Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik
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Ganz allmählich wurde der Verein umgeformt. Es gab auch Widerstand, aber im Grunde konnten wir uns fast immer durchsetzen, vor allem dank der Gleichgültigkeit aller der Kleinbürger, die diesem „Familienverein" angehörten. Auch als die Schüsse in Sarajewo — der so genannte Funke, der den Kriegsbrand entfachte — krachten, hörten die Vereinsmitglieder sich mit Vergnügen einen Vortrag gegen den Krieg an, den ein sozialistischer Abgeordneter hielt. Viele von ihnen wurden, da sie vom Kriegsdienst befreit waren und als Lieferanten anderer Heereslieferanten zu Hause bleiben durften, „Durchhalter" und wilde Sozialistenfresser. Ursprünglich fanatische Giolittianer, wurden sie später zu Bewunderern Bissolatis, der im Parlament damit drohte, die Sozialisten erschießen zu lassen. Giolitti wurde von ihnen in die Rumpelkammer verwiesen. Die Zeit vom August 1914 bis zum 23. Mai 1915 war eine der bewegtesten Zeiten (ich denke bei diesem Ausdruck an den dauernden plötzlichen Meinungsumschwung hei Personen und Parteien, hei den Regierungen und hei der Monarchie), die man sich in der Geschichte des „Gartens Europas" vorstellen kann. So erlebten wir es, dass die „Idea Nazionale", das Organ der Nationalisten, mit lauter Stimme die Notwendigkeit der Intervention auf der Seite Deutschlands und Österreichs verkündete, die mit Italien den „Dreibund" bildeten, um wenige Monate später zu erklären, wir müssten unbedingt auf der Seite Frankreichs, Englands und Russlands in den Krieg eintreten. Dreihundert Abgeordnete, die Mehrheit des Parlaments, stimmten der Neutralitätspolitik Giolittis zu, und wenige Tage danach erklärte das Parlament sich für den Kriegs eintritt. Mussolini verfasste im Auftrage der Sozialistischen Partei Italiens das Manifest gegen den Krieg und wurde wenige Monate später zum Kriegshetzer. Wer weiß, was in der Sozialistischen Partei Italiens geschehen wäre, wenn wir nicht noch neun Monate — vom August 1914 bis zum Mai 1915 — Zeit zum Überlegen gehabt hätten, sondern eines schönen Tages im Kriege erwacht wären und obendrein mit Mussolini und Turati in der Partei! Der erste wollte die Partei im Sinne der Vandervelde und Herve führen, der zweite predigte nach Caporetto die Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung. Die Losung Lazzaris „Weder mitmachen noch sabotieren", mit der die Sozialistische Partei zum Kriege Stellung nahm, konnte uns am wenigsten imponieren. Die Monarchie ging vom Dreibund zur Entente über, und der König war nicht mehr König, nicht einmal dem Namen nach. Zum Generalstatthalter des Königs wurde der Herzog von Genua, ein kindischer Tropf, und zum Oberkommandierenden der Armee der frömmlerische und reaktionäre General Cadorna ernannt, ein berüchtigter Soldatenschinder, von den Faschisten verachtet und später zum Marschall von Italien ernannt. Sein Hauptratgeber war der Vatikan, der sich seines Beichtvaters und der Feldgeistlichen bediente. Die interventionistischen Priester an der Front und die Neutralisten in den ländlichen Kirchspielen bildeten die Clique, der Cadorna gehorchte. Die Sozialistische Partei Italiens rief die Massen zum Protest gegen den Krieg auf. Zahlreiche Demonstrationen fanden statt. Wenn Mussolini gelegentlich den Mut hatte, sich bei öffentlichen Versammlungen sehen zu lassen, wurde er ausgepfiffen. Aber auf die Halbinsel wurde ein ganzes Heer von Propagandisten losgelassen. Sozialistische Versammlungen wurden verboten, und viele Sozialisten wurden ins Gefängnis geworfen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Cesare Battisti, den sozialistischen Abgeordneten für Trient, kennen, der Interventionist geworden war. Er reiste durch Italien und veranstaltete Kundgebungen für die Befreiung von Trient und Triest. Er geriet später in österreichische Gefangenschaft und wurde erhängt. Im Theater von Cuneo wurde er eine Viertelstunde lang ausgepfiffen. Ich war ihm im Zuge begegnet mit einem demokratischen Rechtsanwalt, einem Millionär, der ihm erklärte: „Sie werden sehen, Herr Abgeordneter, wie das patriotische Cuneo Sie empfangen wird." Battisti hörte zerstreut zu. Er schien müde und niedergeschlagen. Vielleicht hatte er begriffen, wohin sein Idealismus geführt hatte, vielleicht sah er im Geiste schon die Bande, die ihn umringte. Dann meinte er: „In Brescia und Bologna bin ich ausgepfiffen worden!" Der Empfang in Cuneo war nicht anders. Mussolini, der nach einer Sitzung des Parteivorstandes aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen worden war, hatte mit ganzen fünf Lire eine Zeitung gegründet! Nach seiner Darstellung war er mit fünf Lire in der Tasche aus dem „Avanti" ausgeschieden. Die Millionen der Bank von Frankreich ermöglichten ihm das Wunder. Er eröffnete eine wilde Kampagne gegen Serrati, der die Leitung des „Avanti" übernommen hatte. Er verbreitete Lügen über Serratis Kämpferleben in Amerika und klagte ihn des Mordes an. Serrati, dessen ereignisreiches politisches Leben mit der Gefängnishaft in Oneglia begonnen hatte, der die Deportation und die Emigration in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten kennen gelernt hatte, der Journalist, Dienstmann, Schiffsjunge, Propagandist gewesen war, der Zeitungen und Organisationen gegründet und die Kerker der verschiedensten Länder erlebt hatte, überall im Kampf gegen die Bourgeoisie, dieser ehrliche, gute, beharrliche und unermüdliche Kämpfer, wurde heimtückisch von demjenigen angegriffen, den er in Lausanne vor dem Hungertode gerettet, den er brüderlich und selbstlos unterstützt hatte, von Mussolini. Auch Bacci und Lazzari, die mit Serrati für das Parteiorgan verantwortlich zeichneten, wurden von dem Renegaten in der heftigsten Form angegriffen. Der „Popolo d'Italia", der sich im Untertitel eine „Sozialistische Tageszeitung" nannte, wurde natürlich zur Tribüne des interventionistischen Antisozialismus. Später wurde der Untertitel in „Tageszeitung der Schaffenden und der Frontkämpfer" geändert. Dann verschwand auch dieser Untertitel! Im August 1914 rollten in der Provinz Cuneo nach den alten Festungen an der französischen Grenze jeden Tag Züge mit Geschützen, Munition und Truppen. Einige Monate danach wurden die Festungen geräumt! Die Geschütze mit der Munition und den Truppen wurden nach Venezien dirigiert. Am 23. Mai 1915 trat Italien in den Krieg ein. Musik, Fahnen, Reden ... Krieg! Jeden Tag gingen neue Truppen an die Front, wurden neue Jahrgänge einberufen. Jeden Tag musste ein Genosse einrücken. Die Organisationen lösten sich auf. Zu Hause blieben die Invaliden und die Frauen. Unsere Ortsgruppe zählte nur noch wenige Mitglieder. Die Freigestellten — Arbeiter von Fabriken, die für das Kriegsministerium arbeiteten — riskierten aus Furcht, an die Front geschickt zu werden, kein Wort mehr. Die hitzigsten Interventionisten bezogen fast alle Druckposten. Facharbeiter gingen an die Front; Rechtsanwälte, Apotheker, Priester wurden unabkömmlich. Arbeiter und Bauern mussten ihr Heim verlassen. Immer wieder trugen die Einberufungsbefehle Trauer in die Familien. Die Not wurde täglich größer, das Brot wurde immer dunkler. Alle Tage gab es Musik, Fahnen und Berichte, die von neuen Niederlagen des Erzfeindes sprachen! Immer nur Siege, Siege und geringe Verluste. Zensur, Konzentrationslager, Internierungen, Sondergesetze, Verhaftungen, Verurteilungen ... Züge mit jungen Menschen gingen jeden Tag ab, und jeden Tag trafen Lazarettzüge mit Tragbahren und Krüppeln ein, gingen lange Reihen von Gefesselten an die Front ab — die Deserteure! In den Zügen, in den Cafes, auf der Straße, auf dem Lande, überall wurden die Papiere verlangt, und jeden Tag wurde ein neuer Jahrgang einberufen. Während des Krieges wurde ich sechsmal zur Musterung befohlen. Man wollte mich um jeden Preis haben. Trotz ihrer Beschränktheit und trotz unserer Knebelung war unsere Tätigkeit gefährlich. Unsere Zeitungen erschienen mit großen weißen Flecken. Ich war Sekretär des Gewerkschaftsverbandes geworden, der stark zusammengeschrumpft war. Die Postzensur erschwerte den brieflichen Verkehr. Gute Dienste leistete mir mein Fahrrad, aber oft wurde ich unterwegs angehalten und zurückgeschickt. Nach den entfernteren Ortschaften musste ich die Eisenbahn benutzen. Das war sehr schwierig. Wenn ich durchkam, erwischten sie mich am Ort, und ich erhielt nach einigen Tagen Gefängnis im günstigsten Falle einen Zwangspaß (Anm.: Pass mit vorgeschriebener Reiseroute. ), und dies bedeutete eine endlose Strafpredigt seitens des Kommissars. Wenn ich dagegen auf einen schlechtgelaunten Postenkommandanten stieß, wurde ich in der üblichen Weise zurückbefördert. Dann konnte es vorkommen, dass ich, von zwei Carabinieri begleitet, drei Tage für die Rückkehr brauchte. Manchmal war ich von meinem Wohnort vierzig bis fünfzig Kilometer entfernt, und ich musste die Strecke auf Nebenlinien in Etappen zurücklegen, so dass ich tagelang auf Anschluss warten musste. Den seltenen Tagungen des Exekutivausschusses wurden alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt. Der durch die Zensur bedingte Mangel an Nachrichten isolierte uns völlig. Den Soldaten war es unter Androhung von Arrest und Gefängnis oder Abschiebung an die Front verboten, meinen Laden zu betreten, wie es schon während des Krieges in Libyen der Fall gewesen war. Die Anordnung war in allen Kasernen angeschlagen. Die Soldaten kamen trotzdem, sehr oft, um ihren Beitrag für die Zeitung zu entrichten, dann wieder, um sie zu lesen und mich über alle Vorgänge in der Kaserne zu informieren. Trotz aller Bemühungen der Spitzel blieb ich weiter in Verbindung mit den Soldaten. Die Rundschreiben des Verbandes und die Parteimitteilungen wurden sogar von unseren Genossen mit den Schreibmaschinen des Militärkommandos angefertigt. Anfänglich waren unsere bekanntesten Genossen direkt an die Front geschickt worden, dann aber bekam man Angst vor ihnen und schickte sie zu den Stäben, um sie besser überwachen zu können. So erhielten sie Vertrauensposten bei den Stäben, und ich konnte über gute Maschinenschreiber und hervorragende Nachrichtenlieferanten verfügen. Im Anfang des Krieges erlebte ich eine Forderung zum Duell! Eines Abends war ich auf dem Wege nach Hause, als ich drei oder vier Soldaten begegnete. Sie sollten an die Front abgehen. Sie waren ein wenig angeheitert und sangen ein piemontesisches Volkslied. Der Refrain, den ein einzelner sang, hatte aber mit dem Liede nichts zu tun, er stammte aus einem boshaften Spottlied von den Drückebergern. „Wir werden uns bewaffnen und ihr—fahrt an die Front!" Dann sangen alle im Chor: „Es lebe der Bürgerstand!" Sie wollten wieder Zivilisten werden. Sie erkannten und umringten mich: „Hoch der Sozialismus! Es lebe der Bürgerstand! Vielleicht müssen wir auf die Schlachtbank, wie die Ziegen. Wir können ja nichts dagegen tun, verdammt noch mal! Die Österreicher sollen wir totschlagen! Weiß Gott, ich würde gern die Italiener totschlagen. Nicht Sie..." — an mich gewandt. „Ich weiß schon, wen ich gern totschlagen würde ... Ich muss meine schwangere Frau verlassen. Wahrhaftig, 65 Centesimi täglich soll sie kriegen... Verfluchter Geiz! Verdammt noch mal! Wir werden uns bewaffnen und ihr — fahrt an die Front!" Die anderen erwiderten: „Es lebe der Bürgerstand!" „Ihr müsst also fort?" sagte ich. „Wir sind schon dabei, und Sie bleiben zu Hause. Lieber möchte ich ein Bein haben wie Sie ... Entschuldigen Sie, ich weiß nicht mehr, was ich rede. Es freut mich, dass Sie zu Hause bleiben. Sie haben den Krieg nicht gewollt. Wir werden uns bewaffnen und ihr — fahrt an die Front!" In diesem Augenblick kam ein kriegsbegeisterter Offizier vorbei, der einen Druckposten bei einem Militärgericht hatte. Ich kannte ihn und glaubte, der Held werde sich einmischen. Er ging aber weiter. Die Soldaten verabschiedeten sich lärmend von mir und fingen wieder an zu singen: „Der General Cadorna schrieb an die Königin: Triest möchtest du sehen? Ich schick' dir's auf der Karte hin! Bum, bum, bum — So geht es ringsherum." Dann kam wieder: „Wir werden uns bewaffnen und ihr—fahrt an die Front!" Am nächsten Morgen war ich im Laden damit beschäftigt, die Spiegel zu putzen und mit einigen Müßiggängern zu plaudern, von denen es in der kleinen Stadt wimmelte, als zwei Offiziere in der Tür erschienen. Beide waren in großer Uniform mit weißen Handschuhen. Einer war aus dem Ort und als Interventionist in einer Fabrik untergebracht, der andere gehörte zur Garnison. „Guten Tag", sagte ich. „Bitte sehr, ich stehe zur Verfügung." Natürlich dachte ich dabei an mein Handwerk. „Sie wissen, worum es sich handelt", sagte einer von ihnen. „Ich denke rasieren oder die Haare schneiden oder alles beides", erwiderte ich. „Machen Sie keine Witze", antwortete der, der bereits gesprochen hatte. „Sie wissen, worum es sich handelt. Wir kommen im Auftrage des Herrn Leutnants, den Sie gestern abend beleidigt haben, und verlangen Genugtuung von Ihnen. Wenn sie widerrufen, ist es gut, andernfalls verlangt unser Mandant eine Entscheidung mit den Waffen." Das alles sagte er in einem Atemzuge und starrte mir dabei ins Gesicht. Seine eine Hand lag am Degenknauf, mit der anderen presste er eine Rolle Papier an sich. Der Auftritt war hochinteressant. Auf der einen Seite stocksteif die beiden Helden, ihrer Mission als Sekundanten tief bewusst, auf der anderen ich mit dem Wischlappen in der Hand, verdutzt und mir nur mit Mühe das Lachen verbeißend, weil ich zu begreifen begann. Die beiden waren von dem Offizier geschickt worden, der am Abend vorher das „Wir werden uns bewaffnen und ihr — fahrt an die Front!" gehört hatte und die Beleidigung mit Blut abwaschen wollte! „Hier ist eine Widerrufungserklärung." Mit diesen Worten reichte er mir die Rolle Papier. Da ich wieder angefangen hatte, den Spiegel zu putzen, erklärte der Offizier, ohne die Rolle Papier zurückzuziehen: „Wenn Sie vor dem Duell Angst haben, unterzeichnen Sie die Widerrufungserklärung!" „Lassen Sie sich sagen, meine Herren, dass ich nicht unterzeichne und mich auch nicht duelliere. Ich habe anderes zu tun. Ihr Freund — es ist mir jetzt klar, dass er gestern abend Angst gehabt hat — hätte besser daran getan, stehenzubleiben und die Beleidigung sofort mit Blut abzuwaschen. Dies zu Ihrer Bemerkung über meine Angst. Ich glaube, der Vers von gestern abend hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Natürlich ist es bequemer, sich mit mir zu duellieren, als an die Front zu gehen. Hier ist das Kriegführen einfacher als im Karst." Die beiden waren fassungslos. Bei ihrer Ehrauffassung konnten sie es nicht verstehen, dass jemand ein Duell ablehnte. Sie waren auch noch sehr jung und gehörten zu den Offizieren, die, wie man damals sagte, en gros fabriziert wurden. Meine Beleidigungen bemerkten sie gar nicht. „Ist das Ihr letztes Wort?" fragten sie. „Gewiss, und sagen Sie Ihrem Mandanten, dass er an die Front gehen soll." „Vielleicht haben Sie die beleidigenden Äußerungen gestern abend nicht getan? Vielleicht hat einer von den betrunkenen Soldaten ..." „Diese Soldaten gehen schon an die Front und brauchen keine weiteren Empfehlungen ... Was die so genannten beleidigenden Äußerungen betrifft, so stellen sie nur eine Tatsache fest. Weiter habe ich nichts zu bemerken." Die Müßiggänger und einige andere Kunden, die inzwischen gekommen waren, lachten. Wieder die beiden Sekundanten noch den ersten Offizier, der nicht einmal den Mut hatte, die Angelegenheit, wie es bei Ehrenhändeln üblich ist, öffentlich bekannt zu geben, habe ich, wenigstens in meinem Laden, jemals wieder gesehen. Es war sehr schwierig, Nachrichten zu erhalten, nicht nur über die Vorgänge an den Fronten überhaupt, sondern vor allem über die italienische Front. Die Berichte des Oberkommandos schilderten den Verlauf der Kämpfe aus der Sicht von Mailand oder Rom, sprachen von der Barbarei der Österreicher und der Deutschen und von der lateinischen Kultur. Die Skandale bei den Kriegslieferungen wurden nicht aufgedeckt. Man munkelte von Lieferungen an die Regierungen der Mittelmächte über die Schweiz oder durch Vermittlung Spaniens. Überall sprach man auch von Massenerschießungen kriegsmüder Soldaten, und es war auch bekannt, dass die Zahl der Deserteure sehr erheblich war, so dass in Süditalien angeblich ganze bewaffnete Banden ihr Wesen trieben. Und die Not wurde immer größer. Mehr als ein Jahr war vergangen. Wer vom Frieden sprach, war ein „Defätist", und die Mindeststrafe für Defätisten betrug drei Jahre Zuchthaus. Wann wird das ein Ende nehmen? Es muss ein Ende gemacht werden ... Die Interventionisten in den Cafes nahmen heute Gorizia, morgen Triest oder die Höhe 140, fanden aber niemals den Weg an die Front. Jeden Abend sah man sie vor einer Karte des Kriegsschauplatzes damit beschäftigt, Truppenverschiebungen vorzunehmen. Sie operierten mit Armeekorps und ganzen Armeen, als wären sie Cadorna in Person. Wehe denen, die von Frieden sprachen. Sie wurden als Deutsche, Österreicher, Verräter, Feiglinge, Sozialisten und Pazifisten beschimpft. Geschäftsleute, die sich früher gerade durchgeschlagen hatten, sprachen von Tausendlirescheinen, als ob es sich um Lirascheine gehandelt hätte. Man brauchte nur Tausendlirescheine, um den Zucker, die Butter und das Weißbrot, die auf Karten nicht zu haben waren, in Hülle und Fülle zu bekommen. Auch Mussolini musste ins Kampfgebiet. Sein Abgang an die Front wurde laut ausposaunt, aber er kehrte bald zurück, um an der „inneren Front" zu kämpfen. Man erzählte sich, er sei in der Etappe verwundet worden. Nach seiner Wiederherstellung ließ er es nicht noch einmal darauf ankommen. Es kämpfte sich bequemer in Mailand, in der Redaktion des „Popolo d'Italia", oder auf eleganten Gesellschaften gegen die Sozialistische Partei Italiens, gegen einen Feind, der niedergeworfen, gefesselt und mundtot gemacht worden war. Der „Avanti" schien erledigt zu sein, aber er war begehrt, wurde gelesen und kommentiert. Die Reformisten im Allgemeinen Gewerkschaftsbund saßen in den Ausschüssen zur wirtschaftlichen Mobilisierung, in denen die Interessen der Arbeiterklasse so verteidigt wurden, wie es bei dieser Art von Zusammenarbeit immer der Fall ist. Die Löhne hatten durch die enorme Steigerung der Lebenshaltungskosten immer mehr an Kaufkraft verloren, und die freigestellten Arbeiter wagten es aus Furcht, an die Front geschickt zu werden, nicht, sich zu beklagen. Ich erinnere mich, dass ein sehr befähigter Facharbeiter aus der Metallindustrie es eines Tages ablehnte, die Zahl der Stücke, die er anfertigte, zu erhöhen. Er wurde in das Büro des Kontrolloffiziers gerufen. „Sie sind der Arbeiter soundso?" fragte der Leutnant. „Hier ist der Befehl, dass Sie sich morgen auf dem Bezirkskommando zu melden haben." „Aber ich bin doch freigestellt." ,;Die Firma braucht zuverlässige Arbeiter und nicht solche widerspenstigen Burschen wie Sie. Wir müssen den Krieg gewinnen. Jeder muss Opfer bringen, aber Sie sind anscheinend nicht zufrieden mit Ihrer bevorzugten Stellung." Der Arbeiter ging mit dem Einberufungsbefehl in der Hand. Am nächsten Tage war er schon eingekleidet. Er ging an die Front und kehrte nicht zurück. Gegen Mitte September 1915 traf der „Avanti" einige Tage nicht ein, nicht einmal zensiert. Sicherlich steckte etwas Ernstes dahinter. Ich erfuhr es bald. Eines Morgens kam ein Eisenbahner zu mir. Als er mit mir im Laden allein war, sagte er: „Ich bin Genosse, ich komme aus Turin und habe dir ein Paket zu übergeben." Er zeigte mir ein Papier und übergab mir das Paket. Es waren Flugblätter. Ich las. Es war der Aufruf der Konferenz von Zimmerwald. Ich machte einen Freudensprung. Es wurde also gearbeitet. Die Kontakte waren wiederhergestellt. Der Verrat der sozialistischen Führer hatte den Geist der Solidarität nicht ersticken können. Ich war glücklich. „Du musst sie an alle Ortsgruppen verteilen. Wenn du kannst, schicke sie vorsichtig mit der Post auch an die Front. Ein paar werden schon ankommen." Ich schwang mich auf mein Rad und war ziemlich lange unterwegs. Es gelang mir, mich nicht erwischen zu lassen. Innerhalb weniger Tage verteilte ich mit Hilfe der Genossen aus anderen Orten nicht nur die wenigen Flugblätter, die ich vom Parteivorstand erhalten hatte, sondern auch eine Neuauflage. Mit Hilfe der Schreibmaschinen des Militärkommandos fertigten wir auf dünnem Papier einige hundert Exemplare an, um sie mit der Post an die Front zu schicken. Nach vollbrachter Arbeit erschienen die Polizeispitzel, um meinen Laden und meine Wohnung zu durchwühlen. Natürlich fanden sie nichts. Das Manifest machte gewaltigen Eindruck. Die Arbeiter lasen es heimlich, die Soldaten auch, und es ging von Hand zu Hand. Dann und wann landete einer im Gefängnis. Ich wurde natürlich „sistiert". Die „Sistierung" ist eine besonders lustige Erfindung der Polizei. Der „Sistierte" hat keinerlei Rechte. Die „Sistierung" wird immer aus Gründen der öffentlichen Sicherheit angeordnet. Man kann ziemlich lange auf der Wache sitzen, ohne verhört und angeklagt zu werden. Dann wird man ohne Erklärungen nach Hause geschickt. Für mich wurde die „Sistierung" zum ersten Mal bei dieser Gelegenheit angeordnet. Später wurde ich verhört. Der Kommissar war wütend. Er beschimpfte mich als Türken. „Sie wollen nicht aufhören. Ich werde dafür sorgen, dass Sie sich die Sonne eine Weile durch Gitter betrachten können." Ich wartete auf das Ende seiner Predigt. „Sie werden mich noch dahin bringen, dass ich bestraft werde!" Dann fuhr er in verändertem Ton fort: „Man muss es zugeben, ihr seid zu schlau. Jetzt ist es einmal passiert, Sie können nicht mehr verurteilt werden und brauchen sich keine Sorgen zu machen. Aber sagen Sie mir doch, woher diese verdammten Flugblätter gekommen sind." „Mich fragen Sie das? Ich habe sie nicht einmal gesehen ..." „Stellen Sie sich nicht dumm!" Er wurde wieder wütend: „Sie werden noch erleben, dass Sie interniert werden, das sage ich Ihnen." Damit schickte er mich nach Hause. Sie waren zu wiederholten Malen eingetroffen: abgerissen, müde und ausgehungert. Als ich zufällig einmal einen langen Transport ankommen sah, hatte ich den Eindruck, es sei ein Viehtransport. Es war aber ein Zug mit Gefangenen! Sie waren in Viehwagen — acht Pferde und vierzig Mann — eingesperrt und fuhren seit Tagen von der Front in die abgelegensten Dörfer der Halbinsel. Niemals habe ich trotz der giftigen Propaganda einen Arbeiter oder eine Frau gesehen, die die „feindlichen" Soldaten beschimpft hätten — niemals! Gebeugt und müde zogen sie durch die Straßen der Stadt, Neben ihnen gingen, mit Bajonetten bewaffnet, einige wenige Landsturmleute, die an der Front nicht zu gebrauchen waren. Die „Sieger" und die „Besiegten" hatten dieselbe Gangart, dieselbe erschöpfte Miene, dieselben zerrissenen Kleider und Schuhe, den gleichen Hunger und den gleichen leeren Blick. Nach Fossano kamen einige Tausend. Untergebracht wurden sie in einer ehemaligen Pulverfabrik, in der das Regiment berittener Artillerie einquartiert gewesen war. Sie wohnten in Holzbaracken. Für ihre Arbeit erhielten sie ein bisschen Schwarzbrot und eine dünne Suppe. Wir konnten nur wenig für sie tun. Die italienischen Soldaten wurden streng bestraft, wenn sie dabei überrascht wurden, dass sie mit den „Feinden" sprachen oder ihnen halfen. Dazu kam die Sprachenfrage, denn es waren Österreicher, Ungarn, Kroaten und Bulgaren. Einmal veröffentlichte ich einen Nachruf auf einen kroatischen Soldaten, der in Fossano gestorben war. Mussolini schrieb im „Popolo d'Italia" — das Blatt bestand zu vier Fünfteln aus Polemik gegen die Sozialisten — einen wilden Artikel gegen den Nachruf, der in unserer Wochenzeitung erschienen war, und natürlich wurde dieser Artikel von allen interventionistischen Organen übernommen. Unter diesen Umständen war es sehr schwierig, mit den Unglücklichen Verbindung aufzunehmen. Es gelang uns trotzdem, und wir fanden auch ein Mittel, um die Sprachenfrage zu lösen. Für die deutschsprachigen Gefangenen benutzten wir einen Übersetzer und eine Schreibmaschine, für die anderen einen Übersetzer und einen Abziehapparat. Der Garnisonskommandant und die Regimentskommandeure waren eingefleischte Reaktionäre. Da Cadorna sie an der Front nicht gebrauchen konnte, hatte man sie den Ersatzregimentern zugeteilt. Der Kommandeur des Artillerieregiments war ein richtiger Tyrann. Wegen der geringsten Kleinigkeit ließ er die Leute prügeln. Als ich Berichte über einige seiner Ungeheuerlichkeiten veröffentlichte, die die Zensur — bestimmt aus Versehen — durchgehen ließ, geriet er geradezu in Raserei. Einmal ließ er einen Soldaten, der sich seiner Meinung nach seit vielen Tagen krank stellte, strafexerzieren, und der Soldat starb dabei. Ein andermal verlangte er trotz nebligen Wetters, dass ein Soldat an der Zielscheibe die Treffer markierte. Der Mann wurde von einer Kugel getroffen. Er wollte, dass ich ihn aufsuchte, und schickte mir einen schriftlichen Befehl. Diesen wagte ich zu veröffentlichen. Daraufhin verlangte er eine Widerrufungserklärung. Als er die Flugblätter in deutscher Sprache und in anderen Sprachen entdeckte, geriet er in Wut und ärgerte sich furchtbar über mich. Er ahnte nicht einmal, dass die „Arbeit" in seinen Büros geleistet wurde! Ich wurde aufs Kommissariat bestellt, und man zeigte mir einige mit der Schreibmaschine und dem Abziehapparat hergestellte Flugblätter. „Sie wissen doch davon, nicht wahr?" Ich nahm die Blätter und betrachtete sie. „Wer kann denn das verstehen? Was ist das für eine Sprache?" erwiderte ich. „Wir wissen alles, es hat keinen Zweck, Theater zu spielen. Sie schreiben das, und irgend jemand übersetzt es." Tiefes Schweigen. Ich sagte weder Ja noch Nein. Ich wartete ab. „Wenn Sie im Kampfgebiet wären, würde dies für sechs Kugeln ins Genick genügen. Hier werden Sie mit einigen Jahren Zuchthaus davonkommen." „Das ist ja ganz schön, aber wer beweist Ihnen, dass ich ein Verbrechen begangen habe, auf das Erschießung oder Zuchthaus steht?" „Wir wissen alles, Sie fühlen sich zu sicher. Die andern reden, und Sie werden dafür büßen." Schließlich aber, da der Trick nicht zog, schickte man mich nach Hause. Die armen Gefangenen verkauften alles, was sie hatten, um sich ein bisschen Brot zu kaufen, nämlich ihre Kriegskreuze und Tapferkeitsmedaillen. Es waren mehrere Tausend. Wir konnten ihnen nicht helfen. Wir prangerten die Rechtsbrüche und die Misshandlungen an, wir machten ihnen Mut mit unseren Flugblättern. Mit einigen von ihnen hatten wir mehrfach Gespräche. Dieser und jener sprach schon ein bisschen Italienisch. Viele starben. Die zur Überwachung der Unglücklichen bestimmten italienischen Soldaten verbrüderten sich mit ihnen und halfen ihnen trotz der Drohungen der Vorgesetzen. Einmal wohnte ich einem sehr bezeichnenden Auftritt bei. Ein italienischer Soldat, der natürlich ein Gewehr trug, begleitete einen Gefangenen, der mit einem schweren Bündel beladen war. Der Gefangene, ein schon älterer Mensch, gab sich sichtlich Mühe, seine Last zu schleppen. Der andere, ein jüngerer Soldat, sah, wie er sich quälte, und bot ihm seine Hilfe an. Ich bemerkte den dankbaren Blick des abgerissenen und abgezehrten Österreichers. Aber zu zweit war es noch schwieriger. Da blieb der italienische Soldat stehen und sagte: „Trage du mein Gewehr, ich nehme das Bündel, für mich allein ist es weniger anstrengend als für uns beide zusammen." Nun schritt also der italienische Soldat unter der Last gebeugt dahin, und der bewaffnete Feind ging neben ihm. Ich sah mir das lange an. Es war der bösartigen Propaganda der Offiziere und der Presse nicht gelungen, die Sieger gegen die Besiegten aufzuhetzen. Ein andermal wurde einem italienischen Soldaten, der zwei Österreicher bei der Arbeit beaufsichtigte, übel, und er brach totenbleich zusammen. Die beiden Österreicher eilten zu ihm und schafften ihn dann, als ihre Bemühungen sich als zwecklos erwiesen, in die Kaserne. Einer der Gefangenen, der zur Arbeit aufs Land geschickt worden war, heiratete zur größten Entrüstung der hundertprozentigen Patrioten eine Italienerin! Frieden! Frieden! Das war die Hoffnung aller, der „Sieger" und der „Besiegten". Dieses Wort war so verdächtig, dass es eines Abends zu einem Vorfall kam, den die Behörden für sehr bedenklich hielten und der mich natürlich auf die Polizei brachte. Manchmal ging ich in das Kino eines Bekannten, und um mich nicht zu sehr zu langweilen, bediente ich das Pianola. Nach einem patriotischen Vorfilm lief einer der üblichen Liebesfilme. Zwei Männer waren in eine Frau verliebt, und es drohte eine Tragödie zwischen den beiden, als sie durch einen glücklichen Zufall erfuhren, dass die Frau sich nicht mit den Beziehungen zu ihnen begnügte, sondern noch einen dritten Liebhaber hatte! Bevor die beiden sich im letzten Bild in die Arme sanken, erschien auf der Leinwand, wie vor jeder Szene, der übliche erklärende Text. Diesmal lautete er: „Der Friede ist geschlossen!" Gemeint war natürlich der Friedensschluss zwischen den beiden Rivalen. Ich bediente das mechanische Klavier, ohne allzu sehr auf den Film zu achten. Was nun in dem Saal geschah, kann ich nicht erklären. Alle schienen verrückt geworden zu sein. Das Publikum, das zum größten Teil aus Soldaten bestand, brach einstimmig in den Ruf aus: „Es lebe der Friede! Wir wollen Frieden!" Niemand achtete mehr auf den Film. Der Vorführer stellte seine Tätigkeit ein und machte Licht. Die auf den Bänken des dritten Platzes stehenden Soldaten brüllten wie besessen. Die Zuschauer auf dem ersten Platz waren überrascht und machten sich heimlich davon. Die beiden diensttuenden Polizisten wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten, und hatten sich entfernt. Natürlich wurde eine Untersuchung eingeleitet. Die Soldaten bekamen am nächsten Abend Kasernenarrest. Die Sache musste geklärt werden, und das ging sehr schnell. Schuld an dieser plötzlichen Demonstration im Anschluss an den fatalen Text konnte nur ich sein, als man erfuhr, dass ich das Pianola bedient hatte! Es ist unglaublich, aber wahr: Man begnügte sich nicht damit, mich zur Rechtfertigung auf die Polizei zu bestellen, sondern man drohte auch dem Kinobesitzer mit der Entziehung seiner Lizenz, wenn er mir nicht verbieten würde, noch einmal das Pianola zu bedienen. Gerade in diesen Tagen erhielt ich eine Vorladung zur Musterung. Es war schon die dritte oder vierte. Ich verfügte mich in das Divisionslazarett. Der große Raum stank nach Karbolsäure und Unrat. Im Hintergrund saß die internationale militärärztliche Kommission, bestehend aus einem italienischen Oberstabsarzt, einem französischen Offizier und einem englischen Sanitätsoffizier. Welch trostloser Anblick! Bucklige, Krüppel, Bruchkranke, Idioten und Rachitiker, die früher schon gemustert und für untauglich erklärt worden waren, wurden für tauglich erklärt. Man brauchte kein Arzt zu sein, um sie alle nach Hause zu schicken. Als ich an die Reihe kam, legte man mich auf einen mit Wachstuch bedeckten Tisch, maß die Länge meiner Beine und meinen Brustumfang und untersuchte meine Zähne ... Der französische Arzt, ein Major, beobachtete die peinlich genaue Untersuchung, die der Italiener an mir vornahm. „Mir scheint", sagte er auf französisch, „er kann unbedenklich für untauglich erklärt werden." Der Italiener antwortete in schlechtem Französisch: „Das weiß ich auch, aber es liegen besondere Anweisungen vor. Ich will keinen Ärger haben." Der Engländer hatte sich entfernt. „Was für Anweisungen?" fragte ich auf französisch, nicht etwa in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen, sondern nur, um zu sehen, was für ein Gesicht der Oberstabsarzt machen würde. Er warf mir einen vernichtenden Blick zu und sagte: „Halten Sie den Mund!" Schließlich erklärte er resigniert: „Ich bin für untauglich." „Einverstanden", antwortete der Franzose. „All right!" sagte der Engländer. Der Oberstabsarzt wandte sich um und begann zu diktieren : „Untauglich wegen Lähmung des linken Beines und Klumpfußes." Während mein Papier ausgefertigt wurde und ich mich anzog, trat der französische Offizier zu mir. „Sie sind Sozialist?" „Ja", antwortete ich, „warum?" „Nichts, ich habe es mir gedacht. Ich bin auch Sozialist." „Welche Richtung?" fiel ich ihm ins Wort. „Wann fahren Sie?" fragte er mich, ohne auf meine Frage zu antworten. „Heute abend um acht." „Dann können wir zusammen essen." „Warum nicht?" erwiderte ich. Es war um die Mittagszeit. „Raus hier!" brüllte ein Unteroffizier. „Die Papiere werden ab drei Uhr verteilt. Schert euch schleunigst raus, ihr Murmeltiere!" Die zukünftigen Vaterlandsverteidiger wurden hinausgestoßen, manche halb angezogen, manche mit den Schuhen in der Hand. Ich verließ den Raum zusammen mit dem französischen Offizier. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit Spitzbart und Brille. Er rauchte viel, auch beim Essen. „Sie sind also Sozialist?" sagte ich, während der Kellner uns die Suppe brachte. „Ja", antwortete der Offizier, „eingeschriebenes Mitglied, und zwar seit vielen Jahren. Sie auch?" „Ich bin seit 1902 Mitglied, zuerst in der AIA (Anm.: Internationale Antimilitaristische Allianz. ) und jetzt in der PSI (Anm.: Sozialistische Partei Italiens. ). Aber", fügte ich mit deutlicher Ironie hinzu, „Sie sind natürlich für die Verteidigung des Vaterlandes?" Ich sprach schlecht Französisch. Ich konnte zwar Französisch lesen, hatte aber keine Übung im Sprechen. „Selbstverständlich", sagte der französische „Sozialist", „ist es denn anders möglich? Unsere Lage ist ganz ungewöhnlich. Wir und die Belgier sind die Angegriffenen ... Die Haltung der deutschen Sozialisten rechtfertigt uns ..." „Karl Liebknecht...", unterbrach ich ihn. „Der ist ein Held", erwiderte er mir, „aber die deutsche Sozialdemokratie hat die Internationale verraten ..." „Wie ihr französischen Sozialisten, nicht mehr und nicht weniger", unterbrach ich ihn nochmals. „Und ihr italienischen Sozialisten?" forschte er, ohne meine Unterbrechung zu beachten. „Unsere Haltung ist anders als Ihre. Wir haben Mussolini verjagt, statt ihm zu folgen. Ihr habt alle Sozialpatrioten in euren Reihen, ihr habt der Bourgeoisie Minister gestellt. Stimmt das oder nicht?" „Es stimmt, aber ihr habt Zeit gehabt zum Nachdenken." „Das ist richtig." Es wurde ein langes Gespräch, aber der Franzose ging nicht von seiner Haltung ab: „Wir müssen den Militarismus besiegen, um für den Sozialismus arbeiten zu können." „Utopien, mein Herr, Utopien! Wir werden alle geschlagen, mit Ausnahme der Bourgeoisie aller Länder." Wir verabschiedeten uns kühl. Ich ging ins Lazarett zurück. Um mein Papier zu bekommen, schloss ich mich der langen Reihe der Männer an, die ich am Morgen in dem großen Zimmer nackt gesehen hätte. „Jetzt werde ich auch Soldat, nie hätte ich das geglaubt! Achtundvierzig Jahre bin ich. Meine beiden Söhne sind Soldaten, und einer von ihnen liegt im Lazarett, und ich habe einen Bruch, der mir schwer zu schaffen macht." „Sie werden dich operieren und dann an die Front schicken", sagte ein kleiner Buckliger mit lebhaften und spöttischen Augen. „Meinst du?" erwiderte der andere erschrocken. „Ich habe mich absichtlich nicht operieren lassen, um nicht Soldat zu werden." Der Bucklige lachte. „Es ist gar nicht so schlecht an der Front", sagte einer, der an Krücken ging. „Ich habe Mussolinis Tagebuch gelesen." Zwei oder drei unterbrachen ihn: „Dann geh doch in den Krieg!" „Du redest so, weil du keine Angst zu haben brauchst!" „Wenn es nach mir ginge", sagte einer, der eine Brille mit unwahrscheinlich dicken Gläsern trug und dürr wie ein Besenstiel war, „müssten alle in den Krieg, die ihn gewollt haben, und auch alle, die sich einbilden, dass es gar nicht so schlimm ist, auch wenn sie an Krücken gehen." „Damit bist du gemeint!" sagte der Bucklige zu dem Lahmen. „Dann wäre der Krieg bald zu Ende", kreischte ein Zwerg, der mit seinem kleinen Jungen an der Hand zur Musterung gekommen war. „Ihr seid alle Defätisten!" brüllte der Mann mit den Krücken. „Ich würde gehen, wenn ich könnte ... Wenn wir nicht gewinnen, versinken wir alle wieder in Barbarei. Habt ihr gelesen, dass die Österreicher auf die Lazarette vom Roten Kreuz schießen?" „Und weißt du, dass unser Oberkommando in den Lazaretten vom Roten Kreuz Munition lagern lässt?" erwiderte ihm ein Bauer mit einem Kropf, der größer war als sein Kopf. „Das sind Lügen! Das sagen die Defätisten. Du kannst Gott danken, dass hier keine Carabinieri sind." „Du würdest einen guten Spitzel abgeben! Gleich werde ich dir die Birne einschlagen!" Damit ging er auf den Lahmen los. Der war erschrocken. „Aber ich meine dich doch nicht. Du bist betrogen worden." „Angst hast du, du Hundesohn. Vielleicht machst du gute Geschäfte im Krieg." „Oh, nicht doch!" erwiderte der andere beleidigt. „Dann bist du ein Idiot", erklärte der mit dem Kropf unter allgemeinem Gelächter. Der Unteroffizier hatte mit der Verteilung der Untauglichkeitserklärungen begonnen. „Was willst du für das Papierchen haben?" sagte der mit dem Bruch, der für hilfsdienstfähig erklärt worden war, zu dem für untauglich erklärten Zwerg. Er meinte dessen Untauglichkeitserklärung. Der andere lächelte. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und sagte leise: „Du machst Spaß, denn du weißt, dass dies Papier nicht übertragbar ist. Aber", fügte er noch leiser hinzu, „ich zeige dir, wie du dich in Sicherheit bringen kannst." „Sprichst du im Ernst?" fragte der mit dem Bruch. „Ehrenwort! Aber warte mal, von wo bist du? Ich fahre viertel neun nach Alba." „Ich fahre um dieselbe Zeit, nach Cavallermaggiore. Wir haben dieselbe Strecke und können also alles besprechen." Erfreut rieb er sich die Hände. Der Zwerg war einverstanden. Er putzte gerade seinem Jungen, einem aufgeweckten und intelligenten Kind, die Nase. „Wann wirst du eingekleidet, Papa?" fragte der Kleine. „Ich werde nicht Soldat", antwortete sein Vater. „Sei ruhig, störe uns nicht." Aber der Kleine gab keine Ruhe. Er dachte nach und meinte plötzlich: „Papa, jetzt weiß ich es, du wirst Soldat, wenn du größer bist." Der Einfall des Kleinen heiterte die menschlichen Ruinen, die dem Vaterland geeignet erschienen, die Uniform anzuziehen, ein wenig auf. Nun kam ich an die Reihe. Ich nannte meinen Namen. Der Unteroffizier las: „Der und der, untauglich wegen ,Plumpfuß'." „Entschuldigen Sie, Herr Unteroffizier", sagte ich, „der Oberstabsarzt hat heute morgen ,Klumpfuß' gesagt." „Was verstehen Sie davon? Halten Sie den Mund, ich weiß, was ich tue, Sie Esel!" „Ich denke nicht daran, den Mund zu halten, und verbitte mir diese Ausdrücke. Ein Esel sind höchstens Sie, wenn es einer von uns beiden sein muss." „Ich sage Ihnen nochmals, seien Sie still, sonst lasse ich Sie einsperren. Ich bin Ihr Vorgesetzter." „Ich habe keine Vorgesetzten", antwortete ich. In diesem Augenblick erschien ein Hauptmann. Er sah aus wie ein wandelndes Fass, er wog mindestens hundertzwanzig Kilo und schnaufte wie eine Lokomotive bei der Abfahrt. „Was ist hier los?" sagte er vergnügt. „Der Kerl hier will mich belehren. Er behauptet, ich habe mich verschrieben." Er zeigte ihm meine Untauglichkeitserklärung. Der Hauptmann las, lächelte flüchtig und reichte mir das Papier mit den Worten: „Das kommt auf dasselbe hinaus." Dann schlug er dem Unteroffizier auf die Schulter. Fröhlich zog ich mit meinem „Plumpfuß" ab. Ich machte einen Rundgang durch das Städtchen und sah einige meiner Kameraden von der Musterung wieder. Ein paar von ihnen standen auf dem Markt um einen Mann herum, der Lotteriebücher verkaufte. Sie waren alle etwas angeheitert, die Untauglichen aus Freude darüber, dass sie nicht Soldat zu werden brauchten, die anderen, um sich zu betäuben. In Piemont trinkt man viel und gern. Das liegt an dem guten Wein. Dann fingen sie an, ein altes Lied zu singen. Sie sangen laut und falsch, es hörte sich wirklich nicht schön an. Sie boten einen peinlichen Anblick, diese Männer um die vierzig, diese Familienväter, deren eigene Kinder teilweise Soldaten waren, die alle mit irgendeinem Gebrechen behaftet waren und in der Aussicht auf den Heldentod hier ihre Lieder sangen, um sich zu betäuben. Ich schlug den Weg zum Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig waren viele Soldaten angetreten, alle neu eingekleidet. Um sie herum wimmelte es von so genannten Damen aus dem Bürgerschaftsausschuss, die ihnen Zigaretten und Süßigkeitten anboten. Einer von den Soldaten sah sich die Zigaretten an und meinte dann: „Es sind ganz billige, nicht einmal jetzt, wo sie uns auf die Schlachtbank schicken, können sie uns anständige anbieten." Er wies die Zigaretten zurück. Als der Militärzug abfuhr, begannen die Soldaten zu singen: „Den Offizieren Wein und Braten! Für uns den Salzfisch und die trockenen Kastanien! Bum, bum, bum — So geht es ringsherum!" Ich begab mich zu meinem Zug. In dem schlecht erleuchteten, kalten und halbleeren Abteil traf ich den Zwerg und den Mann mit dem Bruch. Sie waren beide angeheitert. Der Junge des Zwerges schlief, in den Mantel seines Vaters eingewickelt. Sie begrüßten mich mit lauter Stimme: „Setz dich zu uns, wir sind alle Rekruten, aber du bist ja untauglich!" sagte der mit dem Bruch und seufzte. „Dem Unteroffizier hast du es heute gut gegeben. Du bist gegen den Krieg, du bist Sozialist, nicht wahr?" „Ja, ich bin gegen den Krieg, und ich bin Sozialist." „In Monforte", sagte der Zwerg, „da ist einer, der kann gut reden. Er soll ein Sozialist sein. Der ist nicht auf den Kopf gefallen und wird auch mit dem Pfarrer fertig. Er hat immer was zu sagen. Er schreibt für die Zeitungen und kann drei Stunden hintereinander reden. Kennst du ihn?" „Ja, ich kenne ihn." Der Zug setzte sich in Bewegung. Es erschienen der Kontrolleur und dann die Carabinieri und verlangten die Papiere. Der Zwerg fing wieder an zu schwatzen. Der mit dem Bruch erinnerte ihn daran, dass sie über die bewusste Sache sprechen wollten, und blinzelte ihm zu. Das Abteil war fast leer. Ich erhob mich. „Warum gehst du fort?" fragte mich der Zwerg. „Ihr habt miteinander zu reden." „Nein, du kannst bleiben, du gehörst zu uns. Wir müssen dem Freund hier helfen." „Du willst also freigestellt werden?" wandte er sich an den anderen. „Hast du Geld? Ich will keinen Pfennig vor dir. Komm am Dienstag nach Cuneo auf den Markt, ich mache dich dann bekannt mit dem Mann, der das Ding dreht. Wenn du zweitausend Lire zur Verfügung hast, kannst du die Entlassung haben. Sie machen ihre Sache gut! Sie begründen das ausgezeichnet. Urlaub wegen Krankheit in der schlechten Jahreszeit und wegen Landarbeit im Sommer kostet dich jedes Mal fünfhundert Lire. Die Bescheinigung ist tadellos. Wenn du kannst, ist die erste Lösung besser ... Alle zwei Monate muss der Urlaub verlängert werden, das ist immer eine unangenehme Geschichte." Der Mann mit dem Bruch dachte nach. „Gut", sagte er schließlich, „die zweitausend Lire treibe ich auf, aber beschwindle mich nicht!" „Ich schwöre es bei dem Haupte dieses unschuldigen Kindes!" erklärte der Zwerg feierlich und legte seinem Jungen die Hand auf den Kopf. Als der Zug plötzlich anruckte, wäre er in seinem angetrunkenen Zustande beinahe umgefallen. „Die Unterschrift des Oberstabsarztes auf den Entlassungsscheinen ist tadellos. Er selbst würde sie für echt halten. Wenn du die Summe nicht zahlen kannst, kriegst du wenigstens Urlaub für zwei Monate." „Wenn die Sache klappt, zahle ich dir ein großartiges Mittagessen und die Reisekosten nach Cuneo", sagte der mit dem Bruch vergnügt. „Sei um neun auf dem Kastanienmarkt neben dem Zeitungskiosk an der Ecke. Ich erwarte dich dort mit dem Mann." „Abgemacht. Und jetzt wollen wir mal trinken." Er zog eine Kürbisflasche aus der Innentasche seines Mantels, und wir tranken. Ich habe die beiden nie wieder gesehen. Die Versammlungen wurden immer zahlreicher. Trotz der Furcht, an die Front geschickt zu werden, rührten sich die Arbeiter. In der Stadt, in der ich lebte, hatten sich die Metallarbeiter schon mehrere Male versammelt. Natürlich nahm ich an den Versammlungen, die im geheimen stattfanden, teil. Es war kein Spaß! Man konnte vor das Kriegsgericht kommen, und trotz der großen Not überlegten die Arbeiter sich die Sache zweimal. Ihre wirtschaftliche Lage war so schwierig, dass sogar das Mobilmachungskomitee ihnen Recht gab, als sie ihre Forderungen vortrugen. Die Zahl der Sympathisierenden wuchs auf jeder Versammlung. Um das Recht zu haben, sich zu versammeln, brachten sie die Sache in eine gesetzliche Form, das heißt, sie wandten sich an den Militärkontrolleur. Man versuchte, sie einzuschüchtern. Dann verlangte man von ihnen, sie sollten mich von ihren Versammlungen ausschließen. Darauf erwiderten sie, ich sei ihr Sekretär. Wir brauchten Räume. Der „Familienklub " war bei Kriegs -ausbrach geschlossen worden. Die Miete wurde aus dem Vereinsvermögen bezahlt. Ich wagte einen Vorstoß. Im Einverständnis mit den Genossen vom Metallarbeiterverband machte ich den wenigen Mitgliedern der Vereinsleitung, die zu Hause geblieben waren, den Vorschlag, uns — natürlich gegen Bezahlung der Miete — Versammlungen nicht politischer, sondern wirtschaftlicher Art abhalten zu lassen. Da sie das Vereinsvermögen von Monat zu Monat zusammenschmelzen sahen, nahmen sie meinen Vorschlag an, und so brachten wir den ersten Verband unter. Endlich hatten wir ein Dach über dem Kopf! Natürlich war unsere Tätigkeit sehr begrenzt. Eines Tages wurde die Arbeiterkommission zum Komitee für wirtschaftliche Mobilmachung bestellt und erhielt eine kleine Lohnaufbesserung bewilligt. Dann kamen die Chemiearbeiter an die Reihe (auch dieser Industriezweig unterstand dem Komitee). Auch in anderen Städten veranstaltete ich kleine politische Versammlungen, und zwar nachts in den Wohnungen von Genossen. Es war wie bei einer Verschwörung. Wegen der Nähe der französischen Grenze konnte ich mir mit Hilfe von Genossen unter den Eisenbahnern französische Zeitungen verschaffen. Unser piemontesischer Dialekt ist mit dem Französischen verwandt. Bei einiger Bemühung — ich hatte an den Werktagen viel Zeit — konnte ich mir viele Nachrichten verschaffen, die aus der italienischen Presse nicht zu entnehmen waren, darunter viele, die nicht einmal das Zentralorgan unserer Partei, der „Avanti", brachte. Ich konnte daher aus diesen Informationen und aus einem Teil des Materials, das ich von der Partei erhielt, Berichte zusammenstellen. Damals beschloss ich auch, Romain Rollands „Au-dessus de la melee" zu übersetzen. So manche Nacht habe ich daran gearbeitet, in meinen Mantel gewickelt und ein Gefäß mit heißem Wasser unter den Füßen, um Holz zu sparen, und dann musste ich es erleben, dass meine Arbeit zensiert wurde! Durch das Abziehen einer großen Zahl von Korrekturbogen der zensierten Artikel, die wir mit der Post versandten, gelang es uns jedoch, eine gewisse Verbindung mit den Genossen herzustellen und sie auf dem laufenden zu halten. Inzwischen häufte sich auf dem Kommissariat das Material in meiner „Sache". Meine Post wurde ausnahmslos zensiert, ebenso die der mir näher stehenden Genossen. Eines Tages kam der Maresciallo zu mir. „Morgen früh müssen Sie nach Cuneo. Ich habe diesen Befehl hier vom Präfekten bekommen. Ich fordere Sie auf, ihm nachzukommen. Falls Sie sich weigern, bin ich gezwungen, Sie zwangsweise dorthin bringen zu lassen. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es so kommen würde ..." Er schüttelte den Kopf. Ich machte mich auf den Weg. Das war eine gute Gelegenheit, eine Versammlung abzuhalten. Der Präfekt von Cuneo, der Graf von Costigliole, war ein alter Giolittianer, bigott und reaktionär, aber ein Neutralist. Als ich ihm vorgeführt wurde, glaubte ich, einen Bischof in bürgerlicher Kleidung zu sehen. Neben ihm saß sein Sekretär. „Sie wollen also nicht aufhören mit Ihrer umstürzlerischen Propaganda. Für Sie hat sich, wie es scheint, in Italien seit dem 23. Mai nichts geändert. Kein guter Italiener diskutiert jetzt, Parteifragen dürfen jetzt keine Rolle spielen, wir haben nur an den Sieg zu denken. An der Front wird gestorben." Er sprach wie ein Offizialverteidiger, ohne Überzeugung, ohne Schwung. Ich fixierte ihn. Er sah mich nicht an. Ich schwieg. „Haben Sie verstanden?" sagte er. „Durchaus. Ich warte auf Ihre Entscheidung." „Sie haben also nichts zu sagen?" „Ich hätte vieles zu sagen, aber Sie behaupten ja, dass man nicht diskutieren darf, und deshalb weiß ich nicht recht, wie ich Sie überzeugen soll, Herr Präfekt. Also warte ich." „Nun, wenn Sie nicht aufhören, lasse ich Sie internieren. Wenn Sie aufhören wollen, unterschreiben Sie hier!" Damit reichte er mir ein Papier. Ich sollte mich verpflichten, keine sozialistische Propaganda mehr zu treiben, die Stadt, in der ich lebte, nicht zu verlassen und nicht mehr für die Zeitungen zu schreiben. Das war beinahe dasselbe wie eine Internierung. Ich unterschrieb nicht. Der Präfekt nahm das Papier wieder an sich. „Gut", sagte er, „denken Sie darüber nach. Das Dekret ist fertig. Ich schicke Sie nach Sardinien, nach Iglesias." Damit war ich entlassen. Er schickte auch den Sekretär hinaus. Als ich die Tür öffnete, um hinauszugehen, rief der Präfekt mich zurück. Wir waren nun allein. „Hören Sie", sagte er zu mir, „Ihre Unterschriftsverweigerung bedeutet, dass Sie interniert werden. Sie werden die Stadt, Ihre Geschäfte und Ihre Angehörigen verlassen müssen. Das Opfer lohnt nicht. Wenn es wenigstens dazu beitrüge, dass der Krieg aufhört ..." Der alte Patrizier sah sich um, gleichsam über seine eigenen Worte erschrocken. „Ja", fuhr er fort, „dass der Krieg aufhört. Denn ich bin auch gegen den Krieg." „Gegen welchen Krieg?" erwiderte ich. „Wenn Italien in den Krieg gegen Frankreich eingetreten wäre, wären Sie Interventionist gewesen, Herr Präfekt. Die Giolittianer haben ihre Hände in Italien und in Libyen mit Proletarierblut befleckt, nicht mehr und nicht weniger als die anderen bürgerlichen Parteien." „Bleiben wir bei der Sache. Sie werden interniert. Ich kann nichts dabei tun. Ich habe schon zu lange gezögert. Sie sagen, ich bin ein Reaktionär, aber ich bewundere Menschen, die eine Überzeugung haben. Ich schicke Sie nicht gern nach Sardinien." „Wenn die Rollen vertauscht wären, würde es mir nichts ausmachen, Sie nach Sardinien oder zu ... Ihrem lieben Gott zu schicken." Der Präfekt war so verblüfft über meine Sprache, dass er nicht einmal mehr Worte fand, um mir Schweigen zu gebieten. „Schon gut, Sie argumentieren sehr logisch. Sie haben recht." Ich ging. Wenige Tage später erhielt ich ein Dekret, das die Internierung an meinem Wohnort anordnete. Der Präfekt hatte die angedrohte Maßregel, Sardinien, vermieden, aber Vorsorge getroffen hatte er doch. Die Internierung in meinem Wohnort war auch insofern sehr unangenehm, als ich mich nicht mehr als Verbandssekretär betätigen oder wenigstens sehr viel leichter kontrolliert werden konnte. Die Maßregel war auch auf meine journalistische Tätigkeit zurückzuführen. Ich gehörte der Redaktion der Wochenzeitung „Lotte Nuove" an. Die Lage in der Redaktion war merkwürdig. Der Chefredakteur war für den Sieg der Entente, während ein anderer Genosse, vielleicht nur aus Widerspruchsgeist, behauptete, der Sieg der Mittelmächte werde dem technischen Fortschritt einen starken Antrieb geben. Natürlich behaupteten sie beide, Sozialisten und daher gegen den Krieg zu sein. Mein Standpunkt war unerschütterlich: „Ich bin gegen den Krieg, weil der Krieg, ob wir ihn gewinnen oder nicht, unter allen Umständen eine Niederlage für die Arbeiter bedeuten wird." Diese Meinungsverschiedenheiten wirkten sich auch auf die Zeitung aus. Der Chefredakteur hatte mir klipp und klar gesagt: „Ich bin mit dir nicht einverstanden. Weil ich aber den Genossen das Recht zuerkenne, ihre Meinung zu äußern, und weil du auch Redakteur bist, wirst du die Verantwortung übernehmen und deine Artikel zeichnen." Das tat ich, und die Folge war, dass die Reaktion mich ganz besonders aufs Korn nahm, wie übrigens auch die Zensur. Ich hatte mir einen so guten Namen bei den Zensoren gemacht, dass meine Unterschrift genügte, damit meine Artikel rücksichtslos zusammengestrichen wurden. Manchmal erschienen nur der Titel und die Unterschrift. Sonst, wenn wir mehr Material hatten, blieben der Titel nebst dem Vermerk, dass 76 oder 210 Zeilen gestrichen worden seien, und die Unterschrift stehen. Einmal spielte ich dem Zensor einen Streich. |
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