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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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III. Bewohner

"Und deshalb Vater, sprich mit der Schwester, wenn sie zurückkommt, ich kann nichts dafür - -"
Okayo war in Bedrängnis, sie wartete sehnlichst auf ihre Schwester Takae. Obwohl Okayo sehr schüchtern war und keine Worte fand, den kranken Vater zu überzeugen, brachte sie es nicht über sich, diesen Streik zu verraten. Unwillkürlich mußte sie sich vor dem Vater, der mit zornblassem Gesicht bat und drohte, auf den Namen der Schwester berufen. Solche Macht hatte die ältere Schwester über den Vater. "Ausgeschlossen, diese Wahnwitzige würde nicht verstehen, was ich sage. Aber du, Okayo- -"
Das Gesicht des Kranken verzog sich vor Schmerz. Der Schmerz wütete in seinen Gelenken, die in der Kälte zitterten. Mit den Augen zwang er Okayo, die mit dem Kessel in die Küche wollte, zu bleiben. "Selbst du redest bei jedem zweiten Wort von Verrat und so - - aber das ist alles Unsinn - -"
Hartnäckig bestand der Kranke darauf, daß Okayo unbedingt in die Fabrik gehen müsse. Er wollte sein Versprechen, das er dem Meister Yoshida gegeben hatte, halten. Denn er hielt ihn für seinen Wohltäter. "Ich alter Mann und ihr Mädchen, wir müssen der Gesellschaft dankbar sein. Wir haben bis jetzt von dem Reis der Gesellschaft gelebt. Die tote Mutter dachte auch so und ihr müßt ebenso denken. " Okayo dachte an ganz andere Dinge - ich muß gleich Abendessen bereiten, die Schwester muß gleich zurück sein. Die Schwester ging mit anderen Mädchen in die Stadt als Wanderhändlerin, um für den Streik Geld zu verdienen.
" Na, wenn es soweit ist, werde ich Takae verstoßen und fortjagen. Wem du nur willst, wird Herr Yoshida dich morgen schon in der Fabrik einstellen, ohne daß die Leute, die streiken, davon wissen, hörst du?" "Um Gotteswillen - -"
Sie sah in die bösen Augen des Vaters und fühlte, wie ihre Liebe zu ihm schwand.
" Vater, dann hast du es dem Herrn Yoshida versprochen - ja?" Sie sah dem Vater scharf in die Augen und wollte aufstehen; ihre junge Stirn war blaß.
" Also, willst du nicht gehen?"
Der Kranke richtete sich mühsam auf und wollte das Mädchen am Kleid festhalten. Während sie sich voller Angst zurückzog, hörte sie Takae kommen und war sehr froh. Der Vater brummte böse. "Du bist mir die Richtige, so mit deinem Vater zu zanken. " Takae kam lächelnd herein, sie klopfte den Staub von ihren Strümpfen. Der Kranke war recht enttäuscht, wollte aber heute nicht, wie sonst immer zurücktreten. Böse sah er von Okayo zu Takae. "Draußen weht ein starker Wind... ach, ich bin so müde." Sie saß abgespannt und müde da, aber sie sagte mit betonter Munterkeit:
" In der alten Baracke ist es doch wärmer als draußen, sie ist ihre 15 Yen 50 Sen Miete wert."
Takae tat als hätte sie von dem Streit zwischen dem Vater und ihrer Schwester nichts gemerkt.
" Kayo-tjan, sei lieb und mach was zu essen, ich kann mich vor Huriger
nicht mehr bewegen."
Okayo wollte die Gelegenheit wahrnehmen, um aufzustehen und hinauszugehen.
" Bleib!" bellte der Vater. Okayo zögerte.
" Was ist denn mit euch, was habt ihr?"
Wenn man ihn so fragte, konnte er nicht in dem Ton weiterbrüllen. "Was hast du denn, Kayo-tjan, du siehst so mutlos aus?" Takae war nur drei Jahre älter, aber sie hatte an Okayo Mutterstelle
vertreten.
" Vater hat sicher wieder angefangen zu jammern. Laß ihn nur. Man muß
nicht böse werden, wenn er ein bißchen irre denkt."
Okayos Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln.
" Was - du verrücktes Weib, du bist selbst irre und du verachtest deinen
Vater."
Der Kranke schrie, nahm die Teetasse, die neben seinem Kissen stand und warf sie nach Takae. Die Tasse traf das Ohr des Mädchens und fiel auf den Boden.
" O weh!"
Sie griff mit der Hand an ihr Ohr, aber sie regte sich nicht weiter auf. "Vater, ich verachte dich gar nicht, ich habe es gewiß nicht so gemeint. Aber du solltest mich auch nicht verachten."
Okayo ging in die Küche, um das Abendessen zu machen. Takae sagte, während sie ihre Waren, Seife und Federhalter ordnete: "Hör mal, Vater, du denkst falsch. Jedes zweite Wort das du schreist, ist wahnsinniges Weib. Die Zeiten haben sich heute geändert gegen damals, wo dich der vorige Besitzer so 'geliebt' hat und du deine Hand in der Schneidemaschine verloren hast."
Takae streichelte ihr schmerzendes Ohr und fuhr leise fort: "Für dich sehen wir vielleicht wahnsinnig aus. Von unserer Seite aus aber, muß ich leider sagen, bist du ein bißchen garstig und komisch." Der Kranke warf sich herum und drehte sein Gesicht der Wand zu. Dann wurde Licht angezündet und Okayo stellte einen kleinen Eßtisch neben den Kranken. In gewöhnlichen Zeiten erklangen, wenn die Lampen angezündet wurden, die Glocken der Fabrik, die Gegend wurde lebhaft und lärmend - die Arbeiter kamen aus der Fabrik in die Baracken, als würde eine Herde in den Stall getrieben; dann schrien die Säuglinge und die Frauen schalten. Aber jetzt wurde der Tag dunkel und hell und lautlos, wie eine Kuckucksuhr mit zerbrochener Feder. Leer, müde und unzufrieden. "Hast du viel verkauft?" Okayo setzte sich neben ihre Schwester und nahm ihre Stäbchen. Vorher
hat'? sie dem Vater Essen gegeben.
" Nicht besonders. Man verkauft jetzt so immer dieselbe Menge. Die Leute sind schon an uns gewöhnt. "
" Dann bleibt doch lieber bei dem Geschäft, als daß ihr wieder Buchbinderinnen spielt. Ausgesperrt seid ihr so oder so -vielleicht tut ihr euch fünf oder sechs zusammen. "
" Wenn wir dabei singen und trommeln, dann sehen wir gerade so aus -" "Wieso?"
" Wie die Kinder aus dem Waisenhaus. "
Sie fingen an zu lachen, aber das Lachen hatte einen bitteren Beigeschmack. Besonders Okayo konnte ihr Lachen nicht verbeißen. Solch ein Mädchen von achtzehn Jahren lacht schon, wenn sich nur die Blätter am Baum bewegen; solch ein Mädchen, das noch jeden Tag schöner wird. Okayo hatte ein weißes, wohlgeformtes Gesicht. Wie Takae die Schwester ansah, schien ihr, das Mädchen müsse immer glücklich bleiben, und dabei fiel ihr etwas ein. "Heut' hab' ich Miatji getroffen." "Wo?"
Okayo hob den Kopf.
" In Dosaka im Hongo-Bezirk, mit vier oder fünf anderen zusammen, Hagimura war auch dabei. Die anderen kannte ich nicht, aber ich glaube, sie gehören alle zu einer S-Abteilung." "So? Was machen sie eigentlich?"
" Ich weiß es auch nicht. Die Sachen der S-Abteilung sind streng geheim." "Machen sie etwas Gefährliches?" Okayo glaubte, die Schwester wisse Bescheid.
" Ich weiß es nicht------"
Selbst die einzelnen Streikleiter wußten es nicht. Und wenn sie es wußten, würden sie nicht darüber sprechen. Die Arbeit der S-Abteilung soll geheim bleiben. Takae hatte aber schon wieder den ernsten Ton aufgegeben:
" Und Miatji hat naoh dir gefragt. " "Ach."
Sie wurde rot.
" Und da haben die andern ihn gehänselt, und Miatji war ganz verlegen." Takae wußte längst, daß Okayo und Miatji sich liebten. Der Gedanke an die Entwicklung dieser Liebe, von der schon die anderen Arbeiter redeten, beunruhigte sie. Ein wenig Eifersucht war dabei und sehr viel schwesterliche Liebe.
Die beiden hatten ihr Essen verzehrt. Unversehens war das Geplauder verstummt. Sie gingen zusammen in das öffentliche Bad. Takae machte sich Vorwürfe , weil sie der Schwester so zugesetzt hatte. Okayo wurde nach derartigen Gesprächen immer sehr lebhaft und schminkte sich lange vor dem Spiegel. "Vielleicht bin ich auch in Miatji verliebt - -."
Takae mochte nicht daran denken. Sie verließ vor der Schwester das
Bad.
Auf der Senkawa-Brücke standen fünf oder sechs junge Männer. Eigentlich war es schon zu kalt, um sich auf der Straße zu treffen, aber sie hatten sonst keinen Raum, in dem sie sich versammeln konnten. "Hallo, Taka-tjan, hast du gebadet?" rief ein Junge in gelber Matrosenhose und Arbeiterbluse, die Mütze schief über das Ohr gezogen. "Wer bist du denn? Ah, der Ke-ko, du bist der Richtige!" Sie gab dem Burschen die Hand, mit der andern nahm sie ihm seine
Mütze fort.
" Oha, warte, Taka-tjan, du darfst sie nicht in den Graben werfen!" Ke-ko spitzte vor Verlegenheit den Mund. Die andern amüsierten sich und klatschten in die Hände.
" Schadet nichts, die Mütze ist so schon schmutzig. Kauf dir eine bessere, wenn du eine Freundin willst."
Takae in ihrer Ausgelassenheit mußte sich selbst mit dem Siebzehnjährigen necken. Ke-ko sprang zu und ergriff sie am Arm. "Was, du willst mit mir raufen? Komm doch heran!" Takae hatte seinen Hals mit beiden Händen gefaßt und schüttelte ihn. "Ke-ko, Kerl, du hast Glück", riefen lachend die andern. Takaes Arme entblößten sich bis zur Schulter und leuchteten in der
Dunkelheit.
" Guten Abend."
Okayo trat hinzu.
" O, hast du dich schön gemacht, gib mir deine Hand", näherte sich
ihr ein Junge. "Hör bloß auf."
Okayo hatte seine Hand zurückgestoßen und ging zu Ki-ko, der ein bißchen närrisch mit einer Mundharmonika vor dem Mund dumm vor sich
hinlächelte.
" Spiel uns eins------"
" Vielleicht 'Karabon'."
Ki-ko begann zu spielen, zwischen seinen vorstehenden Zähnen hielt
er das Instrument.
" Hör auf damit, hör auf. Spiel lieber das rote Fahnenlied", rief Takae,
die immer noch Ke-ko am Hals hielt.
" Ja natürlich, das Lied von der roten Fahne."
Sie gehörten alle zu den Streikenden und waren aus verschiedenen Gruppen.
Das schwarze Wasser des Senkawa-Kanals floß langsam und träge abwärts, auf seinem Grunde leuchtete eine Porzellanscherbe oder ein Flaschenhals, ein Fischkopf trieb auf dem Wasser. Am Himmel stand die Mondsichel angenagelt, wie auf dem Hintergrund eines Theaters. "Rote Fahne, Fahne der Massen------."
Tief und stark klang die Melodie durch die Nacht, unter der Tausende von Baracken schweigend und gedrückt lagen.
Am Ende der Barackenreihe standen die Ziegelgebäude der Fabrik, wie das Teufelsschloß im Märchen. Das war der Punkt, gegen den die Jungen ihr Lied schmetterten.
Feiglinge geht,
wenn ihr wollt------"
Die Jungen und Mädchen auf der Brücke schlugen lebhaft mit der Hand die Melodie und stampften den Takt auf den Brückenbohlen. Ki-ko spielte weiter, bis ihm der Speichel vom Munde floß.

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