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Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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Ich hin zum Leben erwacht — dies ist die erste Erinnerung an meine nun weit zurückliegende Kindheit — unter dem scharfen Stachel körperlichen Schmerzes. Man hatte mich an meinem gelähmten linken Bein operiert. Um mein Bettchen herum standen die Mutter, der Vater, einige Verwandte und der Arzt.
Diese Erinnerung lebt noch immer in meinem Geist. Die sorglose Kindheit anderer Jungen habe ich nicht gekannt. Ich konnte nicht laufen und springen. Ich musste mich damit begnügen, dem Spiel der anderen Kinder zuzuschauen. Hierunter litt ich mehr als unter dem körperlichen Schmerz. Ich dachte viel nach. Mein Bruder und meine Schwestern — niemand in unserem Hause war krank — waren daran gewöhnt worden, mir Hilfe zu leisten. Dies alles rührte mich zwar, machte mich aber nervös und reizbar. Ich fühlte mich so stark, so voller Willenskraft, und das alles demütigte mich.
Ich entsinne mich der endlosen Auseinandersetzungen zwischen meinem Vater und meiner Mutter in Bezug auf mein Leiden. Mein Vater, der Mechaniker und Atheist war, arbeitete stets mehr als elf Stunden täglich, um Geld zu sparen und mich ärztlich behandeln zu lassen. Sein Traum war, mich in das hochberühmte Mauritius-Krankenhaus in Turin zu schicken. Meine fromme Mutter dagegen wollte mich immer — und sie tat es wirklich — in Wallfahrtsorte bringen, die ihrer Ansicht nach noch berühmter waren, weil die Heiligen hier den Gläubigen so viele Gnaden erwiesen hatten. Jeden Tag entdeckte sie einen neuen Wallfahrtsort.
Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen war, dass ich einer elektrischen Behandlung unterzogen wurde, die mein Vater in der Hoffnung, mich eines Tages in das Mauritius-Krankenhaus schaffen zu können, mit dem Lohn für seine Überstunden bezahlte, und mit meiner Mutter alle Madonnen und Heiligen in der Umgebung der Stadt und in den umliegenden Dörfern aufsuchte. Meine Mutter betete, und ich betrachtete die Wand- und Deckenmalereien, wobei ich mich ziemlich langweilte.
Seltsamer Eintritt ins Leben!
Ich war sechs Jahre alt. Eines Tages holte eine alte Tante mich ab, die Tante Rosa. Oft schon hatte ich ihren Namen gehört. Sie spielte eine große Rolle in einer der zahlreichen frommen Sekten eines Nachbardorfs. Sie hatte einen neuen Wallfahrtsort entdeckt, die Kapelle von Mondovi. Das war ein großes Gebäude, das einer von den Savoyern, Emanuele Filiberto, für eine gewonnene Schlacht zu Ehren der Heiligen Jungfrau erbauen ließ. Die Tante, meine Mutter und ich brachen auf, während mein Vater brummte, das sei eine überflüssige Anstrengung für mich. Ich war es zufrieden, sollte ich doch eine Eisenbahnfahrt und im Anschluss daran eine Wagenfahrt machen.
Auf der Hinfahrt ging alles gut. Es war eine sehr große Kapelle, und viele Leute waren da. Da gab es eine große Madonna, es brannten viele Kerzen, und ein Priester predigte im roten Ornat — die anderen Priester waren schwarz gekleidet. Es dauerte ziemlich lange. Mir taten alle Glieder weh, weil ich so lange knien musste, aber ich erhob keinen Einspruch, weil man mir Schokolade versprochen hatte. Endlich machten wir uns auf die Rückreise. Von der Kapelle in Mondovi — später habe ich dort einige Jahre gelebt — musste man im Wagen fahren, das heißt in einer alten, von zwei Pferden gezogenen Postkutsche. Plötzlich wurde eines der Pferde scheu, und das Ergebnis war, dass wir alle im Straßengraben landeten. Die anderen und ich kamen mit ein paar Schrammen davon, meine Tante aber, die alle Heiligen und alle Madonnen kannte, brach sich ein Bein und verlor die drei oder vier Zahne, die sie noch hatte!
Ein andermal kamen wir bis auf die Haut durchnässt nach Hause. Die Madonna — ich weiß nicht mehr, welche es war — kurierte mich zwar nicht, schickte mich aber frisch und munter wie einen begossenen Pudel nach Hause.

Mein Vater arbeitete damals in der Maschinenfabrik von Savigliano.
Ich erinnere mich noch, wie zum ersten Mal über den achtstündigen Arbeitstag gesprochen wurde. Zu Hause spielte sich fast eine Tragödie ab. Mein Vater, der, um uns alle zu ernähren, in elfstündiger und oft genug zwölf- und vierzehnstündiger Arbeit mühsam sein Geld verdiente, kam eines Abends trauriger als gewöhnlich nach Hause. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, und wir glaubten, er sei erkrankt. Meine Mutter fragte ihn:
„Was ist passiert?"
Düster antwortete mein Vater:
„Von morgen an arbeiten wir nur acht Stunden täglich."
Später kamen zwei andere Arbeiter, Nachbarsleute von uns. Sie waren ganz verzweifelt. Der eine hatte acht kleine Kinder, der andere fünf und dazu die alten Eltern.
Meine Mutter sagte:
„Wir werden sparen müssen, irgendein Heiliger wird uns schon helfen. Der liebe Gott wird uns einen Ausweg zeigen ..."
Meine Geschwister spielten am erloschenen Ofen. Ich hörte zu.
Ich verstand nicht, warum sie so verzweifelt waren. Oft genug hatte ich meinen Vater und die anderen über die lange Arbeitszeit klagen hören. Ich fragte meinen Vater.
„Wir werden weniger Geld verdienen, mein Kleiner", erwiderte mir einer seiner Freunde.
Ich dachte an alle die Heiligen und an die Madonnen meiner Mutter und meiner Tante, die seit jener berühmten Reise an Krücken ging ...
Mein Gehirn begann zu arbeiten. Nach einigen Monaten wurde nur noch vier Stunden täglich gearbeitet. Die Arbeiter holten sich das Brennholz für den nahenden Winter vom Felde. Eines Abends kam ein Freund meines Vaters mit einem Handwagen voll Holz nach Hause. Am Tage danach erschienen zwei Carabinieri und führten ihn mit Handfesseln ab. Mein Vater war tief niedergeschlagen. Am Abend fand im Hause des Fabrikbesitzers ein großes Fest statt. Mein Vater zeigte mir den strahlend erleuchteten Palast. Er ballte die Fäuste. Wir gingen früh zu Bett, um Kerzen zu sparen!
Später hörte ich von dem Krieg in Afrika sprechen.
Einmal sah ich viele Soldaten ins Feld ziehen. Viele Frauen weinten. Man sprach von zahlreichen Toten. Während man auf den Zug wartete, wurden zwei Eimer Wein für die Soldaten gebracht. Der Offizier verbot die Verteilung. Es gab Proteste und Pfiffe.
Ich hörte Bemerkungen wie: „Arme Kerle! Sie gehen zur Schlachtbank!" Und dann: „Dogari, Makalle, Abba-Garima, Menelik, Taitu, Baratieri ..."
Der Zug fuhr ab.

Noch ein anderes Ereignis hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt — ein Streik der Keramikarbeiter in Mondovi, wohin wir übergesiedelt waren.
Mein Vater arbeitete in einer großen Tonwarenfabrik — dort wohnten wir auch — als Maschinenwärter. Ich trieb mich immer unter den Arbeitern umher. Alle arbeiteten sie elf Stunden täglich, die Männer, die Kinder und die Frauen. Es war eine schwere Arbeit, und der durchschnittliche Stundenlohn betrug für die Männer fünfzehn Centesimi und für die Frauen zehn Centesimi, während die Kinder vierzig, fünfzig oder sechzig Centesimi täglich erhielten. Die Verhältnisse in dieser Fabrik waren trostlos. Der Besitzer misshandelte die Arbeiter. Einmal zum Beispiel sah ich, wie er nach einer Flut von Beschimpfungen eine alte Arbeiterin entließ, weil sie einen Napf zerbrochen hatte.
Die Wirtschaftskrise lastete schwer auf Italien. Es war die Zeit des Krieges in Eritrea, der italienische Imperialismus machte in Afrika die ersten Schritte. Von Mondovi waren die Alpenjäger nach Afrika abgegangen, und man wusste, dass viele gefallen waren. Die Nachricht von Volkskundgebungen in den großen Städten — mein Vater las abends laut die Zeitung — drang auch zu mir.
In der Fabrik hörte ich die Arbeiter häufig fluchen über die Regierung, über die Reichen, über den Chef ... Besonders gern hörte ich einem Graveur zu. Er war „Ausländer" — so nennt man bei uns Leute aus anderen Städten, auch in derselben Provinz —, sprach ein reines Italienisch, was in Piemont selten vorkommt, und wusste seine Zunge zu gebrauchen. Er war Toscaner. Ich hielt mich immer in der Nähe seines Arbeitsplatzes auf. Die Arbeiter hatten mich gern, und der Toscaner sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen. Keiner von ihnen befürchtete, dass ich mit den Angestellten sprechen würde, die, wie die Arbeiter behaupteten, alle „Spione des Chefs" waren, auch dann nicht, als sie, ohne auch nur die Spur von einer Organisation zu besitzen, den Streik vorbereiteten. Der Toscaner erklärte mir, wie sich die Arbeiter in anderen Städten in Berufsverbänden zusammengeschlossen hätten, und stets fügte er hinzu: „Hier in Mondovi beschäftigen die Sozialisten sich nur mit Wahlen und führen den politischen Kampf im Cafe; bei uns dagegen, mein lieber Junge ..." Es folgte eine Sturzflut von Flüchen.
Eines Morgens hatte es längst zum ersten Mal geläutet, aber am Gittertor erschien kein Arbeiter. Hier und da verzehrte ein Lehrling sein Stück trockenes Brot in Erwartung des zweiten Glockenzeichens.
Der Besitzer und die Angestellten verhielten sich abwartend, aber an der Nervosität des Cavaliere — des Besitzers — war zu erkennen, dass der Streik ihn überrascht hatte. Mit lauter Stimme verkündete er: „Wenn Sie in einer Stunde nicht auf Ihren Posten sind, schließe ich die Fabrik. Ich habe Geld genug, ich habe für Sie gearbeitet, um Ihren Familien zu helfen, und das ist nun der Lohn dafür." Aufgeregt zog er an seinem Schnurbart. Nach einer Stunde erschienen etwa zwanzig Carabinieri, die an den verschiedenen Fabrikeingängen auf Posten zogen.
Ich wusste von dem ganzen Unternehmen, und so erschien mir der Streik fast selbstverständlich. Ich hatte an Überfälle und Unruhen gedacht, aber die Arbeiter waren zu Hause geblieben. Am Abend — die Fabrik lag etwas vom Orte entfernt — wurde das Gebäude des Arbeitervereins von Carabinieri bewacht, und durch die Straßen zogen bewaffnete Streifen. Später wurde bekannt, dass die Arbeiter sich unter freiem Himmel versammelt hatten und eine Erhöhung des Tagelohns um fünfzig Centesimi für alle forderten.
Am nächsten Tage verbreitete sich das Gerücht, dass in der Nacht Dutzende von Arbeitern ins Gefängnis gebracht worden waren. Zwei Tage danach erschien eine Kommission am Fabriktor. Der Pförtner erklärte, er habe Anweisung, nicht zu öffnen. Die Carabinieri näherten sich, und auch der Besitzer erschien und begann nach seiner Gewohnheit, alle zu beschimpfen. Die Arbeiter erwiderten die Beleidigungen nicht. Sie baten, als Vertretung der achthundert Arbeiter der Fabrik empfangen zu werden.
„Betrachtet euch als entlassen. Meine Antwort ist: Ich lasse euch alle verhungern, wenn ihr nicht in einer Stunde zurück seid."
Die Stunde war seine fixe Idee. Die Mitglieder der Kommission entfernten sich langsam, als erwarteten sie, vom Chef zurückgerufen zu werden. Ich fühlte mich unbehaglich bei diesem Auftritt. Am Abend erschien mir mein Vater — die Streikenden hatten ihn ermächtigt, als Maschinenwärter weiterzuarbeiten — sehr niedergeschlagen.
Es kam zu weiteren Verhaftungen. Gegen den Wagen des Chefs waren Steine geworfen worden, und man sprach von Versuchen, die Fabrik in Brand zu stecken. Eines Tages, als wieder ein Arbeiter verhaftet wurde, warfen einige Arbeiter (der Toscaner war auch dabei) den einen der Carabinieri in einen Kanal, während der andere sich aus dem Staube machte.
Die Arbeiter kehrten mit gesenkten Köpfen an die Arbeit zurück und mussten eine Kürzung des Tagelohns um fünfzehn Centesimi, die Entlassungen und die Verurteilung einiger Arbeiter zu Gefängnisstrafen schlucken. Die Niederlage gab der Organisation neuen Auftrieb, und viele Arbeiter traten in die Ortsgruppe Mondovi der Sozialistischen Partei ein. Mondovi war die Heimat Giolittis, des Mannes, der das politische Leben Italiens mehr als zwanzig Jahre lang beherrschen sollte. Eine Wochenschrift erschien, und der Kampf wurde wieder aufgenommen.

Ich begann, Zeitungen und Bücher zu lesen. Besser gesagt, ich verschlang Bücher und Zeitungen aller Art, von der Bibel bis zum „Kapital". Dieses erklärte mir ein Anarchist, ein gewisser Bisagni, der für viele Jahre ins Zuchthaus wanderte. Dieser Anarchist hatte einen großartigen Plan: Er wollte in die Armee eintreten und sie durch Propaganda im Innern unterminieren. Er meldete sich als Freiwilliger und wurde in kurzer Zeit zum allgemeinen Erstaunen Unter offizier. Aber nach wenigen Monaten las ich in den Zeitungen, dass er wegen umstürzlerischer Propaganda in der Armee zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.
Mein Vater hatte den Gedanken, mich von den Ärzten des Mauritius-Krankenhauses kurieren zu lassen, aufgegeben, arbeitete aber trotzdem durchschnittlich fünfzehn Stunden täglich. Er wollte mich studieren lassen. Ich sollte aus irgendeinem Grunde Volksschullehrer werden. Aber das ging über seine Kräfte, und so wurde ich schließlich Friseur!
„Ich habe es nicht erreichen können, dass er mit seinem Kopf arbeitet, also soll er sich an den Köpfen anderer betätigen!" Zu diesem Schluss gelangte mein Vater in den seltenen Augenblicken guter Laune.
Ich landete also in einem Friseurgeschäft. Beim Einseifen hörte ich den Gesprächen zu. Ich war in einen Laden geraten, in dem vom Morgen bis zum Abend diskutiert wurde. Dorthin kamen Kunden aller politischen Richtungen: Liberale, Klerikale, Sozialisten, Demokraten. Zwei von den Kunden wurden später Abgeordnete, und einer — der Klerikale Bertone — wurde Minister. Mein Chef war Demokrat, ich schloss mich sofort — natürlich ohne darüber zu sprechen — den Sozialisten an.
Manchmal vergaß ich über meinem Interesse für die Diskussion, dass ich beim Einseifen war, und dann geriet die Seife meinen Kunden ins Auge oder in den Mund.
Ich trat in die Abendschule und in die Ortsgruppe der Internationalen Antimilitaristischen Allianz ein, die damals gegründet worden war. Es war die Zeit Herves. Dann ging ich zur Sozialistischen Jugend über und war ein häufiger Gast im Sozialistischen Verein. Weder mein Vater noch meine Mutter wussten davon. Als ich wegen einer Antwort, die mein Lehrer als umstürzlerisch betrachtete, von der Abendschule verwiesen wurde, kam es zur Katastrophe. Zu Hause gab es einen regelrechten Aufstand. Mein Vater war als guter Liberaler gegen die Freiheit der Meinungsäußerung, und meine Mutter flehte die Heiligen und die Madonna an, mich wieder auf den rechten Weg zu führen. Auch mein Großvater griff ein, und die Entscheidung war eindeutig: „Entweder hörst du auf, den Sozialisten zu spielen, oder du gehst deine eigenen Wege."
Erschwert wurde meine Lage durch ein anderes Ereignis. Ich hatte — es was das erste Mal, dass ich meine Prosa gedruckt sah — einen kleinen Artikel für die Rekruten geschrieben, die in diesen Tagen zur Musterung gingen. Die Unterschrift lautete „Eine Mutter". Der Staatsanwalt hatte in meinen Auslassungen eine maßlose Verhöhnung der Armee gesehen, und bei einer Haussuchung war der Artikel nebst einem Begleitschreiben gefunden worden.
Bei der Voruntersuchung wurde ich freigesprochen, aber die gerichtliche Vorladung wurde meiner Mutter ausgehändigt. Man kann sich also die Tragödie vorstellen!
Ich hatte aber auch für eine zweimal monatlich erscheinende sozialistische Frauenzeitschrift — „La Donna" — in Zusammenarbeit mit einer jungen Genossin, für die ich — dies sage ich im Vertrauen — eine „Schwäche" hatte, einen kleinen Artikel unter dem Titel „Die vielfältige Versklavung der Frau" geschrieben. Es war eine Zusammenarbeit besonderer Art, denn sie unterzeichnete, und ich schrieb den Artikel. Ich hatte entschieden kein Glück mit weiblichen Namen, denn auch die Genossin erlebte Scherereien mit der Polizei und Vorwürfe zu Hause. Sie freute sich zwar sehr, ihren Namen gedruckt zu sehen, sagte aber doch, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, die Wahrheit. Außer den Strafpredigten zu Hause musste ich nun auch noch einen Wutanfall ihrer erbosten Eltern über mich ergehen lassen.
Es war ein Wunder, dass ich nicht auch von den wütenden Eltern der Genossin eine Tracht Prügel bezog!
Zu all dem kam die komische Note. Ein Messdiener sagte eines Tages, während ich ihm die Haare schnitt: „Sei doch so gut und schneide mir eine Tonsur." Ich hatte das noch nie gemacht.
„Ja, ja, ich mache sie dir", erwiderte ich, und obendrein machte ich sie ihm schlecht.
Als der Pfarrer diese Tonsur zu Gesicht bekam, erschien er im Laden, ging zu meinen Eltern und machte entsetzlichen Krach. Er erklärte, ich hätte eine Gotteslästerung begangen, denn eine Tonsur dürfe nicht ohne die Erlaubnis der Kirchenbehörde geschnitten werden! Infolgedessen wurde ich vom Chef gerüffelt und musste außerdem eine Strafpredigt meiner Mutter über mich ergehen lassen, die, wie schon gesagt, sehr fromm war.
Eine Predigt folgte der anderen! Jeden Tag gab es eine neue ... Während ich auf den vom Gericht für die Verhandlung festgesetzten Termin wartete, wurde ich eines Sonntags bei einer Versammlung auf freiem Felde mit einem anderen Genossen ins Gefängnis geworfen. Ich verbrachte die Nacht auf der Pritsche mit einem Hühnerdieb, einem Hausierer, der Almosenbüchsen ausgeplündert hatte, die an der Tür jeder Kirche angebracht sind, und einem Betrunkenen.
Nach meinem Arbeitstag im Laden — sonntags war um vier Uhr Arbeitsschluss — war ich mit einem anderen Genossen im Auftrage der sozialistischen Ortsgruppe zu einer Propagandaveranstaltung aufgebrochen. Der andere Genosse war ein Erwachsener, ich gehörte noch zu den „Jugendlichen". Seit einiger Zeit konnte ich Rad fahren.
Das Fahrrad leistete mir gute Dienste und war mir oft von Nutzen. Diesmal beförderte es mich ins Gefängnis.
Das hing auch mit dem Zaren von Russland zusammen. Der „Avanti" hatte eine große Kampagne gegen den Besuch des Zaren in Italien veranstaltet. Die Parole lautete: „Der Zar wird ausgepfiffen!"
Tatsächlich gelangte Nikolaus II., für den ein umfangreiches Besucherprogramm in ganz Italien vorgesehen war, nur bis Racconigi in der Provinz Cuneo, weniger als hundert Kilometer von der französischen Grenze. Man kann sagen, dass es von der Grenze bis Racconigi von Soldaten und Polizei wimmelte. Die Häuser an der Eisenbahn waren geräumt, die Bahnübergänge waren gesperrt. Der Kaiser von Russland bekam in Italien nur Bajonette zu sehen.
Es war streng verboten, den Wohnort zu verlassen. Die wenigen Genossen im Ort waren verhaftet.
Es war bekannt, dass Morgari nach Racconigi kommen sollte. Da er Abgeordneter war, konnte man ihn nicht daran hindern.
Der Genosse und ich brachen mit dem Rad nach Racconigi auf, ohne Pfeife. Alle, die eine Pfeife hatten, wurden verhaftet, auch die Kinder. Wir aber konnten mit den Fingern pfeifen.
Wir landeten jedoch gleich nach unserer Ankunft mit unseren Rädern im Gefängnis. Morgari pfiff einmal und wurde weggebracht. Dem demokratischen Prinzip des Staates war Genüge getan und der Ehre der Sozialistischen Partei Italiens, die die Parole ausgegeben hatte, ebenfalls. Die russischen Proletarier aber und die bolschewistische Partei begnügten sich nicht damit, Nikolaus auszupfeifen!

Eine Versammlung auf freiem Felde ist interessant, vor allem im oberen Piemont, wo die Priester und die Giolittianer das Heft in der Hand hatten. Im allgemeinen wurde, wenn es irgend möglich war, nach dem Gottesdienst gesprochen.
Diesmal hatte der Pfarrer gut vorgearbeitet. Die Klebezettel, die unsere Veranstaltung ausdrücklich als von der Ortsgruppe der Partei ausgehend ankündigten, waren verschwunden, und während der Predigt hatte der Priester den Gläubigen Höllenstrafen angedroht.
Als wir nach einem Marsch durch die staubigen Straßen (es war im August) auf dem Kirchplatz anlangten, war keine lebende Seele zu sehen. Alle waren in die Kirche gegangen, auch die drei Carabinieri, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung aus der Kaserne gekommen waren. Wir hörten die letzten Worte des Priesters: „Geht nach Hause, hört nicht auf die Feinde des Vaterlandes, der Familie und der Religion!"
Aber ausgerechnet die Bauern — in dieser Gegend überwogen die Kleinbauern, die sich im Winter im allgemeinen anderswo nach Arbeit umsehen mussten — konnten sich nicht entschließen, den Platz zu räumen. Die Propaganda des Priesters hatte sie neugierig gemacht.
Ich muss hier gleich bemerken, dass diese Veranstaltung mein Debüt sein sollte. Ich hatte noch niemals öffentlich gesprochen, und gerade ich sollte als erster sprechen. Der andere Genosse sollte dann die eigentliche Rede halten. Ich war ein wenig aufgeregt. Ein alter Schuhmacher, derselbe, der die Zettel mit der Ankündigung der Versammlung angeklebt hatte und wegen der Vereinbarungen auf der Ortsgruppe gewesen war, lieferte uns auch die Tribüne: einen stabilen Tisch.
In seiner Jugend war er in Amerika gewesen, er stand im Rufe großer Gelehrsamkeit und sprach auch „amerikanisch". Er war ein guter Kerl, arbeitete viel und verdiente wenig, er las den „Asino" und unsere Wochenzeitung.
„Seid ihr die Redner?" fragte er und reichte uns die Hand. „Kommt, hier ist die Tribüne."
Die Bauern näherten sich, die Carabinieri auch. Der Priester beobachtete seine ungehorsame Herde von der Schwelle aus.
Ich kletterte auf den Tisch. Als ich den Mund öffnete und sprechen wollte, setzte ein derartiger Lärm ein, dass ich mich überrascht umwandte.
Was ging da vor sich?
Etwa zwanzig Jungen waren auf dem Kirchplatz erschienen und schlugen aus Leibeskräften mit Stöcken auf Benzinkanister ein. Es entstand ein solches Getöse, dass es unmöglich war, sich Gehör zu verschaffen. Die Carabinieri hörten sich diese neuartige Musik mit an, und der Pfarrer sah aus wie ein General, der die Manöver leitete.
Auf dem Tisch stehend, wartete ich, dass die Musik aufhören sollte.
Die Kanister waren schon ganz verbeult, und die Arme erlahmten. Die Musik hatte nicht mehr den Schwung wie im Anfang, sie ließ nach und erstarb. Hier und da wurde im Publikum gelacht, andere protestierten, und die Nächststehenden sagten: „Lasst ihn sprechen!" Endlich hörte die Musik auf, aber gleich danach begannen die Kirchenglocken anhaltend zu läuten! Der Plan des Pfarrers wurde methodisch durchgeführt, und der arme Küster denkt wohl noch heute an dies lange Geläut. Endlich erlahmte auch er, und ich konnte beginnen. Meine Aufregung war vorüber. Ich empfand die Notwendigkeit, zunächst an die musikalische Kundgebung anzuknüpfen, aber schon stand am Tisch der Postenkommandant mit seinen beiden mit Flinten bewaffneten Leuten.
„Haben Sie die Erlaubnis, öffentlich zu sprechen?"
„Ich brauche keine Erlaubnis", antwortete ich sicher. (Ich kannte die gesetzlichen Vorschriften in Bezug auf die öffentliche Sicherheit.) „Erforderlich ist nur die Voranmeldung bei der Behörde, und die ist erfolgt, darauf können Sie sich verlassen."
„Ich bin selbst beim Bürgermeister gewesen", erklärte der Schuhmacher.
„Zeigen Sie mir die Empfangsbestätigung!" erwiderte der Maresciallo.
„Ich habe keine bekommen."
„Dann dürfen Sie nicht sprechen, werter Herr... Die Versammlung ist aufgelöst."
„Aber das ist doch Amtsmissbrauch!" sagte ich.
„Amtsmissbrauch? Sie sind verhaftet. Ich lasse die wohllöbliche Gendarmerie nicht beleidigen."
Damit zog er mich vom Tisch.
Die Bauern, die trotz der Predigt und während der Musik auf dem Platz geblieben waren, entfernten sich auf die Aufforderung hin sofort. Man brachte uns trotz der Proteste meines Genossen ins Gefängnis.
Im Büro sagte der Maresciallo zu mir: „Sie bleiben also bei dem Wort, das Sie auf dem Platz gebraucht haben?" Er blätterte in seinem Notizbuch. „Sie bleiben bei dem Amtsmissbrauch? Dann unterschreiben Sie hier ..."
Ich unterschrieb.
„Ich werde denen zeigen, was Amtsmissbrauch ist, die bilden sich wohl ein, ich verstehe das nicht. In die Zelle mit ihnen!"
Dort verbrachten wir die Nacht. Wer weiß, was der arme Wachtmeister sich bei dem Wort „Amtsmissbrauch" gedacht hat. Er wollte wohl einen Prozess veranlassen, vor dem Schwurgericht seine Aussage machen und befördert werden. Am nächsten Morgen wurden wir freigelassen, aber die Nachricht war schon allgemein bekannt. Zu Hause erlebte ich einen sehr üblen Empfang. Der Großvater war auch dabei. „Keiner, keiner von unserem ganzen Geschlecht hat im Gefängnis gesessen. Du hast uns entehrt, du bist unwürdig ..." So ging es fort. Wenn die eine Predigt zu Ende war, begann die nächste. Meine alte Tante, die sich auf der Rückreise von dem Wallfahrtsort das Bein gebrochen hatte, erklärte in echter christlicher Nächstenliebe:
„Der liebe Gott hat gewusst, dass er ein schlechter Mensch werden würde. Er hat ihn rechtzeitig bestraft." Das genügte mir. Ich suchte mir Arbeit in Turin.
In Turin machte ich mich sogleich ans Werk und begann das Leben, von dem ich solange geträumt hatte. Arbeit, Volkshochschule, Gewerkschaftshaus.
Ich litt ein wenig unter der Trennung von der Familie, aber das neue Leben füllte mich völlig aus. Ich arbeitete in einem großen Geschäft. Die Arbeitszeit war sehr lang, von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends, sonnabends bis Mitternacht, sonntags bis zehn. Ich verdiente 10,50 Lire in der Woche.
Ich schlief mit einem anderen Arbeiter, einem Mechaniker, in einer Dachkammer. Abends musste man eine halbe Stunde lang die Treppe hinaufklettern. Da oben konnte man ohne Instrumente Astronomie betreiben. Mein Stubenkamerad las Liebesromane und Räubergeschichten. Er war ein finsterer und mürrischer Mensch und ertrank schließlich im Po.
Meine Kollegen? In keiner anderen Berufsgruppe (ich habe immer inmitten der Arbeiterklasse gelebt) habe ich so viel niedrige und knechtische Gesinnung kennen gelernt wie unter den Friseuren. Ihr Ideal war das Trinkgeld. Um zwei Soldi Trinkgeld zu bekommen — vier waren ein seltener Glücksfall —, demütigten sie sich in der schändlichsten Weise. Sie schmeichelten den Kunden, erforschten ihre Ansichten, um sich als Monarchisten oder Republikaner, als Atheisten oder Gläubige, als sittenstreng oder als Schürzenjäger auszugeben, heuchelten Interesse für den abgeschmacktesten Blödsinn und hörten sich ungenießbare Witze an. Der durch Rossini unsterblich gewordene „Barbier von Sevilla" ist keineswegs eine Übertreibung. Ich habe Friseurgehilfen gekannt, die die Adressen aller Absteigequartiere und aller Bordelle in der Stadt mit den jeweiligen Preisen wussten. Alles für das Trinkgeld. Es gibt natürlich auch gute Elemente, aber das sind Ausnahmen. Die Lotterie, die Pferde- und Radrennen, das Fußballspiel oder das Pelota-Spiel (ein Spiel spanischen Ursprungs) waren die beliebtesten Gesprächsthemen. Einmal arbeitete ich bei einem Vorstadtfriseur, dessen Ladenschild die Aufschrift „Friseur aus Menschenliebe" trug. Er rasierte seine Kunden für wenige Soldi und wusste um alle Geheimnisse des Lotteriespiels. Man erzählte meinem Kollegen, was man in der Nacht geträumt hatte, und er verriet die „Glückszahlen" in der Lotterie. Dafür bekam er sein Trinkgeld!
Hatte man zum Beispiel, weil man seinen Salat schlecht verdaut hatte, geträumt, man sei wegen Mordes verhaftet worden, so bedachte sich mein Kollege einen Augenblick und verkündete dann: „Die Carabinieri bedeuten die 11, der Tote bedeutet die 47, der Mord die 90. Sie müssen also die 11, die 47 und die 90 spielen. Die 11 ist seit drei Monaten, die 47 seit mehr als sechs Monaten und die 90 seit drei Wochen nicht herausgekommen. Sie haben also große Aussicht auf Gewinn!" Er selbst aber gewann niemals.
Ein anderer kannte den ganzen Stammbaum der berühmtesten Rennpferde. Er gab den Kunden, die auf der Rennbahn wetteten, Ratschläge, rühmte sich der Freundschaft mit allen möglichen Jockeis und Pferdepflegern und verspielte alles, was er verdiente. Er verlor immer.
„Das und das Pferd? Taugt nichts. Das andere da ist gut und außerdem ,in Form'. Sein Vater, ein Sohn des und des Pferdes, das in dem und dem Jahre den ,Grand Prix' von Longchamps gewonnen hat, hat dort und dort gewonnen und den Preis ,Amedeo di Savoia' nur um eine Nasenlänge verloren. Die Mutter ist ein reines Rassepferd. Ich befürchte allerdings, dass es nicht platziert wird. Der Jockei ist nämlich zu leicht, er muss noch zunehmen. Wetten Sie jedenfalls auf Sieg und setzen Sie reichlich auf Platz!"
Am Tage nach den Rennen bat er seine Kollegen um Zigaretten und borgte sich Geld für das Frühstück ...
Andere diskutierten über die „Roten" und die „Blauen". So nannte man die Mitglieder der beiden gegnerischen Mannschaften beim Fußballspiel. Auch hier gab es zahllose Ratschläge, wurde endlos diskutiert über die Fähigkeit irgendeines „Roten" oder „Blauen". Was die Radrennen betraf, so gab es Kollegen, die nach der Arbeitszeit „trainierten", in der Hoffnung, einmal Meister zu werden.
Vervollständigt wurde das Bild durch die ewigen Streitigkeiten zwischen den in Turin sehr zahlreichen Südländern und den anderen. Die Südländer, Neapolitaner und Sizilianer, rühmten sich, die besten „Künstler" zu sein (so pflegten die Friseure sich untereinander zu nennen). Natürlich behaupteten die anderen das Gegenteil, und manchmal kam es zu Beleidigungen und Handgreiflichkeiten. Ich neckte sie mit der Behauptung, der beste Künstler sei der Chef, der uns alle rupfe. Manche stimmten mir zu. Wenn ich ihnen aber sagte, sie sollten sich im Verband organisieren, sahen sie mich schief an und erklärten: „Der Chef wird uns auf die Straße setzen!"
Einmal stritt ein Pisaner mit einem Sizilianer. Dieser erzählte, er habe dem Marquis Rudini, der Vorsitzender des Ministerrats gewesen war, den Bart gewichst. Der Pisaner sah ihn hochmütig an und erklärte: „Ich habe in Pisa in einem Geschäft gearbeitet, in dem das Königshaus bedient wurde." Dann sah er sich um, um die Wirkung auf die Kollegen festzustellen.
Nun wollte ich ihnen meine Meinung sagen und erklärte im Scherz: „Du wirst die Hunde des Königs geschoren haben!" Hätte ich es doch nie gesagt! Der Pisaner wurde wütend und beruhigte sich erst, als ich ihm einen Kunden abtrat, der Trinkgeld gab.

In diesem Milieu begann ich mit wenigen anderen, organisatorische Versuche zu machen. Es gelang uns auch, eine Organisation zu schaffen, aber wir mussten schwer dafür büßen. In einem Geschäft mit höchstens fünf oder sechs Angestellten — mehr waren es selten — war es leicht, uns als „Umstürzler" zu erkennen. Wir wurden entlassen. Auf dem Vermittlungsbüro waren wir bald alle bekannt.
Wir wurden schlecht behandelt und schlecht bezahlt. Die Kunden behandelten uns als minderwertige Wesen. „Rasieren! Haare schneiden! Schnurrbart wichsen!" Dann musste der Friseur antworten: „Jawohl, mein Herr! Jawohl, Signor Commendatore! Jawohl, Signor Cavaliere!" und so weiter. In den von Arbeitern und Bauern besuchten Vorstadtläden war es erträglicher.
Einmal arbeitete ich in der Nähe einer großen Kaserne auf dem Corso Vittorio Emanuele. Der Laden wurde von höheren Offizieren aufgesucht, und nur selten verirrte sich ein einfacher Soldat dorthin. Die Bücklinge und Komplimente des Chefs und der Gehilfen musste man sehen! Wenn die Gestalt des Obersten erschien, war das ein welterschütterndes Ereignis. Der Chef riss die Tür mit einem „Ihr Diener Herr Oberst" auf, das wie „Stillgestanden!" klang. Die Gehilfen waren alle eifrig damit beschäftigt, ihm den Säbel, den Mantel, den Hut und die Handschuhe abzunehmen, während die anderen Kunden mit eingeseiftem Gesicht zu warten hatten.
An einem Sonntagmorgen erschien der Oberst, als der Laden voller Kunden war. Offiziere, ein paar Soldaten, Angestellte, einige bessere Herren und ein höherer Geistlicher füllten ihn. Es wiederholte sich der übliche Auftritt. Der Oberst hatte es eilig. Im Kommandoton erklärte er:
„Ich muss sofort bedient werden."
Er wurde außer der Reihe bedient. Ich war als erster mit meinem Kunden fertig, und so traf mich die Ehre, den Herrn Oberst zu bedienen.
Wie üblich, sagte ich:
„Der Nächste bitte!"
Der Oberst schritt auf den Sessel, an dem ich arbeitete, zu:
„Rasiere mich anständig und rasch!"
„Setz dich!" erwiderte ich.
Was in diesem Augenblick im Laden geschah, ist schwer zu beschreiben. Eine so hochgestellte Persönlichkeit hatte ich geduzt! Der Skandal war so unerhört, dass sämtliche Gespräche abgebrochen wurden. Am liebsten hätte der Oberst mich erwürgt, aber er hatte es eilig und setzte sich. Die anderen wussten nicht, was sie sagen sollten. Der Chef warf mir einen vernichtenden Blick zu. Nur die Soldaten lächelten beifällig und ein wenig spöttisch.
Ich bediente den Herrn Oberst.
Als er wieder das Wort an mich richtete, sagte er zuerst „Ihr" und dann „Sie". Das übliche Trinkgeld bekam ich nicht. Der Chef entschuldigte sich bei dem Obersten.
Kaum war der Oberst gegangen, als der Chef mir erklärte:
„Sie sind entlassen. Heute Abend bekommen Sie Ihren Wochenlohn."
„So jagt man Diebe fort", erwiderte ich. „Von wem haben Sie eigentlich Ihr Benehmen gelernt?" brüllte der Chef.
„Von dem Herrn Oberst", antwortete ich. Am Abend nahm ich mein Werkzeug, bekam ein bisschen Geld und zog ab.
Es folgten trübe Tage. Ich schlug mich mühselig durch. Wenn ich keine Arbeit hatte, war es besonders schlimm. Ich kannte einen Genossen, der als Geschirrwäscher in einem großen Restaurant arbeitete. Er half mir gelegentlich mit einer Scheibe Salami oder Fleisch, die die Kunden in seinem Restaurant übriggelassen hatten.
Der Verband wurde inzwischen stärker, und eines Tages streikten wir. Die Friseure, im Laden Kaninchen, traten im Gewerkschaftshaus wie Löwen auf. Wir erklärten, wir würden die Chefs verprügeln und in den Läden alles kurz und klein schlagen. Der Streik dauerte nicht lange. Es wurden einige Verbesserungen erreicht. Eine kleine Zulage und ein paar freie Stunden am Montag. Die Trinkgeldfrage wurde nur in der Agitation angeschnitten.
Ich arbeitete noch in Savona und Alessandria. Dann kehrte ich nach Mondovi zurück. Mein Vater war erkrankt. Die ungesunde Arbeit — als Maschinenwärter arbeitete er meistens im Kellergeschoß — und die unmögliche Arbeitszeit hatten ihn zugrunde gerichtet. Ich nahm meine Stellung zu Hause wieder ein. Niemand widersetzte sich mehr meinen Ideen. Ich lernte, schrieb und arbeitete.
Mein Vater starb. Es war ein schwerer Schlag für mich.
Mit zwanzig Jahren hatte ich den Vater verloren und stand mit der kranken Mutter und drei kleinen Geschwistern — einem Bruder und zwei Schwestern — allein da. Außerdem hatte ich keine Arbeit, weil ich dem Vorstand des Friseurverbandes angehörte und für die Zeitung schrieb. Ein Onkel besorgte mir eine Stellung in Fossano, wo ich dann viele Jahre gelebt habe.
Der neue Chef, ein Katholik, richtete, ehe er mich einstellte, folgende Ansprache an mich: „Ich habe mich genau über Sie informiert. Ich weiß, dass Sie ein tüchtiger Arbeiter sind und an Ihrer Familie hängen. Man hat mir gesagt, dass Sie intelligent sind, aber ich weiß, dass sie sich mit Politik abgeben. In meinem Geschäft wird nicht politisiert. Merken Sie sich das gut! Außerhalb der Arbeitszeit können Sie tun, was Sie für richtig halten. Im Geschäft gibt es das nicht!"
„Wenn mich aber ein Kunde zum Diskutieren provoziert?"
„In meinem Geschäft spricht niemand über Politik, es sind alles seriöse Leute", erklärte mein zukünftiger Chef.
Wir zogen um.

Da war ich also in meinem neuen Wohnort. Es war eine kleine alte Stadt mit wenig Industrie und vielen Kasernen. Eine Festung gab es dort, viele Adlige, zwei Zuchthäuser und viele, viele Priester. Außerdem ein Regiment Infanterie, eine Schwadron Kavallerie und eine Batterie Artillerie. Rings um die Stadt wohnten Kleinbauern. Insgesamt hatte sie 18000 Einwohner. Es war eine Handelsstadt. Kein Arbeiterverein mit Bibliothek oder Lesesaal! Es bestand zwar ein
Arbeiterunterstützungsverein, aber keine Ortsgruppe der Sozialistischen Partei. Nichts.
Immerhin lebten dort einige Genossen. Einer fabrizierte Mineralwasser und arbeitete seit Jahren an einer Flugmaschine, die er „Schraubenflugzeug" nannte und deren Mechanismus den Vogelflug nachahmen sollte.
Wie viele Vögel hat der Mann geopfert, um die Flügel zu studieren und nachzuahmen! Hunderte und Tausende. Alle Jungen des Ortes brachten ihm die Vögel, die ihnen in die Hände fielen.
Ein anderer war Ziegelbrenner. Dann gab es noch zwei Brüder, die Maurer waren, und einen Hufschmied.
Im Laden wusste man schon vor meiner Ankunft ein wenig von mir. Die Kundschaft bestand aus Priestern, Offizieren, Unteroffizieren, Geschäftsleuten, Gefängniswärtern, Arbeitern und Bauern. Der Chef arbeitete mit zwei Gehilfen und einem Lehrling. Die Arbeit war nicht, wie in den großen Städten, durchgehend. Viel arbeiteten wir am Sonnabend, am Sonntag und am Mittwoch, dem Markttag. Der Chef hatte, ohne es zu wollen, ein wenig „Reklame" für mich gemacht. Die Folge war, dass ich von Anfang an von den Konservativen angegriffen wurde, die alle Tage in den Laden kamen, wie man ins Cafe geht, um sich die Zeit zu vertreiben. Natürlich blieb ich die Antwort nicht schuldig.
Nach wenigen Wochen ging es im Laden hoch her. Das Amüsanteste war, dass der Chef, der nie in seinem Leben diskutiert hatte, schließlich immer die Diskussion eröffnete. Am Morgen, wenn die Zeitung kam, las er sie in aller Ruhe und ging dann zum Angriff über, auch wenn keine Kunden da waren. Ab und zu erinnerte ich ihn an unser erstes Gespräch.
Er zuckte die Achseln und setzte die Diskussion fort. Dieser Chef hat es mir zu verdanken, wenn er Stadtverordneter und Magistratsmitglied geworden ist. Er war richtig in Feuer geraten. „Der Sozialismus ist eine Gefahr, die bekämpft werden muss!" Dann erzählte er schauerliche Geschichten ... Die Bauern hörten zu, und ich erwiderte ihm. So ging es die ganze Woche.
Inzwischen hatte ich mit den Sozialisten am Ort Kontakt aufgenommen. Mit einigen anderen Arbeitern gründeten wir eine Ortsgruppe der Sozialistischen Partei und bestimmten den Berichterstatter für den „Avanti" und für die „Lotte Nuove", die in Mondovi erscheinende Wochenzeitung für die Provinz.
Wir fanden auch einen kleinen Raum für die Versammlungen der Ortsgruppe, in dem auch wöchentliche Konferenzen und Besprechungen von Arbeitern stattfanden.
Als mein Chef dies erfuhr, wurde er nicht etwa wütend, sondern begann mit der Propaganda für die Gründung einer Ortsgruppe der Christlich-Demokratischen Partei.
Die ersten Berichte im „Avanti" und in den „Lotte Nuove" riefen helle Aufregung hervor. Die drei Wochenblätter—das eine gab sich parteilos und enthielt nur Skandalgeschichten und Glückwünsche für neue Titelverleihungen, das andere war klerikal, das dritte schlug sich bis zu den Wahlen durch, um sich an die am besten zahlende Partei zu verkaufen — fielen wütend über uns her. Die „Gefahr" musste sofort bekämpft werden. Es wurde eine Kampagne inszeniert. Besondere Rubriken berichteten über die Missetaten der Sozialisten, wandten sich gegen ihre unheilvollen Absichten und richteten persönliche Angriffe gegen die alten Sozialisten des Ortes, die sich von dem Zugezogenen, dem „Ausländer" „aufhetzen" ließen.
Mein Chef gab mir im Gegensatz zu vielen anderen nicht den Laufpass, weil er im Grunde durch diese Polemik Kunden gewann und infolgedessen Geld verdiente. Die Freunde und Sympathisierenden kamen, um einige Worte zu wechseln, die Gegner wollten die Gefahr bekämpfen und aus der Nähe kennen lernen.

In einer kleinen Stadt gewinnen kleine Dinge große Bedeutung. In Fossano (Fons sana, Heilquellen) lebten vor allem Kaufleute, Priester, Pensionäre und Adlige. In solchen Klatschnestern sind alle Bürger einer erbarmungslosen Kritik ausgesetzt. Alle waren sie gläubig, von Bava Beccaris (einem General, der dadurch zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, dass er im Jahre 1898 auf demonstrierende Arbeiter mit Kanonen schießen ließ), dem erlauchtesten Bürger der Stadt, bis zum letzten Gastwirt. Sprösslinge erlauchter Familien des alten Adels von Fossano, Würdenträger, die die Wahlen für Giolitti machten, Domherren, Spekulanten und Geschäftsleute, Offiziere aller Waffengattungen - diese Gesellschaft war maßgebend im öffentlichen Leben und bestimmte über gutes oder schlechtes Wetter.
Das „Caffe Grande" war der Ort, wo diese ganze „Elite" über Politik, über schöne Frauen, über das Spiel sprach und lästerte. Man nannte sie den „Klub der bösen Zungen". Die wenigen Sozialisten unterschieden sich nicht sehr von den übrigen. Wenn Wahlen stattfanden, machten sie sich bemerkbar und erwischten, ohne klares Programm, ein paar Stimmen und einen Posten im Gemeinderat. Auch viele Katholiken stimmten für die Sozialisten. „Wir brauchen eine Minderheit", meinten sie. Nach den Wahlen bestand keine Verbindung mehr zwischen den Gewählten und den Wählern. Im allgemeinen argumentierte man: „Der und der ist ein braver Mann, er muss Stadtverordneter werden. Er hat ein gutes Einkommen, also kann er sich dem öffentlichen Leben widmen und braucht nicht zu stehlen. Geben wir ihm unsere Stimme."
Im Laden gingen die Auseinandersetzungen weiter. Zwei neue Faktoren hatten der Diskussion Nahrung gegeben. In einer öffentlichen Versammlung hatten ich und ein anderer Genosse gesprochen, um auf der Grundlage des Programms der Sozialistischen Partei und nicht, wie bisher, in Koalition mit den Radikalen die Kandidatur von drei Genossen zu unterstützen. Hierüber wurde eine Woche lang diskutiert. Das andere Ereignis hatte ein sehr weites Echo hervorgerufen. Mein Chef, der die Priester bediente, die in einem benachbarten Wallfahrtsort einige Wochen in „stillem Gebet" zubringen wollten, gab mir einmal den Auftrag, einen Bischof zu rasieren.
„Denken Sie daran, dass Sie ihn mit Exzellenz anreden und ihm die Hand küssen müssen."
Tatsächlich hielt der Bischof, den ich mit „Guten Tag" begrüßte, mir die Hand hin. Ich ergriff seine Hand und drückte sie, wie ich sie jedem anderen gedrückt hätte! Der Adel und die Priester waren empört. Nie wieder erhielt ich den Auftrag, höhere Geistliche zu rasieren.
Die Nachricht wurde im ganzen Ort mit Entrüstung besprochen. Mein Chef war sehr unzufrieden und erklärte mir:
„Sie werden mir noch die Kundschaft verjagen. Sie hätten sich wirklich die Mühe machen können, dem Bischof die Hand zu küssen." Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Dieser wird bestimmt einmal Kardinal. Man sagt, er sei intim, sehr intim"— er blinzelte vielsagend —„mit einer königlichen Prinzessin befreundet!"
Er empfahl mir Verschwiegenheit, würdigte mich aber niemals wieder einer solchen Vertraulichkeit. Einige Tage war er furchtbar aufgeregt.
Er befürchtete, ich würde darüber in der Zeitung schreiben.

Besonderen Eindruck machte es auf die guten Leute, dass, unsere Ortsgruppe auch ohne Wahlen Propaganda machte. Jeden Sonntag wurde ein Dorf besucht. Beim ersten Besuch verlief der Empfang fast immer in der bereits geschilderten Weise.
Wir erlebten auch manche unangenehme Viertelstunde, weil die Priester kein Bedenken trugen, sogar Steine auf uns werfen zu lassen. Wir kamen aber wieder, und dann gelang es uns stets, irgendeine Verbindung herzustellen und Stützpunkte für die Verteilung der Presse zu schaffen. Auf diese Weise lernte ich Bartolomeo Vanzetti kennen, der später mit Sacco in Amerika hingerichtet wurde.
Wir sollten eine Propagandaversammlung in Villafalletto, etwa zehn Kilometer von Fossano entfernt, organisieren. In Villafalletto hatten wir niemand, dem wir das Kleben von Zetteln hätten anvertrauen können. Wie immer in solchen Fällen, fragte ich im Laden einen Bauern aus dem Ort, ob es dort Sozialisten gebe.
Der Bauer dachte ein wenig nach und sagte dann: „Ja, da ist einer in Villafalletto, ein gewisser Bartolomeo Vanzetti, aber er ist kein Sozialist, er gehört zu denen, die die Könige umbringen wollen. Er spricht mit niemand, und niemand spricht mit ihm."
Ich ließ mir die Adresse geben und fuhr eines Tages mit dem Rad nach Villafalletto, einem Nest von etwa zweitausend Einwohnern. Vanzetti fand ich leicht. Er betrachtete mich misstrauisch.
„Ich bin der und der, Sekretär der Ortsgruppe Fossano, und möchte dich bitten, mir zu helfen."
„Sind die Wahlen in Sicht?" unterbrach Vanzetti mich spöttisch.
„Ich glaube nicht", erwiderte ich. „Wir wollen eine Propagandaveranstaltung durchführen."
„Was könnt ihr in diesem Nest schon machen! Hier regiert der Priester. Es sind alles Dummköpfe. Ich gebe mich nie mit solchen Sachen ab, ich habe nichts gemein mit den Sozialisten."
„Ich glaube, in diesem Falle haben wir etwas gemeinsam. Ich mache dir"— ich duzte ihn — „einen einfachen Vorschlag: Ich führe die Veranstaltung durch, und du machst den Gegenreferenten. Wir werden die Gesellschaft ein bisschen aufmöbeln, wir werden den Priester zum Eingreifen provozieren und ihn angreifen. Damit wirst du einverstanden sein."
Vanzetti schüttelte den Kopf. Auf dem Heimweg gab er mir das Geleit. Wir sprachen lange, das heißt, fast immer sprach er. Er redete langsam, im Dialekt. Man merkte, dass er sehr belesen war. Ich konnte ihn nicht überzeugen.
„Ich kann höchstens die Plakate ankleben und am Sonnabend die Voranmeldung beim Bürgermeister machen."
Wir verabschiedeten uns. Am Sonntag wurden wir mit der üblichen Musik, mit Gebrüll und mit anhaltendem Glockengeläut empfangen und landeten mit unseren Rädern in der Kaserne. Der Wachtmeister schrieb in seinem Bericht, er habe uns in die Kaserne gebracht, um uns vor der Volkswut zu schützen!
Oft habe ich darüber nachgedacht, wie aus einem solchen Nest ein Anarchist hervorgehen konnte. Nie hätte ich damals gedacht, dass ich noch einmal nach Villafalletto zurückkehren sollte, um eine Versammlung wegen des Todesurteils gegen Vanzetti vorzubereiten.
Tatsächlich kam ich im Jahre 1926 wieder nach Villafalletto. Wir waren drei Redner: ein Kommunist, ein Anarchist und ein Reformist, Chiaramello. Wir wurden alle drei von einem Schwarm von Polizisten, die aus Cuneo und aus Turin gekommen waren, vom Platz geschafft. Diesmal kamen wir ohne Gefängnis davon.
Damals lernte ich Vanzettis Vater und eine seiner Schwestern kennen, diejenige, die dann die Reise nach Boston machte. Sie beschworen mich, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Sie behaupteten, wenn wir eingriffen, würden der Bischof und der Abgeordnete sich nicht mehr für den Fall interessieren. In Wirklichkeit standen sie unter dem Druck der Faschisten. Die Behörden und die Faschisten bedrängten Vanzettis Angehörige und erpressten seinem Vater die Erklärung, mit der das Verbot der Versammlung gefordert wurde.
Ich habe diese Einzelheit durch einen Brief Vanzettis erfahren, den er aus dem Gefängnis in Boston an die italienische Zeitung in New York schrieb, nachdem in unseren Zeitungen in Italien ein von mir verfasster und mit dem Namen Barbadirame (Anm.: Kupferbart) gezeichneter Artikel erschienen war, in dem ich den Abgeordneten und die Behörden beschuldigte, sie hätten die Versammlung nicht zulassen wollen. Vanzetti berichtigte mich mit der Erklärung, die Schuld trage sein Vater. Dieser Brief ist ein höchst interessantes Dokument. Vor allem beweist er Vanzettis Kaltblütigkeit, und außerdem wirft er Licht auf die schmutzigen politischen Machenschaften der Klerikalen und der Liberalen, die schon damals bereit waren, die Befehle der wenigen Faschisten am Ort entgegenzunehmen. Der erste übrigens, der den Faschisten Beistand leistete, war bekanntlich Giolitti, der damals der Geburtshelfer der Faschisten genannt wurde.
Der reaktionäre Abgeordnete Falletti, auf den Vanzetti in seinem Brief anspielt, erklärte mir, als ich bei ihm erschien, um die Versammlung anzumelden: „Die Versammlung ist nicht nötig. Ich habe mich bereits mit der Sache befasst, obwohl Vanzetti mein Interesse nicht verdient. Wer Verbrechen begeht, muss dafür büßen. Er hat sein Heimatdorf entehrt, aber mir tun seine Angehörigen leid. Sacco kenne ich nicht."
Zur besseren Kennzeichnung des Abgeordneten und Grafen Falletti gebe ich Vanzettis Brief hier wieder.

„9. Juli 1926
Liebe Freunde vom ,Lavoratore',
ich habe jetzt den Bericht von Barbadirame über seinen kurzen Besuch in meinem Heimatdorf gelesen, der im ,Lavoratore' vom 3. d. Mts. unter dem Titel ,Sacco und Vanzetti dürfen nicht sterben' erschienen ist. Dem Verfasser sind einige Irrtümer und Ungenauigkeiten unterlaufen, durch die Unschuldige belastet werden und die den Leser zu falschen und ungerechten Anklagen veranlassen könnten. Deshalb habe ich mich zu dieser Klarstellung entschlossen, um deren Veröffentlichung ich Euch bitte.
In dem Bericht heißt es unter anderem, der Abgeordnete Falletti und der giolittianische Präfekt von Cuneo, Frutteri di Costigliole, ein klerikaler Adliger, hätten die Versammlung verboten und die Redner seien davongekommen, ohne in der Kaserne der Carabinieri zu landen.
Barbadirame schreibt zweifellos in gutem Glauben, aber er ist im Irrtum. Weder der Abgeordnete Falletti noch der Graf Frutteri haben die Versammlung verboten, sondern mein Vater trägt die Schuld daran. Meine Schwestern haben mir darüber geschrieben. Als die Faschisten im Dorf erfuhren, dass die Versammlung stattfinden sollte, suchten sie unverzüglich meine Familie auf und erklärten entrüstet, sie, die Faschisten, genügten, um uns Gerechtigkeit zu verschaffen, die ,Roten gehe die Sache nichts an. Mein Vater solle sie vor die Tür setzen, wenn sie bei ihm erschienen, und sie in ihrer Ortszeitung zurechtweisen. Mein Vater, der ein Konservativer, aber kein Faschist ist, erwiderte den Herren, er achte die ,Roten und sei ihnen dankbar für alles, was sie für seinen Sohn getan hätten. Er habe keinen Grund, sie zurechtzuweisen .
Später hat der Bürgermeister meinen Vater gefragt, ob er die Versammlung wünsche oder nicht, und ich muss leider sagen, 'dass er sie abgelehnt hat Die Redner sind über diese Einzelheiten von den feindseligen Ortsbehörden, die die öffentliche Kundgebung verboten haben, zweifellos nicht unterrichtet worden. Daher der Irrtum Barbadirames und meine Richtigstellung.
Im übrigen enthält der Bericht von Barbadirame eine wunderbar realistische Schilderung meines reaktionären Heimatdorfes. Die reaktionäre Mentalität erklärt die Haltung meines Vaters und die Äußerungen des Abgeordneten Falletti. Weder der Herr Abgeordnete noch sonst jemand kann behaupten, ich hätte verbrecherische Neigungen gehabt. Ich habe von Kindheit an im Schweiße meines Angesichts mein Brot verdient. Ich bin ein verurteilter Anarchist und daher für den Abgeordneten Falletti ein todeswürdiger Verbrecher.
Die Haltung meines Vaters hat die bösen Zungen gerechtfertigt. Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich mit meinen Schwestern, meinem Bruder, meinen Verwandten und meinen alten Freunden auf gutem Fuße stehe.
Keiner von ihnen schämt sich meiner. Meine Schwestern würden sich freuen, Barbadirame, Chiaramello und den anderen Redner als geehrte Gäste zu empfangen. Ich lasse sie grüßen und danke ihnen auch im Namen meiner Schwestern. Mit herzlichen Grüßen
Bartolomeo Vanzetti

PS: Für den Abgeordneten Falletti ist mein Fall ein ganz gewöhnlicher Fall, in dem die Schuld der Angeklagten nicht einmal von der Verteidigung bestritten wird, wenn auch niemand ein Interesse daran hat, dass sie zum Tode verurteilt und dann hingerichtet werden. Er hat um Begnadigung, das heißt lebenslängliches Zuchthaus, gebeten. Ich danke recht sehr, Herr Abgeordneter. Was die faschistische Regierung betrifft, so wäre nichts leichter für sie, als uns Gerechtigkeit zu verschaffen, doch deutet alles darauf hin, dass sie den Henkersknecht spielen will."


Vanzetti hat mir noch einen anderen Brief aus dem Gefängnis geschrieben, wenige Monate vor seiner Hinrichtung. Er adressierte ihn nach meiner Landesverweisung durch die Faschisten an die Zeitung. Ich habe das später erfahren, den Brief aber niemals erhalten.
Als Vanzettis Asche in Villafalletto eintraf, befand sich der kleine Ort im Belagerungszustand. Nur die nächsten Angehörigen durften unter der Bewachung von zahllosen Polizisten, Carabinieri und faschistischer Milizen an der Beisetzung teilnehmen.

Die Arbeit der kleinen Ortsgruppe trug ihre Früchte. Wir schufen ein Gewerkschaftshaus. Sehr schwierig war es, Räumlichkeiten zu finden. Wir hatten bereits drei kleine Gewerkschaften: für die Bauarbeiter, die Metallarbeiter und die Textilarbeiter. Die Ortsgruppe funktionierte. Von der Kaffeehauspolitik waren wir zur konkreten Organisationsarbeit übergegangen. Bei den Wahlen hatten wir auch einen eigenen Kandidaten: Enrico Ferri, der später Faschist geworden ist.
Wenige Monate danach fanden wir die notwendigen Räumlichkeiten. Es entstanden andere Verbände, für die Schuhmacher und die Papierarbeiter. Ich muss gestehen, dass ich die erforderliche Mindestzahl von zehn Mitgliedern für die Gründung eines Friseurverbandes nie habe auftreiben können. Um diese Zahl zu erreichen, hätte ich neunzig Prozent der gesamten Bartscherer im Orte organisieren müssen — eine schwierige Aufgabe, wenn man bedenkt, dass das Klassenbewusstsein hier noch geringer war als unter den oben geschilderten Verhältnissen in Turin.
Die Versammlungen der Ausschüsse fanden in der ersten Zeit in der Dachkammer statt, in der die Ortsgruppe der Sozialistischen Partei ihren Sitz hatte. Für die Vollversammlungen stellte sich irgendein Gastwirt zur Verfügung, dem mehr an dem Wein lag, der zur Abgeltung der Lokalmiete verzehrt wurde, als an den sozialistischen Ideen.
In den neuen Räumlichkeiten kamen wir ganz gut zurecht. Sie bestanden aus einem Saal und zwei oder drei kleinen Zimmern. Es entstand ein Klub, eine kleine Bibliothek und ein Büro für ärztliche und juristische Beratung.
Damals waren wir sehr aktiv. Jede Woche fanden Konferenzen und Versammlungen statt. Die Sekretäre und Propagandisten der verschiedenen Berufsverbände, denen unsere Verbände angeschlossen waren, erschienen nacheinander, um Kontakt aufzunehmen, Direktiven zu geben und Informationen einzuholen. Nach der Vorbereitungszeit hatten wir auch einen Verbandssekretär angestellt. Zahlreiche Aktionen und einige siegreiche Streiks gaben der Bewegung den nötigen Auftrieb.
Im Laden nahmen die Auseinandersetzungen kolossale Ausmaße an. Ich meine das in Bezug auf die Diskussionen. Die Adligen, die Priester, die kleinen Geschäftsleute, die Industriellen fingen, wenn ich abwesend war, mit meinem Chef Streit an. „Es braucht nur ein ,Ausländer' zu kommen", meinten sie, „damit alle ihm nachlaufen. Man weiß nicht einmal, wer er ist!" Der „Ausländer" war ich, und man arbeitete auf meine Entlassung hin.
Einmal griff ein Major von der Infanterie mich im Geschäft an. „Ich höre, dass Sie mit meinen Soldaten gesehen worden sind. Seien Sie vorsichtig, das ist ein gefährliches Spiel. Ich verbiete Ihnen, die Soldaten anzuhalten, sonst..." „Was sonst?" unterbrach ich ihn. „Ich gehe spazieren, mit wem es mir passt, und pfeife auf Ihre Drohungen. Sie glauben wohl, Sie haben es mit einem Rekruten zu tun? Ich verbiete Ihnen, mich noch einmal zu belästigen."
Der Offizier, an den Umgang mit den Soldaten gewöhnt, die niemals widersprechen dürfen, war fassungslos über die Antwort und den Ton und trat sofort den Rückzug an.
Der Gendarmeriewachtmeister und der Kommissar von der Sicherheitspolizei schienen sich die Arbeit zu teilen. Bald der eine, bald der andere ließ mich am Sonntag oder am Markttag holen, um mir etwas mitzuteilen oder Vorhaltungen zu machen. Offenbar wollte man den Chef mürbe machen. Sonderbarerweise blieb er fest. Von morgens bis abends stritt er mit mir heftig, aber er entließ mich nicht.

Es war da auch ein Domherr, der überall verkündete: „Man muss alle Meinungen respektieren."
Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich nach Lourdes, dem berühmten Wallfahrtsort in den Pyrenäen, zu bringen und dort mein gelähmtes Bein kurieren zu lassen.
Er ging methodisch vor. Er brachte mir alle Berichte über die Geheilten und die Wunder, und zweimal in der Woche musste ich einen Bericht über die Taten der wundertätigen Jungfrau über mich ergehen lassen. Ich hörte die ganze Geschichte der Bernadette in den verschiedensten Varianten. Er brachte mir die entsprechenden Bücher. Im Grunde leistete der brave Mann mir nützliche Dienste. Indirekt arbeitete er an der antireligiösen Rubrik mit, die ich in der Wochenzeitung „Lotte Nuove" schrieb, deren ständiger Mitarbeiter ich geworden war.
Als er glaubte, das Eisen richtig geschmiedet zu haben, ging er zu konkreten Vorschlägen über.
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