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Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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„Ich rate Euch, die Wechsel nicht zu unterschreiben. Jetzt verstehe ich, warum der Pfarrer nicht will, dass Ihr in meinen Laden kommt! Euer Pfarrer hat nicht davor Angst, dass ich Euch die Kuh wegnehme. Er hat Angst, dass ich Euch die Augen öffne."
Mein Onkel machte sich wirklich Sorgen.
„Es wird noch so kommen, dass Ihr unterschreibt und dann ... zahlt. Das weiß ich schon, und dann kommt Ihr zu mir und sagt: ,Ach, wenn ich doch auf dich gehört hätte!' Bringt mir die Adresse von Luigi, ich schreibe dann fünf oder sechs Kuverts, und Ihr reicht eine Weile damit aus."
Wir verabschiedeten uns.
Als der Polizeikommissar mir den Zwangspaß abnahm, erklärte er: „Wenn Sie noch einmal ohne meine Erlaubnis fahren, lasse ich Sie drei Monate einsperren. Das muss aufhören mit Ihnen. Was haben Sie in Turin zu suchen?"
„Ich kaufe Seife und andere Artikel für meinen Laden."
„Wir wissen aber, dass Sie mit den schlimmsten Feinden Italiens verkehren, mit Leuten, die gegen den Krieg sind. Wo sind Sie in diesen fünf Tagen gewesen?"
„Sie haben recht, ich bin mit den schlimmsten Halunken zusammen gewesen. Vier Tage und vier Nächte habe ich auf dem Präsidium im Wachtlokal gesessen mit reklamierten Bordellbesitzern und Dieben, mit Kokainhändlern und Leuten, die falsches Geld verbreiten, mit allerhand Gesindel, das nie an der Front gewesen ist ..."
Er schickte mich nach Hause.

Die Nachrichten aus Russland wurden jeden Tag klarer. Die russischen Arbeiter und Bauern kämpften nur noch gegen die Bourgeoisie ihres Landes und gegen die Reaktion. Der russische Koloss, auf den man so große Hoffnungen gesetzt hatte, war zusammengebrochen. Die russischen Arbeiter und Bauern hatten sich mit den Soldaten verbrüdert. Die Bankiers waren in Panikstimmung. Die unwahrscheinlichsten Gerüchte liefen um.
„Die Bolschewisten stehen im Solde der Mittelmächte!" „Die Bolschewisten sind Räuber und Banditen! Sie wollen keinen Krieg mehr!"
Ja, eben den Frieden wollten die Arbeiter, gerade das, was die ganze Bande der Lieferanten und der hohen Offiziere nicht wollte.
Die internationale Bourgeoisie, die sich so viel von dem „gesunden Verstand" der russischen Arbeiter versprochen und so bemüht hatte, denen zu helfen, die den Krieg bis zum Endsieg fortsetzen wollten, damit Russland seinen Verpflichtungen treu bleibe, musste, nachdem ihre Zeitungen von der Begeisterung der russischen Arbeiter zuerst für den Zaren und dann für die provisorische Regierung berichtet hatten, ihren Irrtum einsehen. Sie änderte ihre Taktik, und es kam die Intervention gegen das Russland der Arbeiter und Bauern.
Doch die russische Revolution hatte die Sympathie der Massen.
In den riesengroßen Fabriken von Turin mit ihren Arbeitermassen griff die Unzufriedenheit immer mehr um sich. Trotz der eisernen Gesetze des Krieges verliehen die modernen Sklaven ihrer Unzufriedenheit Ausdruck. In Turin, wo der Kapitalismus unerschütterlicher schien als anderswo, wo die beste Anwendung des Gesetzes vom geringsten Aufwand und vom größten Profit durch eine vorzügliche Organisation und durch die Kriegsverhältnisse ermöglicht wurde, traten die Arbeitermassen natürlich besonders geschlossen und kämpferisch auf. Gerade die Fließarbeit veranlasste die Arbeiter, einig und solidarisch aufzutreten. Hier handelte es sich nicht mehr um verhältnismäßig selbständige Arbeit, sondern um Kollektivarbeit, bei der die Maschine durch die Anwendung eines stillschweigenden, aber sehr realen Taylorismus ganze Reihen von Menschen an sich fesselte. Eine stillstehende Maschine bedeutete, dass ein ganzes System von Maschinen zum Stillstand kam, die von der ersten das Metall, das Teilstück, das Schmiedestück erhielten oder es an sie weitergaben. Das bedeutete den Ausfall des trotz der gewaltigen Produktion ohnehin unzulänglichen Verdienstes.
Die aus Russland eintreffenden Nachrichten, die Informationen über die neuen Einrichtungen und der Beginn der Diskussion über die Betriebsräte interessierten die Arbeitermassen brennend. Die Arbeiter spürten, dass dem traditionellen Sozialismus etwas fehlte. Die Betriebsrätebewegung reifte heran. Die Reformisten wandten sich natürlich gegen die neue Strömung. Sie — ich meine die reformistischen Funktionäre — ahnten, dass sie dann die Arbeiter in der Fabrik nicht mehr in der Hand behalten könnten.
Der angebliche Verrat der Bolschewisten in Brest-Litowsk wurde von der Presse als ein Verbrechen dargestellt. Aber die Arbeiter verstanden ihn als einen entscheidenden Schritt zum Frieden.
Ü berall las man die Parole: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!"
Die russische Revolution war, wie überhaupt alles, was von den Bolschewisten kam, in Italien außerordentlich populär. Besonders populär war Lenin. Wilson, nach dem so viele Plätze und Straßen benannt worden waren, hatte mit seinen 14 Punkten zwar einen Augenblick auch auf den „Avanti" Eindruck machen können, aber die Arbeitermassen überzeugte er nicht.
Auf dem Parteitag der PSI im September 1918 fanden diese gärenden neuen Ideen jedoch keinen Widerhall. Es war ein armseliger Parteitag, ohne Ideen und ohne kämpferische Auseinandersetzungen. Er bewegte sich zwischen der Selbstverteidigung Turatis und der Demagogie Bombaccis, der nach jeder Rede in Ohnmacht zu fallen schien, während Laz-zari, Vella und Serrati —der Sekretär und der stellvertretende Sekretär der Partei und der Chefredakteur des „Avanti" — im Gefängnis saßen, der eine in Rom, der andere in Sizilien und Serrati in Turin.
Um zum Parteitag zu fahren, musste ich wieder einmal mit der Polizei meines Wohnortes anbinden.
„Diesmal", erklärten mir der Kommissar und der Postenkommandant, „entwischen Sie uns nicht."
„Aber ich fahre ja gar nicht, auch wenn Sie mir kein Hindernis in den Weg legen", sagte ich.
„Wieso?"
„Weil ich nicht unbedingt zu jedem Parteitag delegiert werden muss."
Ich hatte den Delegiertenausweis schon in der Tasche.
„Das kennen wir. Übrigens können Sie ja die Genehmigung beantragen."
Das Ministerium hatte der Partei die Genehmigung erteilt, bemühte sich aber im geheimen unter allen möglichen Vorwänden, dem Parteitag jegliche Bedeutung zu nehmen und die Zahl der Delegierten zu beschränken. Ich war mir völlig darüber klar, dass ich zu denen gehörte, die nicht fahren sollten. Daher war ich sehr vorsichtig in diesen Tagen.
Der Plan war klar. Drei oder vier Tage vor dem Parteitag wollte man mich unter einem Vorwand, vielleicht durch eine Anklage wegen Defätismus, außer Gefecht setzen.
Es war noch eine Woche bis zum Parteitag. Was konnte ich tun? Ständig war mir ein Polizist auf den Fersen. Ich fand ihn morgens an der Haustür, und den ganzen Tag ließ er mich nicht aus den Augen. Eines Morgens, nachdem ich alles geregelt hatte, verließ ich meinen Laden mit dem Fahrrad, in weißer Jacke (der Arbeitskleidung des Friseurs) und ohne Hut. Solche Fahrten rund um den Exerzierplatz hatte ich Öfter gemacht und war dann nach einer kleinen halben Stunde in den Laden zurückgekehrt. Mein „Schutzengel" stand an der Ecke. Er sah mich, doch fiel ihm nichts auf. Nach zwanzig Minuten kam ich langsam zurück, wie jemand, der die warme Herbstsonne genießen will, und fuhr in der Nähe des Ladens umher. Es war ein Werktag, und wir hatten wenig zu tun.
Dann entfernte ich mich vorsichtig ... Nach dreiviertelstündiger Fahrt über Landwege war ich in einem Dorfe jenseits des Flusses bei einem Freund. Dort hatte ich meinen Rock, meinen Hut und alles übrige. Auf einem kleinen Wagen fuhr er mich zum Bahnhof an einer Nebenstrecke. Ich fuhr nicht über Turin und auch nicht über die tyrrhenische Strecke. Ich nahm die Adriastrecke bis Castellammare.
Unterwegs wimmelte es von Soldaten, und man schimpfte schon ganz unbedenklich über den Krieg. Das Hauptgesprächsthema war der Frieden.
Ein Soldat schilderte einigen Mitreisenden seine Erlebnisse. Er schimpfte mit lauter Stimme: „Ich gehe nicht mehr, auch nicht, wenn sie mich hinschleppen. Sollen doch die gehen, die den Krieg wollen!" Er war abgezehrt, schlecht gekleidet und verschmutzt. Niemand wagte ihm zu widersprechen.
Auf einem Bahnhof kreuzten wir einen Militärzug. Kein Lied war zu hören, es herrschte eine bedrückende Stille. Ein junger Mensch, ein Nationalist, stieg während des Aufenthalts auf eine Kiste und versuchte, eine Ansprache zu halten: „Soldaten, der Sieg ist nahe! Wir müssen die letzte Anstrengung machen, um die Teutonen zu schlagen ... Unsere tapferen Soldaten ..."
„Hör schon auf, du Quatschkopf, komm hierher zu uns ..." „Hört ...", versuchte der Redner es wieder. Er kam aber nicht weiter, denn schallendes Gelächter übertönte seine Stimme.
„Komm her zu uns, wenn du den Helden spielen willst..." Dann hagelte es Schimpfwörter, Brotrinden, Apfelsinenschalen und Zigarettenstummel. Der Redner verzog sich.

In Rom versammelten wir uns im Volkshaus, in der Via Capo d' Africa. Niemals habe ich einem so farblosen Parteitag beigewohnt wie dem von 1918.
In Rom schienen jeden Tag Feste gefeiert zu werden. An jeder Ecke stieß man auf Musikkapellen. Stunde für Stunde erschienen Zeitungen mit riesigen Schlagzeilen. Die Delegierten beschäftigten sich mehr mit den Denkmälern als mit dem Parteitag. Mit mir war noch einer aus Piemont gekommen mit zwei riesigen Koffern voller Lebensmittel.
„Das Leben ist teuer in Rom", erklärte er mir, „darum habe ich mir Lebensmittel und ein paar gute Flaschen mitgenommen."
Einer der Koffer wurde ihm gestohlen. Er war bestürzt.
„Was für schöne Frauen es hier in Rom gibt und was für schöne Denkmäler!" rief er immer wieder.
Ich kehrte über Florenz nach Piemont zurück. In Empoli traf ich auf einen Zug mit Kriegskrüppeln. Blinde wurden von Soldaten an der Hand geführt, manche hatten beide Beine oder beide Arme verloren, viele waren grässlich verstümmelt. Die Damen vom Bürgerschaftskomitee wagten es nicht mehr, sich mit ihren billigen Konfektschachteln und schlechten Zigaretten sehen zu lassen. In den Wartesälen schliefen Soldaten, die auf ihren Zug warteten. Ich näherte mich meinem Wohnort, das heißt der üblichen Sistierung und der üblichen Predigt.
In Turin wurden auf dem Bahnhof Broschüren gegen die russische Revolution und ihren Verrat an den Alliierten verteilt. Später, während der Fabrikbesetzung, wurden viele Tausende dieser Schriften in den Geldschränken der FIAT entdeckt.
In Fossano wurde ich zu meiner Überraschung weder sistiert noch heruntergemacht. Bald danach, am 4. November abends, meldete der Heeresbericht des Generals Diaz, der Cadorna abgelöst hatte, den Friedensschluss.

Sieg! Nach Caporetto — Vittorio Veneto, nach der Niederlage — der glänzende Sieg! Die Leute auf der Straße schienen verrückt geworden zu sein. Nur die Lieferanten und die anderen Kriegsgewinnler machten finstere Gesichter. Der Frieden verdarb ihnen das Geschäft. Mit den profitablen Lieferungen war es vorbei.
Es musste auch mit den Überlebenden abgerechnet werden, und das war ein beängstigendes Problem.
Die Soldaten wurden sehr langsam entlassen und kamen mit ihrem Entlassungszeug nach Hause. Die Kriegsbeute war mager für eine siegreiche Armee! Sie bestand aus Stoff für einen Anzug und ein paar anderen Dingen, das Ganze in ein großes Tuch gewickelt, das mit einer Karte von Italien bedruckt war. Es war aber die neue Karte von Italien, mit Trient und Triest. Es war das Italien von Vittorio Veneto. Welch grausame Ironie! Mit diesem Entlassungszeug betrogen die Lieferanten noch einmal die siegreichen Truppen und den Staat.
Die Sieger kamen, und die Besiegten — die Kriegsgefangenen — zogen in langen Reihen ab. Sie hatten alle die gleiche Gangart und die gleichen Lumpen ... Die einen wie die anderen wurden in Viehwagen befördert. Der einzige Unterschied war das Entlassungszeug. Achtzig Lire und die Aussicht auf Arbeitslosigkeit! Die Schulden müssen auch bezahlt werden. Die Krüppel, die Witwen, Kinder und Eltern der Vermissten waren zu unterhalten ... Und 500 000 Tote! Ganz abgesehen von den an Unterernährung gestorbenen Kindern und den Opfern der Grippe.
Das Entlassungszeug und Versprechungen! Die Presse der Kapitalisten erklärte: „Es muss Disziplin herrschen, sonst hat der Sieg keinen Wert." Das sollte bedeuten: „Wir brauchen Kriegsgesetze, um weiter prassen zu können."
Aber die dem Gemetzel Entgangenen begannen zu rebellieren. Es galt zu kämpfen, um das Koalitionsrecht wiederzuerlangen. Noch im Jahre 1919 erschienen die Zeitungen stark zensiert.

Unser Gewerkschaftsverband und die Ortsgruppe der Partei hatten sich offiziell in den Räumen des „Familienklubs" niedergelassen. Die Kleinbürger, die der friedlichen Besetzung beigewohnt hatten, wagten nicht, den Mund aufzumachen.
Die Entlassenen waren im Kampf geübt.
Den Hass der Unternehmer und Krämer, der Priester und Adligen gegen den Gewerkschaftsverband und die Ortsgruppe der Partei brauche ich nicht zu schildern. Sie tobten auch, weil wir ihnen mit der Besetzung der Räumlichkeiten einen Streich gespielt hatten. Es begann ein erbitterter, aber versteckter Kampf.
Der Metallarbeiterverband hatte beschlossen, den Kampf für einen Mindestlohn und für den Achtstundentag zu eröffnen. Die Unternehmer, die mich in meiner Eigenschaft als Verbandssekretär niemals hatten empfangen wollen, mussten während einer Aktion für den Achtstundentag gute Miene zum bösen Spiel machen. Der Besitzer der großen Spinnerei musste mich empfangen.
Ich weiß noch, wie ich durch das Fabriktor ging. Die Kommission erwartete mich im Hof. Alle Fenster der Fabrik, die wie ein Gefängnis aussah, waren von Arbeitern besetzt. Als wir die Büroräume betraten, ertönte lauter Beifall. Der Besitzer — er war natürlich Ritter der Krone — sah aus wie ein Lebensmittelhändler, dem die Ware verdirbt.
Die Versammlung war kurz: „Ich bin ein moderner Unternehmer. Ich bin nie gegen die Organisation gewesen. Ich wünsche aber ein ehrliches Abkommen. Die Betriebskommission erkenne ich an und werde gern verhandeln. Und da die anderen Unternehmer den Achtstundentag bewilligt haben, bewillige ich ihn auch."
Ü ber den Mindestlohn wurde keine Einigung erzielt. Aber die Arbeiterinnen in der Kommission waren außer sich vor Freude über den Achtstundentag. Der Unternehmer hatte „nachgegeben", wie reiche Leute, die im Sterben liegen, sich von ihren Reichtümern trennen. Die Chemiearbeiter und die Metallarbeiter hatten damals den Achtstundentag bereits durchgesetzt. Auf diese Weise hofften die Unternehmer den Schwung der Arbeitermassen dämpfen zu können.
Am Abend fand eine große Versammlung in dem ehemaligen „Familienklub" statt, der jetzt unser Gewerkschaftshaus war. Die Räume konnten die ungeheure Zahl der Arbeiter nicht fassen. Ich musste vom Balkon aus zu der Masse sprechen, die sich in dem großen Hof des Gebäudes drängte. In den Fenstern sah man Gesichter von erschrockenen Kleinbürgern.

Der Parteitag von Bologna — Turati nannte ihn den Parteitag der Kandidaten, weil die Wahlen bevorstanden — billigte begeistert die Erklärung des Parteivorstandes über den Anschluss an die III. Internationale. Auch die Reformisten waren dafür. Es herrschte allgemeine Begeisterung. Das Statut von Genua wurde abgeändert.
In ganz Italien kam es zu Aktionen und Streiks. Sogar die Angestellten, die Lehrer und die Richter organisierten sich und forderten, mitgerissen von dem Schwung der Arbeitermassen, einen besseren Lebensstandard. Der Lebensstandard der Arbeiterklasse war aber immer noch niedriger als vor dem Kriege. Es herrschte große Arbeitslosigkeit.
Beim Generalstreik gab es Tote und Verwundete. Nitti erließ eine Amnestie und rief die „Königliche Garde" ins Leben.
Nach Turin, wo die Bewegung in den Betrieben sich in eindrucksvoller Weise entwickelte, entsandte die Regierung eine sardische Infanteriebrigade. Die Soldaten verbrüderten sich alsbald mit den Arbeitern.
Es kam zu Unruhen wegen der Verteuerung der Lebensmittel, und diese spontane und ungeordnete Bewegung breitete sich fast überall aus. Die Parteiführung befand sich im Schlepptau der Massen.
Damals gelangten zu uns Nachrichten über Überfälle auf Geschäfte in den großen Städten. Die Arbeitermassen in den kleineren Städten lebten in fieberhafter Erwartung. Wäre in diesem Augenblick die richtige Parole ausgegeben worden, so wäre der schwelende Brand zum Ausbruch gekommen. Die wichtigsten Bedarfsgüter waren unerschwinglich teuer. Wenn die Behörden Höchstpreise anordneten, verschwanden die Waren. Im Gewerkschaftshaus diskutierten die Arbeiter über die erforderlichen Maßnahmen.
„Was macht die Sozialistische Partei?"
„Wie lauten die Direktiven?"
Die Parteipresse wühlte im Schmutz des Krieges. Sie entlarvte den Patriotismus der Lieferanten und erbrachte Beweise für die Brutalität der als Henker verschrienen Generale. Dies alles war notwendig, aber jetzt galt es, die Situation zu meistern.
Und die Situation verschlimmerte sich mehr und mehr. Die Gemeindeverwaltung war ohnmächtig. Jeden Tag kamen neue Höchstpreise, und das Ergebnis war immer dasselbe. Eines Tages berief der Bürgermeister eine außerordentliche Sitzung ein. Außergewöhnlich war diese Sitzung in zweierlei Hinsicht. Erstens handelte es sich nicht um eine ordentliche Sitzung des Gemeinderates, und zweitens war die Zusammensetzung der Teilnehmer sehr mannigfaltig. Außer dem Gemeinderat wurden die Vorsitzenden einiger Unterstützungsvereine, der Sparkasse, des Sportvereins und des Schützenvereins, die Geschäftsleute und die Gewerbetreibenden, die Industriellen, die Pfarrer der verschiedenen Kirchspiele, der Kommissar der Sicherheitspolizei, der Postenkommandant, der Richter, der Direktor der beiden Zuchthäuser und die Gewerkschaften eingeladen.
Sehr interessant verlief unsere am Abend einberufene Versammlung. Wir waren in heller Aufregung. Gleich nach Erhalt des Einladungsschreibens traten wir zusammen. Wie lauteten die Parolen der Sozialistischen Partei? Das war schwer zu sagen, und wir wussten nicht recht, was wir tun sollten. Der einzige Tagesordnungspunkt lautete „Maßnahmen, um der Krise zu begegnen". Vor und nach der Tagesordnung wurde in zwei schwungvollen Ansprachen viel vom Vaterland und vom Siege, vom Fortschritt und von der Demokratie, von Gott und der Monarchie geredet...
Nach langer Diskussion — es wurden zahlreiche Anträge gestellt, ich erinnere mich noch, dass ein alter Genosse zum Beispiel vorschlug, auf der Sitzung die Plünderung der Geschäfte zu billigen — einigten wir uns über folgende Punkte:
1. Bestandsaufnahme über alle in den Geschäften vorhandenen Waren;
2. Beschlagnahme der unentbehrlichen Lebensmittel;
3. Eröffnung von Verkaufsstellen unter der Kontrolle der Arbeiterorganisationen;
4. Aufstellung einer bewaffneten Miliz auf Kosten der Gemeinde.
Die Kommission bestand aus gewählten Vertretern der verschiedenen Betriebe der Stadt.
Am festgesetzten Abend waren im Rathaus die Gemeindediener mit Angströhren, die Feldhüter und die Feuerwehr aufmarschiert.
Die Versammlung fand im Sitzungssaal des Gemeinderates statt. Der Bürgermeister, ein millionenschwerer Würdenträger, Großgrundbesitzer, Jude und Klerikaler, machte die Honneurs. In seinem Blättchen hatte er mich oft als Defätisten und Deutschenfreund beschimpft. An diesem Abend begrüßte er mich mit einer tiefen Verbeugung. Wahrscheinlich erwartete er Hilfe von mir und den Genossen.
Die Sitzung wurde eröffnet. Unter allgemeinem Schweigen begann der Bürgermeister:
„Meine Herren und Damen!" Die Spinnerei, die Weberei und die Papierfabrik hatten Genossinnen als Delegierte entsandt. „Dank dem Heroismus seiner Söhne, mit Hilfe Gottes und unter der Führung Seiner Majestät des Königs, unseres geliebten Herrn, hat das Vaterland seine natürlichen Grenzen erobert und unsere Brüder in Trient und Triest von dem hundertjährigen Joch unseres Feindes Österreich-Ungarn, das heute durch den Sieg der Demokratie auseinandergefallen ist, befreit ..."
Er wischte sich den Schweiß ab, der ihm von der Stirn auf den leuchtenden Ausschnitt des gestärkten Hemdes tropfte. Der hohe Herr hoffte auf Beifall, aber der Beifall kam nicht.
„Durch seinen Sieg ist Italien unter die Großmächte aufgerückt. Wir müssen stolz sein darauf ..."
„Zur Sache!" fiel ich ihm ins Wort. „Das wissen wir alles schon auswendig."
Sonderbarerweise dachte niemand in der Versammlung daran, mich zurechtzuweisen. Der Bürgermeister hörte sofort auf. Ohne meinen Zwischenruf hätte er vielleicht noch lange in diesem Ton weitergesprochen.
„Wer wünscht das Wort?" sagte er fassungslos.
„Ich", erwiderte ich.
„Ich spreche im Namen der Gewerkschaften." Ich legte Wert auf die Feststellung, dass die verhassten Gewerkschaften jetzt Bürgerrecht besaßen. „Wir alle kennen die Lage, die nicht vom Proletariat geschaffen worden ist. Wir haben ernsthafte, konkrete Vorschläge erwartet und hören stattdessen ein langes Gerede über das Vaterland, die Monarchie und den Sieg ..."
Diesmal unterbrachen mich verschiedene Vertreter der Ordnung.
„Respektieren Sie unsere Ansichten, das Vaterland ..."
„Seien Sie ganz still!" rief eine Weberin. „Wir haben die Nase voll vom Vaterland! Wir wollen Brot ..."
„Sehr richtig, wir wollen Brot", fügte Gisleno, ein einäugiger Arbeiter aus der Papierfabrik, hinzu, „und keine großen Vorträge ..."
„Also los, Vorschläge und keine Zeitverschwendung!" schloss ich.
Der Bürgermeister war sehr verlegen und wusste nicht, was er sagen sollte. Einer der Anwesenden hatte das Wort verlangt. Es war der Vorsitzende der Versicherungskasse, ein Gemeindebeamter.
„Es ist eine Schande", sagte er, „dass der Magistrat zu einer Sitzung wie dieser ohne konkrete Vorschläge erscheint, und das vor Gegnern wie den Sozialisten. Ich bin ein alter Frontkämpfer, ein Mann der Ordnung, aber ich fühle, dass Sie im Unrecht sind, und ich sage es Ihnen ..."
„Vergessen Sie nicht, dass ich der Bürgermeister bin und Sie mich zu respektieren haben!"
„Glauben Sie, dass Sie mir so den Mund verbieten können? Sie irren sich, Herr Bürgermeister!"
Niemand sprach. Die Stadträte waren noch verlegener als der Bürgermeister. Da ergriff der Kommissar das Wort.
„Also", sagte er, „ich schlage vor, dass jeder seine Meinung sagt: Ich für meine Person erkläre, dass den Gewerbetreibenden empfohlen werden muss, bei Strafe der Verhaftung entsprechend den geltenden Gesetzen die Preise nicht mehr zu erhöhen."
„Gerade das wollte ich sagen", erklärte der Bürgermeister, der nach jedem Strohhalm griff.
„Da haben wir's", meinte der Vorsitzende der Versicherungskasse. „Nun stehen wir schön da vor den Sozialisten!"
Ein Geschäftsmann, der im Kriege reich geworden war, sagte:
„Die Großhändler müssten ihre Gewinne beschränken. Wir haben die Folgen ihrer Habsucht zu tragen ..."
Da erhob sich der Besitzer der Gießerei und mehrerer anderer Fabriken in anderen Orten der Provinz und erklärte:
„Meine Herren! Die Krise ist allgemein, und wir müssen alle zusammen die Folgen tragen. Die Rückkehr zur Friedenswirtschaft wirkt sich störend auf den Markt aus. Die Wiederherstellung normaler Verhältnisse erfordert große Anstrengungen. Die Geldbesitzer zögern, ihr Kapital in der Industrie anzulegen, weil das Geld infolge der Störung des Gleichgewichts durch die Forderungen der Arbeiter und die Unruhen nichts mehr einbringt ..."
„Schöner Patriotismus!" rief einer der Genossen der Kommission und fluchte, dass die Scheiben klirrten.
„Daher", schloss der Gießereibesitzer, „müssen wir uns bemühen, die Krise gemeinsam zu überwinden."
Er setzte sich.
„Nun?" fragte spöttisch der Vorsitzende der Versicherungskasse. „Was soll also werden?"
Höhnisch sah er den Bürgermeister an. Dieser erhob sich und erklärte melodramatisch:
„Da ich nicht respektiert werde, trete ich zurück. Von diesem Augenblick an bin ich nicht mehr Ihr Bürgermeister."
Die einzige Folge dieses unangebrachten Wutausbruchs war, dass einer der Gießereiarbeiter bemerkte:
„Jetzt, wo er im Druck ist, kneift er. Es war natürlich leichter, Reden zu halten, als alle anderen den Mund halten mussten. Und da schämt der Mensch sich nicht, sich so zu drücken?"
„Ich reiche meine Demission ein, und ich reiche sie den Arbeitern ein, nicht den andern, die mich in dieser Situation im Stich lassen. Ihnen", wandte er sich an mich, „reiche ich meine Demission ein ..."
Ich sah mir die ganze verlegene Gesellschaft an.

„Avanti o popolo alla riscossa!
Bandiera rossa, bandiera rossa
Trionfera ..."

Der vielhundertstimmige Gesang erhob sich erst schwach, dann immer lauter, bis man ihn deutlich vom Platz her hörte. Ich sehe die Gesichter der Versammelten noch vor mir. Es waren bleiche und verkrampfte Gesichter, auf denen ein verzerrtes Lächeln stand.
„Ich beantrage, dass der Magistrat sich einen Augenblick im Zimmer des Bürgermeisters versammelt und mit konkreten Vorschlägen wiederkommt", sagte der Vorsteher der Versicherungskasse.
Der Bürgermeister und die Stadträte stimmten zu. Der Bürgermeister hatte schon die Hosen voll.
Bald danach kamen sie wieder. Sie beantragten eine fünfzigprozentige Senkung der Höchstpreise und gewerkschaftliche Kontrolle über die Durchführung.

„Avanti popolo, tuona il cannone
Rivoluzione, rivoluzione,
Rivoluzione, vogliamo far!"

Immer wieder ertönten die Rufe: „Es lebe Lenin! Nieder mit dem König!"
Nicht einmal die Ladenbesitzer waren gegen die vom Bürgermeister verlesenen Anträge des Magistrats.
Ich bat um das Wort.
„Wir sind einverstanden", sagte ich, während die ganze Gesellschaft in tiefem Schweigen angstvoll lauschte, „wenn Sie folgende Vorschläge annehmen ..."
Ich verlas die vier Anträge der Gewerkschaften.
„Sie sind also nicht einverstanden?" sagte der Bürgermeister. „Die Anträge der Gewerkschaften kommen einer Ablehnung gleich ..."
„Ihre Anträge sind nichts als der übliche Schwindel, wenn wir nicht die in unseren Vorschlägen enthaltenen Garantien bekommen."
„Ist das Ihr letztes Wort?" fragte der Bürgermeister totenbleich.
„Ja, denn ohne die Verwirklichung unserer Vorschläge sind Ihre Höchstpreise bedeutungslos. Außerdem ist Ihre Idee, auf den Markt - falls die Bauern morgen überhaupt mit Waren erscheinen — und in die Geschäfte, die die Inhaber noch vor dem Morgengrauen ausräumen werden, ohne jede Vollmacht zu gehen, einfach kindisch. Wir würden uns nur lächerlich machen. Gehen Sie uns doch mit Ihren Höchstpreisen!"
„Wir stimmen widerspruchslos einer so starken Preissenkung zu", winselte ein Ladenbesitzer, „und Sie sind nie zufrieden."
Vom Platz hört man Pfiffe und Geschrei ... Der Bürgermeister beratschlagte mit dem Kommissar und mit einigen anderen und sagte dann:
„Wir müssen zu einer Entscheidung kommen. Wer für die Anträge des Magistrats ist, den bitte ich um das Handzeichen."
Alle Hände erhoben sich, mit Ausnahme unserer Kommission.
„Wir teilen nun unsere Beschlüsse der Bürgerschaft mit."
Die Diener öffneten den Balkon ... Der Bürgermeister, kreideweiß, trat in Begleitung der Stadträte vor. Allgemeines Geschrei und durchdringende Pfiffe empfingen den Magistrat. „Abtreten! Wir wollen Brot!" Der Lärm war unbeschreiblich.
„Bürger!" die Stimme des Bürgermeisters zitterte. „Von morgen an werden die letzten Höchstpreise im Einvernehmen mit allen hiesigen Geschäftsleuten und den angesehensten Bürgern der Stadt um fünfzig Prozent herabgesetzt."
„Scher dich zum Teufel! Wir kennen deine Höchstpreise!"
Auf dem Platz wurde gepfiffen und geschrieen.
„Die Arbeiterkommission soll sprechen! Der Gewerkschaftssekretär soll sprechen!"
Als wir auf dem Balkon des Rathauses erschienen, empfing uns allgemeiner Beifall. Dann erklang feierlich die „Internationale".
Neuer Beifall.
„Wir haben eure Anträge vorgebracht. Sie sind nicht angenommen worden. Man kommt euch wieder mit Höchstpreisen, und das Ergebnis wird das übliche sein. Das ist eine Provokation. Jeder hat seine Verantwortung zu tragen. Die Bourgeoisie, die den Krieg gewollt hat, möchte jetzt dem Volk die Kosten aufbürden. Es naht die Zeit, wo abgerechnet wird. Haltet euch diszipliniert bereit für die Anordnungen der Sozialistischen Partei und des Gewerkschaftsverbandes! Wir werden siegen ..."
Als ich aus dem Hintergrund des Pla,tzes in geschlossener Linie Soldaten anrücken sah, fügte ich mit lauterer Stimme, damit auch sie mich hören konnten, hinzu:
„Die Soldaten kommen. Sie sind Proletarier wie wir und Söhne von Proletariern. Sie werden nicht schießen. Geht jetzt nach Hause. Es lebe das proletarische Russland! Es lebe der Sozialismus!"
Brausende Hochrufe ertönten, und dann erklang die „Internationale" ...
Am nächsten Tage prangte überall in Riesenbuchstaben die Bekanntmachung über die neuen Höchstpreise, und die Schaufenster waren leer.
Was tun? Es kam keine Anweisung.
Die Regierung verlegte ihre Truppen — im allgemeinen die Garderegimenter, weil die Linientruppen wenig zuverlässig waren — in die Orte, wo die Lage besonders ernst war, und erstickte die Aufstände im Blut.
Im Gewerkschaftshaus tagten die Leitungen der Gewerkschaften und der Ortsgruppe der Partei. Wir diskutierten und agitierten unter den Massen, immer in der Erwartung, dass die Partei sich für koordinierte Aktionen entschließen sollte, die Aussicht auf Erfolg hatten.
In allen Fabriken hatten wir Betriebskommissionen und Abteilungsdelegierte. Auf dem Markt veranstalteten wir fast jeden Abend ohne vorherige Anmeldung bei den Behörden unsere Versammlungen, um die Massen über das Geschehen in Italien und im Ausland zu unterrichten.
Aber die Bewegung der Massen erlosch langsam, zusammengeschossen von der Reaktion und fast gänzlich unbeachtet von der Parteiführung.

Mein Pseudonym Barbadirame hat einen merkwürdigen Ursprung. Er geht auf das Jahr 1919 zurück. Die „legale" Besetzung der Räumlichkeiten des ehemaligen „Familienklubs", die nun unser Gewerkschaftshaus bildeten, hatte, wie schon erwähnt, die lokale Presse in wilde Wut versetzt.
Im Zentrum der Stadt, in einem sehr schönen Gebäude, war auf Grund eines noch zwei Jahre laufenden Kontraktes durch die Schwäche gewisser Elemente und durch die Verschlagenheit der Sozialisten ein Herd der Revolte entstanden. Was taten die Behörden?
Die drei Zeitungen — die eine vertrat die Richtung der christlich-demokratischen Volkspartei, die andere war das Organ des Bischofs, die dritte war liberal-demokratisch — schmiedeten das Eisen. Ein Gewaltstreich war aber nicht so einfach. Die Arbeiter hätten sich das damals nicht gefallen lassen. Da eröffneten die Priester eine Verleumdungskampagne gegen mich. Man muss, sagten sie sich, Zweifel und Misstrauen verbreiten gegen diesen verfluchten Friseur und die wenigen Genossen, die ihm nahe stehen. Sie begannen also, einen in Fortsetzungen erscheinenden Roman mit dem Titel „Die Sonnenstadt" zu veröffentlichen.
In dieser Art von Verleumdung sind die Priester, glaube ich, nicht zu übertreffen.
Unsere Ortsgruppe bestand nur aus Arbeitern, was in der italienischen sozialistischen Bewegung eine Seltenheit war, besonders damals, als alle zu uns kommen wollten. Nach der Arbeitszeit arbeiteten wir für die verschiedenen Verbände und für die Zeitung und konnten auf Rechtsverdreher verzichten. Der einzige Intellektuelle in der Ortsgruppe war ein Arzt, der im Kriege Offizier gewesen war. So unglaublich es klingt: wir hatten nicht einmal einen Rechtsanwalt in der Ortsgruppe.
Der Roman begann mit einer Schilderung des Milieus. Die „Sonnenstadt" war Fossano.
Als die Personen auftraten, erschien als erster Barbadirame (die Farbe meines Bartes war die der Küchengeräte in Fossano kurz vor dem Fest des Schutzheiligen; dann nämlich polierten alle Hausfrauen ihre Kasserollen, putzten die Fenster, wuschen den Kindern das Gesicht und das Hinterteil und machten Jagd auf die Spinnen und anderes Hausgetier). Ich erschien in dem Roman als käufliches Subjekt, und die Genossen waren Marionetten, die ich an der Strippe zog. Einige Szenen aber sind geeignet, die Kunst der Priester besonders gut zu illustrieren. Im folgenden einige Auszüge aus der Geschichte.

„Barbadirames Arbeitszimmer. Ein großer Tisch ist mit Papieren bedeckt. Auf den Regalen stehen Bücher von Marx und anderen Autoren dieser Art. An den Wänden hängen Bilder von Marx, Engels, Turati und anderen Säulenheiligen des Sozialismus. Prachtvolle Tapeten aus rotem Atlas. Telefon. Vergoldeter Lehnstuhl, Teppiche, schwere Türvorhänge.
Barbadirame sitzt im Lehnstuhl und raucht eine duftende dicke Zigarre. Träumerisch blickt er dem Zigarrenrauch nach. Er ist prächtig gekleidet, er trägt eine dicke goldene Kette und goldene Ringe ... Er ist hochgewachsen, mager, hat dunkle Augen, schwarze Haare und einen kupferfarbenen Bart. Beim Gehen stützt er sich auf einen kunstvollen Stock mit vergoldetem Griff.
Barbadirame lächelt. Liebliche Gedanken müssen ihm im Halbdunkel dieses behaglichen Winkels durch den Kopf gehen.
Plötzlich klopft es. ,Herein!' ruft Barbadirame. Ins Zimmer tritt ein magerer kleiner Mann.
,Genosse', sagt der Kleine, ,da ist eine Arbeiterkommission. Soll ich sie hereinlassen?'
,Hast du sie gefragt, was sie wollen? Nein? Du bist und bleibst ein Dummkopf ... Ich habe es dir doch schon so oft gesagt. Ich habe keine Zeit für Geschwätz. Lass sie eintreten. Sage ihnen, dass sie sich vorher die Schuhe säubern, und mache sie auf das Plakat aufmerksam, dass Ausspucken verboten ist. Diese Schweine haben immer einen Stummel im Mund!'
Die Kommission tritt ein. Es sind fünf Arbeiter. Ihre Kleidung ist zerrissen und verschmutzt. Sie sind abgezehrt. Welcher Gegensatz zwischen Barbadirame und den fünf Arbeitern!
,Was wollt ihr?' fragt Barbadirame sie, ohne auch nur ihren Gruß zu beantworten und ihnen einen Stuhl anzubieten.
Die fünf Arbeiter, mit dem Hut in der Hand, wissen nicht, wie sie anfangen sollen.
,Macht rasch, ich habe viel zu tun.'
,Also', beginnt einer von ihnen, ,wir sind Genossen. Wir werden schlecht bezahlt in unserm Betrieb. Wir brauchen Ihre Hilfe, setzen Sie uns eine Eingabe auf ...'
,Ich verstehe schon. Wie viele seid ihr?'
,Wir sind 560, und es geht uns wirklich schlecht. Wenn Sie uns helfen
,Es geht euch schlecht, weil ihr Schafsköpfe seid! Gebt mir zehntausend Lire, dann will ich euch eine Eingabe machen und eine Rede halten und euch beistehen. Natürlich müsst ihr mir auch eure Stimmen geben
,Das ist ganz gut, aber woher sollen wir zehntausend Lire nehmen?' sagen die Arbeiter bestürzt.
,Ihr müsst euch eine Steuer auflegen! Das ist doch eine Kleinigkeit ... Bei guter Vorbereitung ist es kinderleicht, drei Lire Zulage zu bekommen. Dreimal 560 macht 1680 Lire täglich. In 300 Arbeitstagen habt ihr also eine Zulage von mehr als einer halben Million Lire, genau 504000 Lire. Ich habe nicht viel verlangt. Schluss jetzt. Ja oder nein?'
Barbadirame spielt mit einem in Gold gefassten Federmesser aus Perlmutter.
,Wir sind einverstanden', antworten die Arbeiter. ,Am Sonntag bringen wir eine Anzahlung.'
Sie verabschieden sich und gehen hinaus.
Barbadirame reibt sich die Hände. Mit einem kleinen silbernen Hammer schlägt er vergnügt an eine kunstvolle Glocke und schreibt zwei Zeilen auf hochfeines Papier. Der kleine Mann erscheint.
,Trage diesen Brief zum Adressaten!'

Es ist Nacht. Die Straßen sind verlassen. Langsam und zögernd stapft ein Mann über den feinen Kies der Ringallee. An einer dunkleren Stelle bleibt er stehen. Misstrauisch blickt er sich um und steckt dann den Schlüssel in das Schloss einer kleinen Tür, die sich geräuschlos öffnet. Dann verschluckt ihn die Finsternis. Er steigt ins erste Stockwerk hinauf und öffnet eine zweite Tür. Er macht Licht. Er nimmt das Tuch ab, das die Hälfte seines Gesichts verbirgt. Es ist Barbadirame! Er entkleidet sich und zieht einen Pyjama aus geblümter Seide an. Er setzt sich. Das Zimmer ist entzückend ausgestattet mit einem Alkoven, einem Sofa, Ruhebetten und Wandspiegeln, kunstvollen kleinen Statuen und weichen Teppichen. Eine verschleierte Lampe taucht den Raum in geheimnisvolles und zauberhaftes Licht. In der Luft liegt ein berauschender starker Duft. Ungeduldig betrachtet Barbadirame die luxuriöse Pendeluhr und spitzt beim geringsten Geräusch die Ohren.
Die Zeit vergeht. Barbadirame wirft nervös schon die zweite kaum angerauchte Zigarre fort. Plötzlich fährt er zusammen. Er hat ein bekanntes Geräusch vernommen, eilt zur Tür und öffnet sie. Eine in einen Pelz gehüllte Frau tritt ein.
,Guten Abend, Liebste!'
Er will sie umarmen.
,Lass mich in Ruhe, ich habe Migräne', sagt sie und stößt ihn zurück. Dann wirft sie den Mantel ab und sinkt auf einen Diwan.
,Gib mir eine Zigarette und ein Glas Portwein!'
Barbadirame führt ihren Befehl aufmerksam aus.
,Weißt du', sagt sie, ,was ich heute in Turin gesehen habe? Übrigens, du schickst mich nach Turin, damit ich mich ein bisschen amüsiere, mit lumpigen fünfhundert Lire! Ich habe einen prachtvollen Pelz gesehen. Er kostet kaum fünfzehntausend Lire! Den will ich mir kaufen. Du gibst mir das Geld, nicht wahr? Wenn du es mir nicht gibst, macht es nichts, ich kaufe ihn mir trotzdem ...'
,Und wie willst du ihn kaufen?' fragt Barbadirame erschrocken.
,Darüber rede ich nicht. Wenn ich dich nicht so gern hätte, würde ich den Pelz schon tragen. Du kaufst ihn mir, nicht wahr? Du wirst stolz sein auf deine Nini...'
Sie hängt an seinem Halse.
,Kaufst du ihn mir?' drängt die Frau.
,Ja, Liebling ...'
Die Beleuchtung wird diskreter. Man hört Seufzer und das Geräusch von Küssen ... Schweigen ..."
Der Roman geht weiter:
„,Arbeiter! Während ihr zehn Stunden am Tage für ein Stück Brot schuftet, prasst die Bourgeoisie und wühlt im Golde. Ihr habt keine Schuhe für eure Kinder, aber die Bourgeois hüllen ihre Frauen in Gold und Pelze ...
Bauern! Ihr schwitzt in der Hitze auf den Feldern beim Einbringen der Ernte. Mit den Reichtümern, die ihr der Erde entreißt, gehen eure Herren nach Monte Carlo, geben dort prunkvolle Feste und vergeuden die Früchte eurer Arbeit!
Nur einmal haben die Herren sich mit euch beschäftigt, Arbeiter und Bauern, als sie euch in den Krieg geschickt haben!
Jagt eure Ausbeuter davon! Es lebe die Revolution!'
,Bravo! — Sehr richtig!' braust der Beifall auf.
Lächelnd verlässt Barbadirame die Tribüne. Hochrufe begleiten ihn."

In dieser Tonart erschien der Roman mehrere Wochen hintereinander.
Alle waren sich über die Absicht des Verfassers klar, mich und die anderen aktiven Genossen in Verruf zu bringen. Ich zog Erkundigungen ein, ob ich eine Klage wegen übler Nachrede einreichen könnte. Nicht etwa, weil ich Vertrauen zur Justiz gehabt hätte, sondern weil eine Verurteilung wegen übler Nachrede immer die Verurteilung zum Schadenersatz zur Folge hat, und das bedeutet Geld. Wir standen kurz vor den Wahlen und hatten, wie immer, kein Geld!
Es war nicht möglich.
Daraufhin richtete ich an den Vorsitzenden der Volkspartei, dem die Zeitung gehörte, folgenden offenen Brief:

„An den Vorsitzenden der Volkspartei.
Hier.
Aus der Veröffentlichung des Romans ,Die Sonnenstadt' geht deutlich die Absicht hervor, den Unterzeichneten und unsere Bewegung in Verruf zu bringen.
Ich sehe nur zwei Möglichkeiten. Entweder verfügen Sie über konkrete Tatsachen und veröffentlichen diese unter Übernahme der Verantwortung, oder sie verfügen nicht über solche Tatsachen und bekämpfen uns auf geistigem Gebiet.
Im ersten Falle verspreche ich Ihnen öffentlich, dass ich Sie verklagen und den Beweis antreten werde.
Wenn Sie — was meiner moralischen Verurteilung gleichkäme — freigesprochen werden, haben Sie einen Schurken entlarvt.
Wenn Sie — was meinen Sieg bedeuten würde — verurteilt werden, verspreche ich, jede beliebige Erklärung zu unterzeichnen, damit Sie nicht ins Zuchthaus kommen.
Ich erwarte Ihre Antwort."

In dieser Woche wurde die Fortsetzung des Romans „wegen Raummangels" auf die nächste Nummer verschoben, doch kam keine Antwort von dem ehrenwerten Vorsitzenden. In der folgenden Woche erschien der Roman wieder, doch war der Ton verändert.
Ich richtete einen neuen offenen Brief an den Vorsitzenden der Volkspartei:

„An den Vorsitzenden der Volkspartei. Auf meinen Brief habe ich keine Antwort erhalten. Sie können sich nicht mit Unkenntnis entschuldigen, denn ich habe Ihnen ein eingeschriebenes Exemplar mit Empfangsbescheinigung zugehen lassen.
Wenn Sie nicht binnen zehn Tagen, wie ich es Ihnen in meinem Schreiben nahe gelegt habe, die Verantwortung übernehmen, bin ich zu dem Glauben berechtigt, dass Sie ein Gauner, ein Lump und ein gewöhnlicher Ehrabschneider sind.
Zu Ihrer Kenntnis."

Der ehrenwerte Vorsitzende erwies sich nicht als streitbarer Katholik, sondern steckte die obigen Beleidigungen ein und antwortete nie. Der Roman erschien nicht mehr, obwohl in der vorhergehenden Nummer eine Fortsetzung angekündigt worden war.
Zu dem gewaltsamen Ende des Romans steuerte ich eine lebhafte „Unterredung" mit seinem Verfasser bei. Das Pseudonym blieb an mir haften, und ich verwendete es noch lange. In den Akten des Prozesses in Rom vom Jahre 1928 erscheint es neben meinem Familiennamen.
Meine Genossen aber hatten es abgekürzt, weil es ihnen zu lang war. Sie nannten mich „Barba", was im Piemontesischen „Onkel" bedeutet.
Auch zu Hause wurde ich dann manchmal so genannt.

Die italienische Bourgeoisie überwand auch die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit.
Ü berall setzten sich die Arbeiter zur Wehr. In Genua kam es zu Aktionen gegen die Teuerung. Mussolini schrieb dazu im „Popolo d'Italia": „Gegen diese Haifische müssen Erschießungskommandos eingesetzt werden!"
In Spezia und Livorno brachen Unruhen aus. In Bergamo stürmten die Arbeiter die Geschäfte. In der Romagna kam es zu Aufständen. Es folgten Aktionen der Metallarbeiter, der Eisenbahner, der Post- und Telegrafenarbeiter und der Angestellten. Sogar die Lehrer rührten sich.
Häufig brachen die Unruhen ohne Mitwirkung der zentralen Stellen aus. In Dalmine besetzten die Faschisten die Gregorini-Werke, und Mussolini kam nach Dalmine, um gegen die „Haifische" zu sprechen! Er erklärte: „Demokratie und Sparsamkeit — das ist unsere Devise! Wir wünschen eine verfassunggebende Versammlung, und auf die Frage ,Monarchie oder Republik?' antworten wir: ,Republik!'" Mussolini schwamm mit dem Strom und suchte sich an die Spitze der Bewegung zu stellen.
Nach der Rede des Reformisten Filippo Turati schrieb er: „Sehr selten hat das italienische Parlament das Glück gehabt, ein so ernsthaftes und durchdachtes Regierungsprogramm wie das von F. Turati zu hören." Nach der Spaltung in Livorno erklärte er: „Die Sozialistische Partei Italiens hat sich in Genua im Jahre 1892 der Anarchisten entledigt, heute entledigt sie sich der Kommunisten." Der Mann, der die Sozialistische Partei Italiens hatte in den Krieg zerren wollen, suchte nun wieder Anschluss bei den „vernünftigeren" Sozialisten a la Turati.
Unsere Ortsgruppe vergrößerte sich. Die Wochenschrift „Lotte Nuove" gab eine Sondernummer mit unserer Chronik heraus. Nach wie vor suchte man uns auszuquartieren. Alle möglichen Druckmittel wurden angewandt, obwohl man wusste, dass wir nach Ablauf des Vertrages im September auf die Straße gesetzt werden würden. Wir waren alle unterwegs, um eine Unterkunft für das Gewerkschaftsbüro ausfindig zu machen. Es war unmöglich!
Auf diese Weise wollte man uns erledigen. Wenn diese verdammten Sozialisten, sagte man sich, kein Dach mehr über dem Kopf haben, werden sie sich auflösen. Unser grimmigster Feind war der Kommissar, der seine Autorität von Tag zu Tag schwinden sah. Er tobte, aber nichts wollte ihm glücken.
Der Kommissar der Sicherheitspolizei war, wie schon gesagt, sehr „intelligent" und sehr genau. Einmal meldete ich ihm eine Demonstration und eine Versammlung an. Vierundzwanzig Stunden danach erschien ein Polizist in meinem Laden mit der Aufforderung, mich aufs Kommissariat zu begeben. Der Kommissar D'Avanzo reichte mir ein Papier und sagte:
„Lesen Sie das und unterschreiben Sie, wenn Sie einverstanden sind."
Ich setzte mich und las:

„Kommissariat der Sicherheitspolizei von Fossano
Betrifft: Anmeldung einer Demonstration und einer öffentlichen Versammlung
Herrn ..., Friseur Via Roma, 46
Hier.
Das Kommissariat der Sicherheitspolizei von Fossano bestätigt die Anmeldung einer Versammlung und einer Demonstration seitens des Sekretärs der Gewerkschaften und der Ortsgruppe der Sozialistischen Partei. Es erklärt sich einverstanden mit dem Wege der Demonstration und mit dem Zeitpunkt der Versammlung. Es beauftragt das Carabinieri-Kommando mit dem Ordnungsdienst und macht den oben Genannten darauf aufmerksam, dass, falls während der Versammlung und der Demonstration die Arbeiterhymne gesungen wird, der Refrain in der von Filippo Turati stammenden Fassung zu singen ist, also :

,Wir leben von der Arbeit
Oder sterben im Kampf!'

und nicht:

,Wir leben von der Arbeit
Ohne Papst und ohne König!'

Der Überbringer der Anmeldung ist sich darüber klar, dass ein Verstoß gegen diese Anordnung die Auflösung der Versammlung und der Demonstration sowie die Verhaftung der Singenden und des Unterzeichners der Anmeldung zur Folge haben wird.
Der Kommissar der Sicherheitspolizei D’Avanzo"

Ich lachte und unterschrieb. Der Kommissar D'Avanzo, der eine blumige Sprache liebte (er legte Wert auf die Feststellung, dass er D'Annunzio las), sagte zu mir:
„Was bedeutet dieses sardonische Lachen, welches aus dem Gewirr von Haaren hervorkommt, das Ihr Gesicht umrahmt? Vergessen Sie nicht, dass ich das Gesetz vertrete!"
„Nichts, Herr Kommissar", erwiderte ich, „ich vergesse das Gesetz nicht. Ich denke an den armen Turati."
Der dichterische Kommissar merkte die Ironie nicht und nahm das Papier wieder an sich. Ich verlangte eine Abschrift.
Dies Dokument war so originell, dass es erhalten bleiben musste. Armer Turati! Nun war es so weit gekommen, dass ein Kommissar der Sicherheitspolizei auf seine Hymne aufpassen musste! Der Kommissar hatte übrigens recht. Die Arbeiter sangen nur selten die Arbeiterhymne, die „Internationale" war ihnen sympathischer, und wenn sie die Hymne sangen, veränderten sie sie immer.
Ich informierte die Genossen, und der arme D'Avanzo musste den ganzen Tag über immer wieder die Arbeiterhymne in der „korrekten" Fassung hören und dann in unserer Presse sein Papier lesen. Er tobte. Er war ein Musterexemplar jener Polizisten, die zu allem fähig sind, um nur befördert oder belohnt zu werden, anmaßend gegen die Schwachen und katzbuckelnd vor den Vorgesetzten. In den ersten Jahren nach dem Kriege hat es sich gezeigt, wie groß ihre Feigheit ist. Mehr als einmal habe ich sie vor einer Arbeiterkommission vor Angst zittern sehen. Einmal sagte D'Avanzo zu mir:
„Die sozialistische Regierung wird doch auch eine Polizei brauchen, nicht wahr?"
Es war in der Zeit der Teuerungsunruhen. Die Arbeiter stürmten die Geschäfte ... D'Avanzo dachte an die Zukunft! „Natürlich", erwiderte ich. „Eine Polizei werden wir brauchen, aber sie muss intelligenter sein als Nittis Polizei."
„Glauben Sie, dass es in Italien keine intelligenten Beamten gibt? Glauben Sie, dass sie alle Nitti oder Giolitti treu sind? Man tut seine Pflicht, um sich durchzuschlagen."
Wie oft habe ich damals diese Argumente und diese Anbiederungsversuche gehört! Einmal kam der Postenkommandant in meinen Laden und erklärte mir:
„Kurz und gut, das ist nicht mehr auszuhalten! Von wem soll ich eigentlich Befehle annehmen? Von der Präfektur bekommen wir keine. Ich weiß nicht, was ich machen soll, und dabei werden so viele Verbrechen begangen! Jeder macht, was er will. Hoffentlich kommt die Revolution bald, so kann es nicht weitergehen."

Die allgemeinen Wahlen näherten sich. Gewählt wurde nach dem Verhältniswahlsystem auf Grund von Provinzlisten. Die Provinz Cuneo hatte einen harten Kampf zu bestehen. Sie war überwiegend bäuerlich und klerikal und obendrein für Giolitti. Dieser war Neutralist gewesen. Die Bauern wussten das. Obwohl er sich später auf den Boden der Tatsachen gestellt und die Toten von Libyen auf dem Gewissen hatte, machte er sich diese Lage stillschweigend zunutze.
Damals arbeitete ich mehr für den Provinzialverband als für die Kunden in meinem Laden. Ich war in allen Ecken der Provinz. Die Begeisterung war unbeschreiblich. Die klerikale und kleinbürgerliche Provinz Giolittis erwachte, und diese Begeisterung trug mir hübsche Erfolge ein.
Einmal musste ich in Crava, einem kleinen Dorf, zu den Bauern sprechen. Im allgemeinen sprach man im Freien, aber an diesem Tage regnete und schneite es, und dazu kam ein sehr unangenehmer Wind. Die Eisenbahn ist sehr sparsam, nicht weil die Fahrkarte wenig kostete, sondern weil sie mit drei Kilometer Geschwindigkeit durchs Land fuhr. (Über diese Strecke gibt es eine Anekdote. Ein Bauer war unterwegs, als der Zug langsam an ihm vorüberrumpelte. Der Lokomotivführer fragte den Bauern, ob er einsteigen wolle. Der Bauer soll erwidert haben: „Nein, danke, ich habe es eilig!") Nach der Spazierfahrt begaben wir uns vom Bahnhof zum Dorfplatz. Dort erwarteten uns viele Bauern, die in den Haustoren und in den Gasthäusern Schutz gesucht hatten.
„Was sollen wir tun, wir können doch bei solchem Wetter nicht im Freien bleiben?" fragten viele von ihnen.
Ein älterer Bauer warf ein:
„Warum bemüht man sich nicht um die Brüderschaftskirche?" Das war eine kleine Kirche, die nur zu den großen Festen geöffnet wurde. „Der Volkspartei ist sie bewilligt worden!"
Der Vorschlag gefiel den Bauern. Mit den Führern der Ortsgruppe und den Veteranen begaben wir uns zum Gemeindehaus. Es war an einem Feiertag. Der Gemeindevorsteher empfing uns, denn wir hatten eine sozialistische Minderheit im Gemeinderat.
„Was wünschen Sie?" fragte er liebenswürdig.
„Wir haben, wie Sie wissen, eine Versammlung einberufen. Auf dem Platz kann man aber nicht sprechen. Könnten Sie uns nicht einen Saal bewilligen?" sagte der Sekretär der Ortsgruppe, ein Maurer.
„Wir haben keine Räume frei. Die Schulen sind besetzt", antwortete der Gemeindevorsteher.
„Dann geben Sie uns doch die Brüderschaftskirche!"
„Was soll denn das heißen? Sie als Sozialisten wollen in der Kirche sprechen?"
„Entschuldigen Sie", erwiderte der Sekretär, „Sie haben die Kirche einer anderen politischen Partei, der Volkspartei, zur Verfügung gestellt. Stimmt das oder nicht?"
„Das stimmt, aber mit denen ist es eine andere Sache, die sind doch eine katholische Partei. Ihnen gebe ich die Brüderschaftskirche nie."
Wir diskutierten eine Weile, aber er ließ sich nicht umstimmen. Zunächst gab es ein großes Geschrei, dann beruhigten sich die Bauern allmählich und entfernten sich. Drei oder vier von uns diskutierten mit dem Gemeindevorsteher weiter, aber der blieb bei seiner Entscheidung.
Schließlich sagte der Sekretär zu mir:
„Komm, gehen wir, es ist nichts zu machen."
Ich war ein wenig überrascht über seinen bereitwilligen Verzicht.
„Wir wollen uns beeilen, denn die Kirche ist schon voll von Leuten, die uns erwarten", meinte er lachend.
Was war geschehen? Während wir diskutierten, hatte ein alter Genosse von der Darlehnskasse die allerbeste Lösung gefunden. Er ging zum Küster und sagte ihm: „Gib mir den Schlüssel zur Kirche, Befehl des Gemeindevorstehers." Der Küster dachte auch nicht einen Augenblick an einen Schwindel und gab ihm den Schlüssel. Die Kirche wurde geöffnet und füllte sich im Handumdrehen mit Bauern.

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