. In Mailand kam es zu Unruhen.
Ü berall herrschte tiefe Unzufriedenheit, besonders in den der militärischen Disziplin unterstehenden Metallfabriken. Aus nichtigen Anlässen wurden zum Beispiel in den Turiner Fabriken — ich begab mich sehr oft nach Turin, um mit den Genossen in Verbindung zu bleiben — nicht nur Arbeiter, sondern auch Frauen und Kinder eingesperrt, in die Arrestzellen des 6. Artillerieregiments oder ins Zuchthaus. Arbeitsunfälle wurden nicht anerkannt. Für die Gewerkschaften, deren Führer — Colombino, Buozzi, Guarnieri und andere — in den Komitees für wirtschaftliche Mobilmachung saßen, gab es nur die Zusammenarbeit mit den Unternehmern. Die Turiner Ortsgruppe der Sozialistischen Partei war gegen die Beteiligung an den Komitees gewesen, aber die Frage war im Landesmaßstabe anders entschieden worden, und die reformistischen Gewerkschaftsvertreter arbeiteten mit den Industriellen zusammen.
Hier und dort brachen Streiks aus. Es kam zu eindrucksvollen Kundgebungen gegen den Krieg, als die Arbeiter sich in Massen an der Beisetzung einiger Arbeiter beteiligten, die bei der Explosion in einer Pulverfabrik in Borgo San Paolo ums Leben gekommen waren. Wer in den unter militärischer Kontrolle stehenden Fabriken die Arbeit einstellte, wurde entlassen und vor ein Kriegsgericht gestellt.
Als Goldenberg und Smirnow als Delegierte der Provisorischen Regierung Russlands in Turin eintrafen, brach ebenfalls ungeheure Begeisterung aus, und es kam zu großartigen Demonstrationen. Die Delegierten mussten vom Balkon aus sprechen, da die Räume des Gewerkschaftshauses die ungeheuren Arbeitermassen nicht fassen konnten. Es war die erste Versammlung seit dem Ausbruch des Krieges. Goldenberg und Smirnow erlebten jedoch die Überraschung, dass die Arbeitermassen Lenin und die Bolschewiki hochleben ließen.
Gegen Ende Juli 1917 wurde das Brot in Turin knapp. Das Brot war zwar schwarz und unverdaulich, da es aus minderwertigem Mehl hergestellt war, doch bildete es das Hauptnahrungsmittel der Arbeitermassen, und daher machte sich der Brotmangel sehr unangenehm bemerkbar. Seit mehreren Tagen wurden auch die knappen Rationen nicht mehr ausgegeben. Nach stundenlangem Anstehen sah man an den Bäckereien das Plakat mit der Aufschrift „Brot ausverkauft" erscheinen. Rufe der Empörung und der Wut wurden laut. Die Arbeiterfrauen, die nach zehn- bis zwölfstündiger Arbeit zwei oder drei Stunden angestanden hatten, mussten ohne Brot nach Hause gehen.
Man kann sich die Stimmung der Massen in den Tagen vor dem Aufstand, der in der heftigsten Form ausbrach, leicht vorstellen. Auf der einen Seite verlangten die Massen nach Brot und Frieden, auf der anderen Seite wollten die Kapitalisten, die Lieferanten, die wohlgenährten Reklamierten unter dem Schutz der reaktionären bewaffneten Kräfte des Staates — der Armeeoffiziere, der Gendarmerie und der Polizei — den Krieg bis zum Siege.
Eines Tages, am 22. August, ging das Brot gänzlich aus. In mehreren Fabriken kamen die Arbeiter nach dem Frühstück nicht zurück.
„Warum kommt ihr nicht zur Arbeit?" fragte ein Unternehmer seine Arbeiter.
„Weil wir nichts zu essen haben!"
„Ich werde einen Lastwagen mit Kommissbrot holen lassen."
„Nieder mit dem Krieg!" schrieen die Arbeiter.
Um fünf Uhr hatten alle Arbeiter die Fabriken verlassen. Die Reklamierten warfen ihre dreifarbigen Armbinden fort und schlossen sich den Streikenden an. Der Sekretär des Gewerkschaftshauses wurde verhaftet. Die Reformisten wollten ein Flugblatt verbreiten, um sich von der Aktion zu distanzieren. Es gelang jedoch, die Verbreitung zu verhindern. Es wurde eine Delegation an die Parteileitung und an die Gewerkschaftsleitung in Mailand geschickt, um die Ausdehnung der Aktion zu verlangen. Sie wurde abgewiesen.
Der spontane Aufstand der Massen aber entwickelte sich und wuchs trotz der Führungslosigkeit. Eine Abordnung von Frauen begab sich zum Präfekten. Es wurden Versprechungen gemacht. Auf der Straße tobte die Menge. Von einem in der Menge befindlichen Luxusauto glaubte man den Ruf zu vernehmen:
„So viel Lärm um ein bisschen Brot! Sollen sie doch Kuchen essen!"
„Und wir werden Kuchen essen!"
Die Konditoreien wurden gestürmt und geplündert.
„Kuchen und nicht mehr Schwarzbrot!"
Die Plünderungen wurden, nachdem sie einmal begonnen hatten, immer häufiger und griffen vom Zentrum auf die Peripherie der Stadt über. Es entstanden die ersten Barrikaden, schlecht gebaut und leicht zu bezwingen. Es kam zu den ersten Zusammenstößen mit der Polizei. Es gab Tote. Die Arbeiter plünderten die Waffengeschäfte. Es entstanden Barrikaden aus Baumstämmen und Straßenbahnwagen.
Da griffen neben der Polizei die bewaffneten Kräfte des Staates ein. Da die Zentren des Aufruhrs die Vorstadt San Paolo und die Gegend am Mailänder Tor an den beiden entgegengesetzten Enden von Turin waren, wurde die Stadt vom Militär in zwei Teile zerschnitten. Die Soldaten waren bleich und unsicher, die Offiziere wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die Frauen brachten den Soldaten Essen und riefen ihnen zu: „Schießt nicht, wir sind eure Brüder!" Eine Abteilung von Gebirgsjägern erhielt den Befehl zum Schießen, übergab aber nach kurzem Zögern die Gewehre den Arbeitern. Dieser Zwischenfall löste ungeheure Begeisterung aus.
Keine Partei aber ließ etwas von sich hören. Die Menge rief ihre Losungen. Anfänglich hörte man die Parole: „Wir wollen Brot! Nieder mit dem Krieg!" Dann hieß es: „Wir wollen Frieden! Die Waffen nieder! Heraus aus den Gräben!"
Es wurde gesungen:

„Nimm dein Gewehr und wirf es auf die Erde!
Wir wollen Frieden, Frieden wollen wir,
Wir wollen Frieden, nieder mit dem Krieg!"

Ein Kommissariat der Sicherheitspolizei wurde gestürmt, die Menge strömte ins Zentrum nach der Präfektur, dem Polizeipräsidium und den Kasernen. Die aufrührerische Menge — ohne jede Führung — spürte trotz der dunklen Machenschaften, dass sie siegen konnte. In diesem Augenblick erschienen Panzerautos. Die Maschinengewehre eröffneten das Feuer. Alsbald türmten sich in den Straßen die Leichen.
In den Vororten wurde überall noch geschossen.
Ich habe diese Tage noch gut in der Erinnerung—die halbdunkle Stadt, das unheimliche Knattern der Gewehre, die feuernden Maschinengewehre.
Der Heroismus des Proletariats war großartig. Während die schweren Panzerwagen auf der Fahrt in die Vororte waren, stürzten plötzlich Frauen aus den Häusern, durchbrachen die Absperrungen und verlegten den Panzerwagen den Weg, indem sie sich an sie anklammerten. Der Befehl, unter Maschinengewehrfeuer weiterzufahren, wurde nicht befolgt. Die Soldaten, bleich, mit schweißbedeckten und tränenüberströmten Gesichtern, schossen nicht.
Aber der Widerstand konnte nicht lange dauern. Die widersprechendsten Gerüchte liefen um. Es hieß, die Führung der Sozialistischen Partei habe die Wiederaufnahme der Arbeit empfohlen. Nach wenigen Tagen war der Aufruhr erstickt.
Die Zahl der Toten? Nach amtlichen Angaben waren es zweiundvierzig, nach unseren Berechnungen fünfhundert, wozu Tausende von Verwundeten kamen. Der Zutritt zu den Toten war verboten. Sie wurden ohne Identifizierung begraben.
Einen ganzen Monat gingen die Verhaftungen weiter. Auch Serrati wurde in Mailand verhaftet. Vor Gericht verteidigten die Verhafteten die Haltung der Sozialistischen Partei zum Kriege, keiner aber verteidigte die Haltung und den heroischen Aufstand des Turiner Proletariats. Keiner brachte den Mut auf, den heldenhaften Defätismus der Aufständischen zu preisen.
Die Amnestie vom 22. Februar 1919 gab später allen die Freiheit wieder. Das Echo der Turiner Ereignisse drang überallhin. Die Arbeiter, die Bauern, die Soldaten, die Gewerbetreibenden waren tief beeindruckt. Die Zeitungen aber schwiegen. Selbst der „Avanti" beschränkte sich auf eine kurze Erwähnung in den kleinen Nachrichten und wagte nicht einmal eine sachliche Darstellung der Tatsachen.
In meinem Wohnort stellten wir mit der Schreibmaschine ein Flugblatt her und übersetzten es auch für die Gefangenen. Im Laden wurde von nichts anderem gesprochen, zumal ich an einem der ersten Tage des Aufstandes in Turin gewesen war.
Cadornas Heeresberichte und die Artikel der Sonderkorrespondenten sprachen immer nur von Siegen. Bald danach aber ging die italienische Armee in völliger Auflösung bis an den Piave zurück.
Als es nicht mehr möglich war, die Niederlage bei Caporetto geheimzuhalten, nannte die ganze Bande der Kriegsgewinnler, die über den Turiner Aufstand tiefstes Schweigen bewahrt hatte, unter den Ursachen der Niederlage in erster Linie eben diesen Aufstand.
Die gleichen Zeitungen, die das Heldentum des italienischen Soldaten gepriesen hatten, beschimpften ihn nun aufs gemeinste. So machten es alle, von Cadorna, der dadurch die Verantwortung von sich abwälzen wollte, bis zum letzten Interventionisten. Nicht einmal jetzt, wo ihr Vaterland sich in Gefahr befand, konnten die reklamierten Lieferanten sich zu der schönen Geste der freiwilligen Meldung entschließen. Sie, die doch, um Millionen zu erraffen, die Soldaten zum Hungertode verurteilt, ihnen Baumwollkleidung statt Wollkleidung und Pappschuhe statt Lederschuhe geliefert hatten, verlangten mit lauter Stimme, statt an die Front zu gehen, Erschießungen, Verhaftungen, Verurteilungen.
Nähere Einzelheiten über den katastrophalen Rückzug von Gaporetto erfuhr ich von einem Offizier, der in unsere Gegend kam. Er erzählte furchtbare Dinge: die Straßen waren versperrt von fliehenden Soldaten, von Versprengten, die sich unter die entsetzte Bevölkerung gemischt hatten, Frauen hatten mit ihren wenigen Habseligkeiten und ihren kleinen Kindern die Häuser verlassen, und um die verwundeten Soldaten am Straßenrand kümmerte sich kein Mensch. Brücken brachen zusammen, ehe die versprengten Truppen und die fliehende Bevölkerung sie überschritten hatten. Es spielten sich grauenhafte Szenen ab. Die in Auflösung befindliche Armee und die Bevölkerung wurden nicht nur von der feindlichen, sondern auch von der italienischen Artillerie beschossen, um den Strom der Flüchtenden aufzuhalten. Vergeblich versuchten die Offiziere, die alles mit sich fortreißende Lawine zum Stillstand zu bringen. Bis über den Piave hinaus wälzte sich diese Lawine, und die flüchtenden Familien ergossen sich fast über ganz Italien.
Damals versprach die Bourgeoisie den arbeitenden Klassen den Himmel auf Erden, um die Armee reorganisieren und die Lawine aufhalten zu können.
Die mageren Rationen wurden noch kleiner, und die Kerker füllten sich. Die Jagd auf die Soldaten, die Deserteure, die Defätisten verschärfte sich. Im Kampfgebiet fanden Massenerschießungen statt, und lange Reihen von Gefesselten zogen an die Front. Die Militärgefängnisse waren überfüllt. Der Name des Generals Graziani, der zahllose Erschießungen vornehmen ließ, wurde mit Abscheu genannt; er wurde allgemein als Henker bezeichnet.
Der Zusammenbruch des Staates und der Armee war vollständig. Die Arbeiterklasse aber war nicht gerüstet, sich auf ihren Klassenfeind zu stürzen und ihm den Rest zu geben.
Die Soldaten, die die Front verließen, warfen auf dem Wege ins Landesinnere ihre Gewehre weg, statt sie gegen ihre Unterdrücker zu gebrauchen. Die Bauern zogen plündernd durchs Land, statt die Güter zu besetzen, und die Arbeiter besetzten die Fabriken nicht. Warum?
Warum ertönte aus dieser Masse der seit Jahren vom Krieg gequälten Menschen, aus dieser zusammenbrechenden Armee keine Stimme, die das werktätige Volk gegen die Unternehmer, die Schergen, den König, die Großgrundbesitzer, die Priester, gegen den Klassenfeind aufgerufen hätte?
Weil die politische Organisation des Proletariats vor ihrer Aufgabe versagte. Die Sozialistische Partei Italiens rührte sich nicht. Turati verkündete aber laut: „Das Vaterland ist am Grappa!" Seine Rede wurde von der reaktionären Presse begeistert begrüßt.
„Das Vaterland ist am Grappa!" Das Vaterland, das Turati retten wollte, war das Vaterland der Bourgeoisie.
Während die Verteidigung an der Piave-Front reorganisiert wurde, während die italienische Bourgeoisie die Regimenter mit Versprechungen und Erschießungen wieder in Stellung brachte und Cadorna den Abschied gab, berief die Sozialistische Partei einen außerordentlichen Parteitag nach Rom ein. Er wurde von Orlando verboten. Langsam erholte sich die italienische Bourgeoisie.

Die Sozialistische Partei Italiens befand sich während des Krieges praktisch in der Illegalität. Aber die illegale Arbeit der Partei war den Schergen Giolittis und Orlandos gewachsen. Lasst euch erzählen.
Nach der Niederlage von Caporetto, nach der Rede Turatis über die Verteidigung des Vaterlandes — Orlando, damals Vorsitzender des Ministerrates, ließ diese Rede unter den Truppen verteilen, um ihnen einzureden, die Führung der Partei sei für die Verteidigung des vom Feinde besetzten Gebietes — berief der Parteivorstand einen außerordentlichen Parteitag nach Rom ein. Die Zensur hatte eine Entgegnung der Partei auf die Rede Turatis in der Kammer verboten. Ein Parteitag war notwendig, um zu bekunden, dass Turati nicht im Namen der Partei gesprochen hatte, dass die Masse der Partei für den Frieden und gegen den Krieg war. Orlando verbot den Parteitag. Der rechte Flügel der Partei hüllte sich in Schweigen. Die konsequent revolutionäre Mehrheit indessen berief einen Parteitag ein.
Der Parteitag wurde illegal nach Florenz einberufen. Das Einberufungsschreiben war mit größter Vorsicht abgefasst. Ich versammelte die Bezirksleitung und las das Schreiben vor. Die alten Genossen in der Bezirksleitung waren bestürzt. Eine illegale Versammlung? Das erklärten sie für Irrsinn. „Wir haben den Parteitag einberufen, Orlando verbietet ihn, nach dem Kriege werden wir zeigen, was die Demokratie vermag, heute ist nichts zu machen." Ich gab nicht nach und drängte: „Wir haben einmütig für die orthodoxe Richtung gestimmt, und jetzt gilt es zu handeln." Da stellte einer der Genossen den Antrag, mich als Delegierten des Bezirksverbandes zum Parteitag von Florenz zu entsenden. Die anderen waren begeistert. (Hier muss ich bemerken, dass niemand von diesem Bezirksverband zur Kommunistischen Partei übergetreten ist.)
Wenige Tage später erhielt ich die offizielle Einladung.
Während ich den Kopf eines Kunden bearbeitete, überlegte ich mir, wie ich trotz des Verbotes am besten die Stadt verlassen könnte, als in der Tür die imposante Gestalt des Maresciallo erschien. Ich war an die Besuche der Carabinieri gewöhnt, aber der Anblick des örtlichen Postenkommandanten überraschte mich doch. Es musste sich um eine wichtige Angelegenheit handeln.
„Ich muss mit Ihnen sprechen", sagte der Maresciallo sehr liebenswürdig.
„Sagen Sie mir lieber gleich", erwiderte ich, weil ich diese Art von Aufforderungen kannte, „ob ich Wäsche und ein paar Bücher mitnehmen soll."
„Aber nicht doch, ich bitte Sie, es ist eine Sache von wenigen Minuten."
„Dann komme ich, wenn ich meinen Kunden bedient habe."
Unsere Kunden waren an derartige Unterbrechungen gewöhnt. Einmal musste ich einen im Stich lassen, den ich erst halb rasiert hatte. Auch damals sollte ich gleich wiederkommen und kam erst nach zwei Wochen zurück.
Diesmal aber erwies der Maresciallo sich als Ehrenmann. Ich kam mit einer Viertelstunde davon. In seinem Büro musste ich ihm gegenüber Platz nehmen. Auf seinem Tisch lag ein Papier. Er setzte sich die Brille auf, zog ein wenig an seinem Schnurrbart und hüstelte zwei- oder dreimal, wie man es zu tun pflegt, wenn man nicht weiß, wie man anfangen soll. Mein Maresciallo war kein Redner. Er brauchte einige Zeit, um sich vorzubereiten, und diese Zeit genügte mir, um — natürlich verkehrt — das vor ihm liegende Schreiben zu lesen. Dies Schreiben von Orlando war sehr interessant. Es lautete:

Betrifft: Illegaler Parteitag der PSI in Florenz.
Dem hiesigen Ministerium wird gemeldet, dass der bekannte sozialistische Friseur (es folgte mein Vor- und Zuname) an dem Parteitag teilnehmen soll. Er ist streng zu überwachen, und seine Abreise nach Florenz ist mit gesetzlichen Mitteln zu verhindern. Dies alles muss unauffällig erledigt werden. Über die getroffenen Maßnahmen ist zu berichten usw.
gez. Der Minister

In einer Ecke stand: „Streng geheim."
„Sie sollen also zum Parteitag?" begann der Maresciallo.
„Zu welchem Parteitag?" erwiderte ich. „Sie wissen sehr gut, dass Orlando den Parteitag in Rom verboten hat."
Diese Entgegnung musste wohl nicht im Programm stehen, denn der Maresciallo versank wieder in Nachdenken und begann seine Brille zu putzen, während ich das Schreiben nochmals las.
„Es handelt sich doch nicht um den Parteitag in Rom, sondern um den illegalen in Florenz ..."
„Davon weiß ich nichts", sagte ich. „Es wird ein Irrtum sein."
„Der Minister irrt sich nicht. Vielleicht erhalten Sie die Benachrichtigung später."
„Was wollen Sie eigentlich von mir, Signor Maresciallo?"
„Also, da Sie bestimmt zu dem Parteitag eingeladen werden, habe ich Anweisung, dafür zu sorgen, dass Sie sich ungehindert bewegen können, und die Polizei in Florenz zu benachrichtigen, damit die Nationalisten Sie nicht belästigen."
Der Maresciallo war ein sehr gewandter Diplomat.
„Aber das ist doch ganz einfach", sagte ich. „Wenn Sie mir versichern, dass Sie mir keinen Streich spielen, werde ich, wenn ich das Einladungsschreiben erhalte, zu Ihnen kommen und Ihnen mitteilen, wann ich abreise."
„Gut, sehr gut. Vernünftige Menschen verstehen sich immer. Wir sind also einig."
Ich verabschiedete mich und ging wieder in meinen Laden. Zwei Stunden später fuhr ich mit dem Rade nach dem Bahnhof eines Nachbarortes, um den Schnellzug nach Florenz zu nehmen.

Die Sozialistische Partei war also, was die Vorbereitung illegaler Parteitage betraf, der Gendarmerie und den Behörden in der Provinz durchaus gewachsen; denn wir trafen alle in Florenz ein, auch aus den entferntesten Orten, und zwar alle rechtzeitig.
Der Parteitag hätte stattfinden können, wenn das Organisationskomitee, das noch an diese Art von illegaler Arbeit glaubte, nicht die glänzende Idee gehabt hätte, die vorbereitende Sitzung in den bekannten Räumlichkeiten des Provinzialverbandes der Partei, in der Via dell'Agnolo, abzuhalten. Außer uns — wir waren etwa vierzig Personen — erschienen also auch etwa hundert Polizisten und ebenso viele Carabinieri, die das Gebäude umstellten und dann nach dem üblichen „Aufmachen im Namen des Gesetzes!" die Veranstalter des Parteitages zum Präfekten bestellten.
Das Ergebnis der Unterredung war, dass der Parteitag in Florenz und in der Provinz verboten wurde. Interessant dabei war, dass Orlando oder vielmehr der Präfekt von Florenz uns darauf aufmerksam machte, dass der Parteitag nach Mitternacht dieses Tages aufgelöst werden würde. Dies bedeutete, dass wir bis Mitternacht diskutieren konnten.
Auf dem Parteitag waren außer den Vertretern der verschiedenen Provinzialverbände auch Lazzari, Serrati, Fortichiari, Gramsci, Caroti und Bordiga anwesend.
An diesem Abend hörte ich zum ersten Mal, dass in konkreterer Weise gesprochen wurde, und dies machte gewaltigen Eindruck auf mich. Nach diesen Reden am Sitz des Provinzialverbandes Florenz, während wir jeden Augenblick das Eindringen der Polizei erwarteten, erschien mir der Sozialismus als etwas Realeres. Ich war gewöhnt an die Vorträge und Artikel großer Redner und großer Schriftsteller, die niemals aus den wolkigen Höhen der Theorie hinabstiegen, an Prampolinis oder De Amicis' „Freiheit, Gerechtigkeit, alle Menschen sind Brüder", an die wuchtigen Anklagen, die Lazzari in seinem lombardischen Italienisch dem Kapitalismus ins Gesicht schleuderte, an die elegante Polemik Turatis und Modiglianis, an die wie Peitschenhiebe wirkenden Erklärungen Mussolinis, die mit der praktischen Arbeit wenig zu tun hatten. Was sollten wir tun, um den Sozialismus zu verwirklichen? Eine klare Antwort hierauf hatten die Reformisten gegeben. Sie wollten mit dem einsichtigeren Teil der Bourgeoisie zusammenarbeiten.
Die Reden eröffneten mir neue Perspektiven und ließen mich die Ereignisse in Russland besser verstehen.
Gramsci analysierte die Situation in Italien. „Wir haben die Niederlage, der italienische Staat ist desorganisiert. Der Zeitpunkt zum Handeln ist da. Die Proletarier in Stadt und Land sind bewaffnet, ihre Geduld ist zu Ende. Jetzt muss gehandelt werden."
Serrati und Lazzari, wie übrigens die Mehrheit auf dieser Versammlung, blieben bei Lazzaris Formel „Nicht mitmachen und nicht sabotieren", die in der Diskussion präzisiert wurde. „Die Niederlage ist, wie der Sieg, immer noch der Krieg. Das Proletariat gewinnt nichts dabei. Die Partei braucht ihre Haltung nicht zu ändern."
Orlando aber war anderer Ansicht. Er fürchtete eine Änderung. Diese Versammlung von vierzig Personen machte ihm Sorgen. Plötzlich entstand lauter Lärm an der Tür. Wir hörten Kolbenstöße und die Aufforderung: „Im Namen des Gesetzes — auseinander gehen!" Es war Mitternacht. Wir konnten gerade noch für eine Stunde danach eine Zusammenkunft bei dem Rechtsanwalt Trozzi verabreden. Er ist später Reformist geworden, und heute sympathisiert er, glaube ich, mit den Faschisten.
Wir verließen das Gebäude. Auf dem Platz wimmelte es von Militär und Polizei. Wir eilten in unsere Hotels. Jeder von uns wurde beschattet. Ich ging mit Gramsci und Terrini, der später der Zusammenarbeit mit der Turiner Polizei beschuldigt wurde, und zwei Polizisten hefteten sich an unsere Fersen. Wir betraten unser Hotel in der Via Calzaioli. Lazzari, den wir dort trafen, war nicht von der Polizei verfolgt worden. In der Verwirrung war es ihm gelungen, sich unbeobachtet davonzumachen.
Wir standen im Dunkeln am Fenster und beobachteten die Straße. Unten gingen die beiden Polizisten auf und ab. Dann wechselten sie einige Worte und verschwanden in der Finsternis. Was tun? Die Stunde der Verabredung näherte sich. Es war klar, dass die beiden Polizisten angewiesen waren, die ganze Nacht dort zu stehen.
Wir hielten einen Kriegsrat ab. Zwei von uns mussten geopfert werden. Wir beschlossen, dass Terrini und ich das Haus verlassen und uns in entgegengesetzten Richtungen entfernen sollten. Die beiden Polizisten würden uns sicherlich folgen, so dass Lazzari und Gramsci ungehindert zu der Verabredung gehen konnten.
So kam es auch. Ich begann meine nächtliche Wanderung durch die halbdunklen und menschenleeren Straßen von Florenz. Es gelang mir nicht, ein Auto oder eine Droschke aufzutreiben. Ich wollte auch zu der Zusammenkunft gehen, falls es mir gelang, den Polizisten abzuschütteln. Eine Streife hielt mich an und verlangte meine Papiere. (Diese Streifen bestanden aus Soldaten und Carabinieri. Sie suchten nach den Deserteuren, die es zu Zehntausenden in ganz Italien gab.) Mein Polizist trat auf uns zu und sprach ein paar Worte zu dem Führer der Streife. Man ließ mich gehen. Offenbar wollte der Polizist feststellen, wohin ich ging. Endlich fand ich ein Auto und stieg ein. Der Polizist war enttäuscht. Mit lauter Stimme gab ich die Adresse meines Hotels an. Der Polizist notierte sich die Nummer des Wagens. Wir fuhren ab. Dann nannte ich eine andere Adresse, in der Nähe des Versammlungsortes. Wenige Minuten später war ich bei den anderen.
Die Versammlung war kurz. Es wurde ein Antrag angenommen, und jeder von uns erhielt ein Exemplar zur Vervielfältigung und Verteilung in den Ortsgruppen.
Wir kehrten ins Hotel zurück. Am nächsten Tage — ein Schnellzug ging erst am Abend — besichtigten wir unter dem
„Ehrengeleit" der beiden Polizisten die „Blumenstadt". Der Präfekt glaubte, dass wir noch eine Versammlung abhalten wollten.
Auch auf den Hauptstrecken verkehrten nur wenige Züge, in der Mehrzahl Militärzüge. Wir fuhren ab. Ich befand mich mit Gramsci in einem leeren Abteil. Gramsci knüpfte an die kurze Diskussion in Florenz an und sprach ausführlich über die große Arbeit, die wir zu leisten hatten. Er sprach über den „Avanti", der später die Turiner Ausgabe des Parteiorgans werden sollte. Begeistert erzählte er mir von einer Zeitung für Arbeiterbildung. Diese Zeitung, „La cittÄfutura", erschien dann nur ein einziges Mal, und Gramsci legte darin seine Ansichten dar.
Seine klaren Vorstellungen über unsere zukünftige Arbeit waren für mich eine Offenbarung. Während der Zug durch die Felder Toscanas rollte, sprach Gramsci ausführlich über die Betriebsräte. Die Betriebsräte bildeten seiner Ansicht nach die Kader des Arbeiterstaates und in den Zeiten heftiger Kämpfe die Kader der revolutionären Armee. Ich spürte, dass Gramsci mich von abstrakten Theorien auf das Gebiet der konkreten Arbeit führte.
„Die Arbeiter", erklärte er, während er sich die soundsovielte Zigarette ansteckte und sich mit der für ihn charakteristischen Geste die Nase rieb, „müssen es lernen, die Betriebe zu leiten. Die Rechte und Pflichten des Produzenten sind nichts Abstraktes. Das Problem der Leitung der Produktion ist das Problem der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse."
Einen großen Teil der Nacht verbrachte ich damit, ihm zuzuhören.
„Die Sozialistische Partei in ihrem jetzigen Zustand wird in den nahenden Kämpfen niemals eine Rolle spielen. Die Ereignisse in Russland weisen uns den Weg. Auch wenn der ,Avanti' die Revolution preist, ist diese Revolution etwas ganz anderes als das, was unsere Führer sich darunter vorstellen ..."
Die Carabinieri erschienen und verlangten unsere Papiere. Wir waren beide ausgemustert.
„Was hältst du von einer Zeitschrift, die die Frage der Betriebsräte behandeln würde?" fragte er mich.
„Das halte ich für eine großartige Idee", antwortete ich.
Auf einem Bahnhof stiegen wir aus, um uns die Beine zu vertreten und etwas Warmes zu trinken. In den Zügen war es bitterkalt. Der Bahnhofsausschank war mit Fahnen geschmückt, aber der Kaffee war sehr teuer und eine dünne Brühe.
Wir tranken unseren Kaffee im Stehen. Als wir wieder gehen wollten, wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Ein Soldat schwang sein Gewehr wie eine Keule, brüllte wie ein Besessener und zerschlug wütend die Fensterscheiben, die Spiegel und die Marmortische. Tassen, Gläser, Flaschen und Teller gingen in Trümmer. Der Wirt verschanzte sich hinter dem Ladentisch und brüllte. Der Soldat schlug weiter um sich. Niemand wagte es, sich dem Rasenden zu nähern. Erst zwei Carabinieri und drei oder vier Eisenbahnern gelang es, ihn zu entwaffnen und unschädlich zu machen.
„Er ist wahnsinnig", sagte ein Carabinieri, „wir müssen gleich im Krankenhaus anrufen."
Der Soldat wurde mit einem Strick gefesselt. Er schien ganz ruhig. Er sah die Leute an und lachte.
„Ihr glaubt, ich bin verrückt. Nein, ich bin nicht verrückt. Ich will nicht in den Krieg. Schickt den da in den Krieg!" Er wies auf den Wirt. „Geh du in den Krieg, statt hier die Leute zu vergiften und dadurch Geld zu machen. Ein paar Kunden wie ich, und dir vergeht die Lust, hier Fahnen auszuhängen!"
Er wurde abgeführt. Man hielt ihn allgemein für verrückt. Mir aber schien er wie ein Gesunder argumentiert zu haben. Wir stiegen wieder ein. In Genua trennten wir uns. Es wäre unvorsichtig gewesen, zusammen auszusteigen.
Waffen, Munition, Verwundete, Musik. Während ich auf den Zug nach Piemont wartete, sah ich mir Genua an. Ich gehörte zu den 39 Millionen oder drei Vierteln der Italiener, die Italien nicht kennen ... Ich schlenderte umher und geriet in die Straße des 20. Septembers, als gerade ein schottisches Regiment mit einer Musikkapelle an der Spitze vorüberzog. Es gab einen großen Auflauf. Kriegsbegeisterte Studenten zogen singend nebenher und blieben zuweilen stehen, um die Schließung der Geschäfte zu verlangen. Der Inhaber eines Geschäfts für Koffer, Schirme und ähnliche Artikel räumte eilig seine Ware ein. Die Geschäftsleute wussten aus Erfahrung, dass diese eigenartigen Patrioten die Sachen einfach zu stehlen pflegten. Trotz der Schnelligkeit, mit der der Schirmhändler seinen Laden zu schließen suchte, hatten die Studenten den Eindruck, dass der Unglückliche nicht genügend Begeisterung bekundete für die Befreiung von Trient und Triest und für den Sieg der Entente. Der gröhlende Haufen blieb stehen. Plötzlich brüllte ein Student: „Er ist ein Defätist!" Nach wenigen Minuten war von den Waren des Unglücklichen einschließlich des Schaufensters nur noch ein Trümmerhäufen übrig. Zu seinem Glück konnte der Schirmhändler eine Apotheke aufsuchen!
Die Begeisterung hatte sich kaum gelegt, als die Polizei an dem Ort erschien, wo das italienische Nationalbewusstsein sich Luft gemacht hatte. Man trat mir auf die Füße, ich wurde wie ein Halm in einem Sturzbach hin und her gerissen, und es gelang mir nicht, mich davonzumachen. Ich zappelte in dem Netz, das die Polizisten um den tobenden Haufen gespannt hatten, und wurde gegen meinen Willen zum Polizeikommissariat getrieben. Wir waren etwa fünfzig Personen, alles ganz junge Studenten. Außer mir war nur ein älterer Mann darunter.
Die Studenten sangen:

„Triest muss unser sein,
Italiens Fahnen müssen dort wehen!"

Ich bedachte meine sonderbare Lage.
Als der Kommissar erschien, wurde er mit dem Ruf: „Es lebe der Kommissar!" begrüßt.
„Ich verstehe Ihre Begeisterung ..." begann der Kommissar.
„Es lebe der Kommissar!"
„... aber Sie sind die Hoffnung Italiens und dürfen sich nicht auf Kundgebungen beschränken. Sie haben andere Pflichten. Die giolittianischen und sozialistischen Defätisten arbeiten im Dunklen. Sie müssen wachsam sein, müssen sie ans Licht zerren, wenn Sie wollen, dass Italien siegt..."
„Es lebe Italien! Nieder mit den Sozialisten! Schlagt sie tot!"
Meine Lage war recht unangenehm. Ich gab keinen Laut
von mir.
Bestimmt hatte der Kommissar noch nie so viel Beifall erhalten wie an diesem Tage. Das nahm kein Ende. Vielleicht kam ich aus diesem Grunde davon. Noch einmal gab es brausenden Beifall, und dann wurden wir entlassen ...
Ich ging noch einmal zu dem Laden des Schirmhändlers. Mit verbundenem Kopf betrachtete der arme Kerl melancholisch die Reste seines Ladens und seiner Waren. Er wagte nicht einmal zu schimpfen.
„Machen Sie es wie ich", sagte jemand zu ihm. „Ich stelle meine Waren nicht mehr auf die Straße. Beim ersten Anzeichen einer Demonstration lasse ich das Gitter herunter, stecke die Fahne heraus, die ich immer zur Hand habe, und gehe nach Hause, um ein Glas guten Weins zu trinken."
Ich fuhr weiter nach Turin. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof traten zwei Herren auf mich zu.
„Wollen Sie bitte mitkommen!"
„Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?"
Sie zeigten mir einen Ausweis.
Das Polizeipräsidium von Turin liegt nicht weit entfernt vom Bahnhof Porta Nuova. Ich wurde dem Vizepräsidenten vorgeführt, einem gewissen Donvito. Er durchsuchte mich persönlich, fand aber unsere Resolution nicht.
„Geben Sie das Ding schon her, Gramsci hat es gleich abgeliefert, also machen Sie es ebenso, wenn Sie nicht ins Zuchthaus wollen", fuhr er mich an.
„Welche Resolution?"
„Ja, ja, wir wissen alles. Wir wissen, dass Sie trotz des Verbots die Versammlung abgehalten und über eine Resolution abgestimmt haben ..."
In Wirklichkeit war es ihnen trotz der angeblich zuverlässigen Informationen nicht gelungen, in den Besitz der Resolution zu gelangen. Diese wurde erst erheblich später bei der Genossin Maierotti in Bari beschlagnahmt. Daraufhin wurde Lazzari, der Sekretär der Partei, verhaftet.
Ich wurde entlassen und suchte Gramsci auf. Ihm hatte man auch gesagt, ich hätte die Resolution ausgeliefert.
Ich traf wieder in Fossano ein. Nach einigen Stunden holten die Carabinieri mich ab. Sie brachten mich in die Kaserne zu dem Maresciallo,der auf meine Abmeldung gewartet hatte. Er schäumte vor Wut.
„Wo sind Sie gewesen? Sie wissen doch, dass Sie ohne meine Genehmigung den Ort nicht verlassen dürfen! Sie werden es noch dahin bringen, dass ich versetzt werde, und mir meine Laufbahn verderben. Ich Dummkopf habe an Ihr Wort geglaubt, und Sie sind einfach abgefahren, ohne mich zu benachrichtigen!"
„Es war zu spät, als ich erfuhr, dass ich abfahren musste, und ich wollte Sie nicht stören, Signor Maresciallo."
Er wurde noch wütender.
Ich fuhr fort:
„Glauben Sie denn, Signor Maresciallo, dass ich so dumm bin, hierher zu kommen und Ihnen zu sagen, dass ich zum Parteitag fahre, damit Sie mich einsperren lassen?"
„Gut, ich sperre Sie jetzt ein, weil Sie ohne Erlaubnis abgereist sind. Außerdem wissen wir, dass Sie mit den österreichischen Gefangenen und auch mit dem Defätisten Gramsci in Verbindung stehen, der für den ,Avanti' schreibt. Sie sind auch mit den Gefangenen gesehen worden, und man hat mir berichtet, dass Sie österreichisch sprechen ..."
Nervös ging er auf und ab.
Die „österreichische" Sprache wurde mir an diesem Tage zum Verhängnis. Ich lachte laut auf.
„Durchsuchen!" brüllte der Maresciallo. „Genau durchsuchen und einsperren! Er wird es schon noch lernen."
Wenige Minuten später saß ich in der Zelle. Dort fand ich mehrere Soldaten, die an die Front abgehen sollten, und einen Betrunkenen. Dieser sang:

„Der General Cadorna hat sich was geleistet.
Ins Rote Kreuz hat lauter Huren er geschleust.
Bum, bum, bum —
So geht es ringsherum ..."

Ich war in guter Gesellschaft...

Die Resolution von Florenz, die der Vizepräsident Donvito bei mir nicht gefunden hatte, wurde in der üblichen Weise vervielfältigt und gelangte ordnungsgemäß zu den Ortsgruppen, zu den Genossen und auch — nach der Meinung des Maresciallo ins Österreichische übersetzt — zu den Kriegsgefangenen in meinem Wohnort.
Die Lawine von Caporetto kam zum Stillstand. Der Minister Boselli — der alte Trottel, der Orlando abgelöst hatte — ließ noch einmal Knaben und Greise einziehen.
Bald nach meiner Rückkehr aus Florenz musste ich nochmals zur Untersuchung, diesmal beim Armeekorps. Hier waren die Ärzte alle Generale mit den üblichen Streifen an der Mütze. Natürlich waren auch ausländische Ärzte dabei. Es war die übliche internationale Kommission.
Diesmal glaubte ich für tauglich erklärt zu werden.
Niemand in Italien wollte an Caporetto schuld sein. Man wies auf den Mann von Dronero (Anm.: Geburtsort Giolittis, so wurde Giolitti genannt) und auf Treves' Bemerkung: „Diesen Winter nicht mehr im Graben." Ich glaube aber, dass Treves selber über seine Bemerkung erschrocken gewesen ist. Sein falscher Zungenschlag wurde durch Turatis „Das Vaterland ist am Grappa!" aufgewogen.
Selbst der Papst wurde wegen seiner Bemerkung vom „sinnlosen Gemetzel" — obwohl er doch zahllose Kapläne zu Propagandazwecken unter dem Kommando eines Bischofs, der Cadorna nicht von der Seite wich, an die Front geschickt hatte — als Defätist verdächtigt.
„Es muss Schluss gemacht werden", flüsterte man überall.
Im Laden, wenn niemand es hören konnte, sagten die Soldaten zu mir: „Wir müssen es machen wie die Russen!"
Ich konnte fast nichts mehr unternehmen, auch nicht in der Stadt. Ich hatte das Gefühl, in einem Netz zu sitzen. Meine Korrespondenz wurde sämtlich geöffnet. Wegen eines nicht verstandenen Satzes wurde ich langen Verhören unterzogen. Mein Abstecher nach Florenz hatte die Polizei im Ort in wilde Wut versetzt. Der Maresciallo und der Kommissar mussten einen mächtigen Rüffel bekommen haben.
Der Winter wurde furchtbar. Das „spanische" Fieber raffte zahllose Opfer dahin. Die durchschnittliche Sterblichkeit stieg in Turin, wo sie sonst etwa fünfundzwanzig betrug, auf mehr als hundertzwanzig am Tage.
Die Frauen, die in langen Reihen vor den Geschäften standen, schimpften laut auf den Krieg. In den Läden riefen sie laut: „Die Damen sind beim Anstehen nicht zu sehen!"
„Ja, es gibt ja auch Leute, die ihnen die Hühner und das weiße Mehl ins Haus bringen ... Verfluchter Krieg!"
„Wir müssen es machen wie in Russland!"
„Eine Revolution brauchen wir!"
„Auch hierher wird Lenin kommen!"
Lenin! Lenin! Dieser Name wurde immer wieder genannt wie eine Hoffnung, er klang wie eine Drohung.
Eines Abends, als ich aus dem Turiner „Avanti" kam, wurde ich von einer Streife angehalten.
„Ihre Papiere!" sagte der Führer der Streife.
Ich gab ihm meine Untauglichkeitsbescheinigung.
„Wo wohnen Sie? Ihre genaue Adresse?"
„Ich wohne in Fossano, Cavour-Platz 11."
„Was tun Sie hier? Sie sind ein Umstürzler. Sie kommen aus dem ,Avanti'. Kommen Sie mit!"
Sie stießen mich vorwärts und brachten mich zum Polizeipräsidium. Der Kommissar vom Dienst war beschäftigt. Ich wurde auf der Wache eingesperrt.
Trotz aller Gewöhnung fühlt man sich beim Betreten eines Wachtlokals immer angewidert. Es herrschte ein entsetzlicher Gestank, der dreckige Raum war halbdunkel und mit Menschen voll gestopft. Es waren Betrunkene, Rauschgiftsüchtige, Diebe und Raufbolde. Auch Soldaten waren dabei.
Man konnte kaum atmen. Auf der Pritsche stand ein Halbbetrunkener und redete. Bei meinem Eintritt wandten die Häftlinge sich um. Kaum war die Tür wieder geschlossen, als der Redner fortfuhr:
„Ich habe also gesagt, meine Herren, es gibt keine Gerechtigkeit! Ich werde das beweisen ..."
„Leg dich schlafen, du Affe ..."
„Hör auf, Idiot ..."
Die andern amüsierten sich königlich.
„Ich bin in Amerika gewesen. Als ich gehört hatte, dass Krieg gegen die Deutschen war, bin ich gleich abgefahren. In Genua haben sie mich sofort angeworben. Nach einem Monat war ich schon an der Front. Gut zwei Wochen bin ich da geblieben! Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und habe gebeten, mich zurückzuschicken. Es war ein Hundeleben! Da kann man doch nicht bleiben. Sie wollten mich aber nicht zurückschicken."
„Was du dir einbildest!" sagte einer von den Zuhörern. „Du hast dich freiwillig gemeldet und solltest dich schämen, so zu reden."
„Da bin ich ausgerückt. Seit längerer Zeit arbeite ich in einer Fabrik unter falschem Namen. Heute abend war ich ein bisschen angetrunken, und da haben sie mich erwischt... Es gibt keine Gerechtigkeit! Ich kann es eben an der Front nicht aushalten und habe in der Fabrik geschafft. Damit habe ich dem Vaterland auch gedient!"
„Du feiger Hund!" brüllte einer von den Soldaten. „Du Feigling hast in den Krieg gewollt und willst die andern in den Krieg schicken ... Halt dein Maul oder ich hol dich runter. Hör auf oder ich zerschlage dir die Schnauze!"
Der Redner stand schon unten.
„Ich", fuhr der Soldat fort, „ich habe den Krieg niemals gewollt, ich habe sogar gekämpft, um ihn zu verhindern, und ich bin zwanzig Monate an der Front gewesen. Obwohl meine Vorgesetzten sich die größte Mühe gegeben haben, bin ich nicht tot, noch nicht einmal verwundet. Was für ein Hundeleben! Immer nur der Schützengraben und der Unterstand.
Immer nur Tote, Dreck, Erschießungen, Hunger, Kälte. Wie viele Kameraden habe ich neben mir fallen sehen! Wie oft habe ich mir einen Kopfschuss gewünscht, um dieser Hölle zu entrinnen! Endlich habe ich Urlaub bekommen, zwanzig Tage. Ich bin in die Heimat gefahren. Während unsereiner ein Hundeleben führt, wird in der Heimat spekuliert. Ich habe laut gesagt, was ich dachte. Am zweiten Urlaubstag haben sie mich verhaftet. Und nun muss ich zurück in die Hölle! Und der Affe da ist aus Amerika gekommen!"
Eine Weile herrschte Schweigen. Ich sah den Soldaten an.
„Warum bist du denn hier?" fragte er mich.
„Ich bin untauglich, ich bin Sozialist ..."
„Sieh mal!" sagte er und wies auf die Wand.
Ich sah hin. Undeutlich las man dort, wegen der Dunkelheit in dem Raum, in etwa dreißig Zentimeter großen Buchstaben: „Es lebe Lenin!"
„Wer hat das geschrieben?" fragte ich.
„Ich", antwortete der Soldat.
„Wie hast du das gemacht?"
„Ganz einfach, mit Kopierstift und Wasser."
„Bist du Sozialist?" fragte ein gutgekleideter Mann, der sich abseits hielt.
„Ja, ich bin Sozialist", erwiderte der Soldat. „Und was bist du? Du siehst aus wie ein Polizeispitzel."
„Ü berlege dir, was du sprichst ... Ich bin ein anständiger Mensch!"
„Und dann bist du hier?" fiel der Soldat ihm spöttisch ins Wort.
„Euer Sozialismus ist nicht zu verwirklichen", entgegnete der andere, ohne auf die Ironie einzugehen.
„Warum?" fragte der Soldat.
„Es können nicht alle Menschen gleich sein."
„Sehr richtig, es gibt intelligente Menschen und Esel, wie du einer bist", ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund,
„Wer beleidigt hier die Leute und versteckt sich? Komm hervor, wenn du Mut hast!" sagte der gutgekleidete Mann.
Plötzlich stand der Sprecher vor ihm. Es war auch ein Soldat, ein Gebirgsjäger, mindestens 1,80 Meter groß ... Der Mann, der ihn herausgefordert hatte, war fassungslos.
„Also, hier bin ich ... Du hast wohl den Faden verloren?" fragte der Soldat spöttisch.
„Nicht doch, es ist besser, wenn man sich beim Diskutieren ins Gesicht sieht ..."
„Schon gut, ich verstehe ... Du willst zum Rückzug blasen ... Übrigens, wenn wir uns ins Gesicht sehen wollen, wer bist du eigentlich? Ich bin ein Deserteur. Ich gehöre zu denen, die die Front und ihr Regiment im Stich gelassen haben ... Und du?"
Der andere schwieg.
„Raus mit der Sprache!" drängte der Soldat.
„Ich...ich bin das Opfer eines Polizeiirrtums", stammelte er.
Das brausende Gelächter wurde von dem vertrauten Klirren der Riegel unterbrochen. Die Tür öffnete sich, und noch ein „Mieter" wurde hineingestoßen. Auch er war gut gekleidet. Er sah sich um, stürzte sich wortlos auf das Opfer des Polizeiirrtums, packte den Kerl am Kragen und schrie: „Du Aas! Du Spion!" Dann schlug er blindlings auf ihn ein. Der andere wehrte sich. Sie stürzten zusammen zu Boden. Niemand griff ein.
Nach einer Weile warf der Gebirgsjäger sich dazwischen und trennte sie mit ein paar Ohrfeigen. Die beiden musterten sich grimmig, mit zerrissenen Kleidern, geröteten Gesichtern und keuchendem Atem.
Der Neue sagte:
„Dieser Herr ist ein Polizeispitzel! Seid vorsichtig ... Er sitzt hier, um sein Gewerbe auszuüben. Er hat sich in unsern Verein eingeschlichen. Lauter junge Leute aus guter Familie. Herrliche Abende haben wir verbracht. Ein verschwiegenes Lokal, schöne Frauen, Champagner, ein Spielchen, gutes Essen und wohl auch eine Prise Kokain. Heute abend ist die Polizei bei uns eingedrungen und hat uns alle verhaftet. Die andern sitzen in den anderen Wachtlokalen, manche sind noch beim Kommissar. Bei mir haben sie achttausend Lire beschlagnahmt... Und alles durch diesen Lumpen da, durch dieses Aas ..."
Er ging wieder auf ihn los, wurde aber zurückgehalten.
Das Opfer des Polizeiterrors zeterte:
„Du bist ein Aas! Söhne aus guter Familie! Alles Drückeberger! Ich bin durch Zufall dahin geraten. Bordellbesitzer ist er, dieser Sohn aus guter Familie, und freigestellt ist er ... und unabkömmlich, damit er die Unglücklichen ausbeuten kann, die sich verkaufen!"
„Du Feigling, du schickst deine Frau auf die Straße und machst den Spitzel. Berto hat dich gestern an der Porta Palazzo mit einem bekannten Polizeispitzel gesehen und hat keine Zeit gehabt, uns zu warnen. Aber wir sehen uns wieder ..."
„Für dieses Lumpenpack schlagen wir uns", bemerkte der Gebirgsjäger. „Ihr seid einander würdig!" Er schlug sie zusammen wie zwei Puppen.
„Und jetzt in die Klappe, sonst schlage ich euch den Wanst ein!"
Er zeigte ihnen seine Fäuste.
Einer der beiden brummte etwas vor sich hin und bezog einen Fausthieb, der ihn kopfüber auf die Pritsche warf. Er schrie wie ein Besessener. Die Tür ging auf, und drei neue „Mieter" traten ein.
„Guten Abend die Gesellschaft!" rief einer von ihnen. „Darf ich vorstellen? Dies ist Tonio, genannt der Riesenaffe, der da ist Mario, genannt der Schöne, und ich bin Bastiano, genannt der Lange. Wir sind alle vom Balun" — ein Vorort von Turin. „Sie haben uns alle gegriffen und wollen uns an die Front schicken. Aber morgen, wenn sie in den Akten stöbern, entdecken sie bestimmt, dass wir noch etwas mit den Gerichten abzumachen haben, und dann ist unsere Haut gerettet. Das ist die Hauptsache. Wir sind feine Kerle und ziehen nicht in den Krieg!"
Die ganze Nacht hindurch kamen immer neue Häftlinge an. Die Luft wurde immer dicker. Ich hatte entsetzliche Kopfschmerzen. Im Morgengrauen schlief ich erschöpft auf dem Fußboden ein.
Bei Tageslicht konnte ich die ganze Gesellschaft besser erkennen. Die moralisch Einwandfreien, wie etwa die wenigen Soldaten, konnte man an den Fingern herzählen.
Die Tür wurde geöffnet, und mehrere wurden aufgerufen. Manche wurden eingesperrt, manche an die Front geschickt, manche entlassen und manche unter Bedeckung abtransportiert.
Meinen Namen hörte ich nicht. Plötzlich entdeckte der Oberaufseher die Inschrift „Es lebe Lenin!"
„Wer hat das geschrieben?"
Keine Antwort.
„Es ist zwecklos, ihr sagt es ja doch nicht. Ihr seid alle Schweine. Der Anstreicher soll kommen!"
Der Anstreicher erschien und übermalte die Inschrift. Es waren noch andere da, meistens Schweinereien oder allerhand Mitteilungen, wie etwa: „Beppe lässt Nando grüßen. Lebe wohl, ich gehe nach Pallanza ... Beppe weiß, dass Nando hier vorbeikommt ... Giacomo hat vier Monate bekommen ... Martino teilt Carlo mit, dass er fünfzehn Monate bekommen hat." Und so weiter. Diese Inschriften blieben. „Es lebe Lenin!" aber war wieder zu lesen, als die Farbe trocknete. Der Maurer musste kommen. Unter seinem Meißel verschwand die Farbe, aber „Es lebe Lenin!" war trotzdem zu lesen, diesmal eingemeißelt. Die ausgemeißelten Stellen mussten mit frischem Kalk zugedeckt werden, aber die Schrift war noch immer zu lesen.
Als ich nach vier Tagen ohne jegliches Verhör mit dem obligatorischen Reisepass entlassen wurde, war es noch immer nicht gelungen, „Es lebe Lenin!" auszulöschen.
„So leicht ist Lenin nicht aus der Welt zu schaffen", meinte der Gebirgsjäger, der noch immer auf seinen Transport wartete.

Ich fuhr nach Fossano und war auf die übliche Predigt gefasst. Im Zuge traf ich einen alten Bauern, einen entfernten Verwandten meines Vaters.
„Guten Tag, guten Tag!" rief er.
„Wir haben uns lange nicht gesehen", begrüßte ich ihn. „Was ist denn passiert?"
„Es ist nicht meine Schuld, wenn ich nicht mehr in den Laden komme. Weißt du, der neue Pfarrer, ein feiner Mann, der hat mir gesagt, ich soll nicht mehr zu dir gehen. Weil du ... ich habe das Wort vergessen ... weil du zu denen gehörst, die alles teilen wollen. Ich glaube ja nicht daran, aber um keinen Ärger zu haben, komme ich nicht mehr so oft."
„Schöne Geschichten erzählen euch eure Pfarrer, was, Onkel? Teilen wollen wir schon etwas, das stimmt, zum Beispiel das große Gut bei euch, damit alle Bauern etwas bekommen, die das ganze Jahr über wie Lasttiere arbeiten und dann noch Schulden zu bezahlen haben."
„Das wäre richtig! Der Pfarrer hat mir aber gesagt, dass ihr denen, die zwei Mutterschweine haben, eines wegnehmt und die Hälfte von den Hühnern und Kaninchen und so weiter."
„Wie viele Hühner und wie viele Würste kostet euch der Priester im Jahr?" fragte ich.
„Aber du weißt doch, die Kirche ist so arm ... Man muss sich das Paradies verdienen."
„Indem man den Pfarrer mästet."
„Hör mal, lassen wir das. Man hat mir gesagt, du schreibst für die Zeitungen und kannst reden wir der Pfarrer. Du könntest mir einen Gefallen tun oder vielmehr zwei ..."
„Wenn es möglich ist, sehr gern."
„Also erstens mal. Ich habe vom Kommando einen Brief bekommen, in dem sie mir mitteilen, dass mein Sohn Luigi mit Gottes Hilfe in Gefangenschaft geraten ist bei den ..."
Mein Onkel kratzte sich den Kopf ...
„Bei den Österreichern."
„Richtig, ich möchte ihm schreiben oder eigentlich nicht ich, denn die Kuh hat mir das Papier aufgefressen, und so wird Marietta schreiben. Bloß die Adresse ist sehr schwer. Du schreibst sie mir auf, nicht wahr?"
Ich versprach es ihm.
„Zweitens bitte ich dich um einen Rat. Unsere Kirche muss ausgebessert werden, und dazu brauchen wir Geld. Der Pfarrer hat eine Bank gefunden, die ein Darlehen gewähren will, aber dazu sind zwei Unterschriften notwendig. Der Pfarrer, der viel von mir hält, hat an mich und an meinen Nachbarn Matteo gedacht. Die Unterschrift kann ich schon geben, das kann ich ruhig sagen, aber ich verstehe die Geschichte mit den Wechseln nicht richtig. Wie ist das?"
„Wer die Wechsel unterschreibt", antwortete ich, „muss dafür geradestehen, und falls der Pfarrer nicht zahlt, müssen die Unterzeichner zahlen."
Mein Onkel dachte nach.
„Ich verstehe, aber sprich mit niemand darüber. Ich möchte nicht, dass der Pfarrer davon hört, sonst sieht es so aus, als ob ich so einem heiligen Mann nicht traue. Was würdest du mir raten?"

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