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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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II. Revolverschüsse

An der Kreuzung der Susageisastraße, im Verwaltungsbezirk Kotshikawa, neben dem roten Kasten des öffentlichen Fernsprechers, rechts an der Ecke des Geishaviertels von Haksuan schlenderte ein Junge mit breiten gelben Matrosenhosen herum. Das war Hisachita, den Hagimura vor einer Stunde im Restaurant "Kanarienvogel" empfohlen hatte und den sie aus 300 Lehrlingen ausgewählt hatten. Eines nach dem anderen leuchteten aus der wachsenden Dämmerung die Lichter der Straßenlaternen auf, standen erst matt in der Dämmerung; jetzt aber war es überall hell, wo ihr starkes Licht hinkam. Niemand kümmerte sich um die Anwesenheit des Jungen. Die Straßenbahnen fuhren, die Autos rollten. Radfahrer flitzten herum und die Menschen gingen eiligen Schrittes vorbei.
Hisachita sah aufmerksam nach rechts und links und ging dann wieder zur roten Telephonbude zurück.
Gesicht und Hände waren ungewaschen, aber die Stupsnase gab dem Jungen ein freundliches Aussehen. Eine kleine Geisha mit ihrem Patron ging an ihm vorüber, in diesem Augenblick stieß der Junge die kleine Geisha zur Seite und flitzte in den Schatten neben einem Drogerieschaufenster. Er hatte gesehen, wie oben an der Kurve der Straßenbahn drei Autos einbogen. "Das sind sie!"
Hisachita versteckte sich und machte sich klein, um von dem Licht aus dem Schaufenster nicht getroffen zu werden.
Es waren zwei Privatautos mit geschlossenem Verdeck und ein Zweitonnenlastwagen der Gesellschaft, der ihm bekannt war. Die drei Autos fuhren mit höchster Geschwindigkeit an dem Jungen vorbei.
" Das ist der Lastwagen!"
Zwischen Maschinen und Papierballen sah er in dem Wagen die wohlbekannten Gesichter seiner Kollegen. Hallo! wollte er gerade rufen, besann sich aber rechtzeitig.
''Zweitausendeinsundneunzig, zweitausendeinsundneunzig... " sagte er die Autonummer vor sich her, die hinten am Wagen wackelte, nahm ein Stück Papier aus der Tasche und notierte sie. Die drei Wagen fuhren geradeaus, den Abhang des Haksuan hinauf, bogen nach links ab und verschwanden in der Finsternis. "Zum Teufel, wohin wollen sie unsere Kollegen bringen?" Die Gesellschaft hatte unter dem Vorwand, die Lehrlinge zu schützen, einen Teil von ihnen mit Gewalt geraubt und festgehalten und wollte sie nun an diesem Abend heimlich irgendwohin bringen, wo sie zur Arbeit gezwungen werden sollten.
Hisachita trat in die Telephonzelle, nahm den Hörer, verlangte Amt und Nummer:
" Hallo, ist da Yatsuo von der S-Leitung?" Er berichtete mit aller Ausführlichkeit; was er erzählte, konnte aber kein anderer verstehen, weil sie besondere Ausdrücke verabredet hatten.
" Zweitausendeinsundneunzig, jawohl; außerdem noch zwei Privatwagen, sie verschwanden am Abhang des Haksuan nach links. - Was? - Bestimmt, ich habe die Gesichter meiner Kollegen im Lastauto erkannt. Er hängte den Hörer an und trat hinaus. Die Aufgabe war erledigt. Hisachita ging mit festen Schritten über die Kreuzung und verschwand pfeifend am dunklen Abhang des botanischen Gartens.

Weit schwieriger war die Aufgabe, vor der die zweite Gruppe stand. Zwischen den Vorstädten Itabachi und Sugamo, am Ende der Häuserblocks, wo die Häuserreihen wie zerbrochene Kämme zwischen Stadt und Land stehen, hielten mit abgeblendeten Lichtern zwei Autos, als ob sie auf Fahrgäste warteten. In den beiden dunklen Wagen saßen je drei junge Männer in gespannter Erwartung. Ein Mann mit einer Brille und ohne Hut saß am Steuer. Er schob den Kopf heraus und fragte nach rückwärts in den Wagen:
" Kuroiva, hast du dich auch nicht verhört? War es vielleicht um sieben Uhr?"
Als Antwort kam ein Kopf mit einer Mütze hervor, zu dem ein großer, kräftiger Mann gehörte: "Nein."
Er stieg aus dem Wagen und kam zu dem Mann mit der Brille. "Bestimmt um sechs, ich habe das doch auf dem Befehlszettel gelesen, nicht nur so gehört. Wenn inzwischen was passiert ist, werden wir es schon noch erfahren. "
Der Chauffeur des anderen Wagens trat zu ihnen:
" Kollegen, wenn's vorbei ist, müssen wir mit der Sirene das Zeichen geben. Rufe sind bei solchem Klamauk nicht zu hören. " Auch der Chauffeur war ein Streiker aus der Transportabteilung der Gesellschaft. Der Mann mit der Brille hockte jetzt auf den Knien neben dem Wagen an der Erde und sagte:
" Wollen wir vorsichtshalber noch einmal besprechen, was zu tun ist?" Von dem zweiten Wagen kamen die anderen fünf. "Aber Kakekawa, wenn es sehr viele Lehrlinge sind, können wir gar nicht alle in unseren Wagen nehmen."
" Halb so schlimm... ist ja nur für kurze Zeit. Meiner Meinung nach sind es etwa fünfzehn, weil ja im ganzen nur dreißig geraubt sind." Die Brille wußte über alles Bescheid, er schien der älteste von ihnen zu sein.
" Sie wollen das "Fusi-Magazin" vom Yamato-Kodan-Verlag binden lassen, das schon ausgedruckt ist, um es bis Neujahr rauszubringen, aber das nutzt ihnen doch nichts."
Kuroiva lachte. Die Streikenden durften nicht zulassen, daß auch nur dieser kleine Teil gemacht wurde. Ihr Kampf ging jetzt auf Leben und Tod. Eine kleine Atempause, ein kleines Sich-Recken konnten große Verzögerung und unabsehbare Verlängerung des Kampfes bedeuten. Besonders diese Geschichte mit den Lehrlingen war für die Streikenden von größter Bedeutung, weil sie ihnen von der Gesellschaft geraubt waren. Welche Opfer würde es kosten, diese kleinen Genossen zurückzuholen !
" Achtung!" rief der Genosse, der vorn als Wache stand, dem Kreis zu, "sie kommen!"
Kaum hatten sie sich erhoben, als sie die drei Autos die menschenleere Straße herabkommen sahen. Eins . Zwei. Drei. "Das sind sie."
Für die drei Leute im ersten Wagen war die Brille der verantwortliche Führer, für den zweiten der große Mann. "Zweitausendeinsundneunzig Allright."
Sie ließen die Autos vorbeifahren, dann blendeten an beiden Wagen die Scheinwerfer auf, lärmend sprangen die Motoren an und mit knapper Wendung auf die Straße brausten die Wagen hinter "2091" her. Bald hörten die Häuser an der Itabachilandstraße auf, sie sprangen zurück wie die kleinen Kiesel, die von den Reifen der Autos gefaßt wurden. Die Lichter der Autos spalten die Finsternis wie Keile, die fünf Wagen rasten wie vom Teufel gejagt hintereinander her.
" Herrlich, wir machen Kintopp in Wirklichkeit!" rief grinsend Kuroiva seinen Leuten zu, die vor Aufregung bleich waren.
" Die da vorne haben scheint's schon bemerkt, daß wir hinter ihnen her sind," sagte die Brille, die neben dem Chauffeur saß. Die Leute, die unter strenger Kontrolle der Streikenden in dieses Abenteuer gingen, trugen eine schwere Verantwortung.
Der Lastwagen fuhr über einen Eisenbahnübergang. Das kam unerwartet. Nach ihren Informationen sollte das Ziel der Wagen die Mühlenfabrik von Itabachi sein. Doch dann hätten sie rechts von den Schienen abbiegen und nicht über die Bahnlinie fahren müssen. "So, so, es scheint, sie wollen uns täuschen."
Ohne abzustoppen, rasten die beiden Autos hinterher. Die Häuser von Itabachi lagen hinter ihnen. Die Wagen fuhren jetzt auf der Landstraße zwischen Wasserfeldern (Anm.: Die Reisfelder werden im Frühjahr überflutet.) - fünf Minuten - sieben Minuten. Nur zur rechten sah man den Lichtschimmer der Vorstadt Itabachi. "Wohin sie wohl fahren?"
Im kalten Nachtwind und in der Erwartung des Kampfes strafften sich die Körper der Männer.
" Sie fahren um die Ecke. Die Bande will einen Umweg machen," schrie die Brille. Kuroiva steckte seinen Kopf aus dem Wagen: "Ausgezeichnet, überholt sie!" brüllte er, den ganzen Mund voll Wind. "Achtung!" wurde nach hinten befohlen; die Gelegenheit darf man nicht versäumen, dachte die Brille.
" Jetzt muß ich meinen Spielzeugrevolver arbeiten lassen"; der Mann mit dem kahlen Schädel im ersten Wagen zog sich die Jacke aus. Seinem bösen angespannten Gesicht mußte jeder glauben, daß der Revolver echt sei.
Die Motoren liefen mit Vollgas, die Maschinen zitterten vor Schnelligkeit, unter den Rädern sprangen kleine Kiesel in die Luft. 20 Meter - 16 Meter - 10 Meter. Auf der ausgefahrenen Landstraße stießen und sprangen die Wagen; jeden Augenblick konnte es eine Panne geben.
" Kinder, wir kommen!" Der Wind riß die Stimme in die Finsternis. Sechs Meter - zwei Meter - sie waren vorbei, beide Wagen bremsten hart ab, die ganze Straßenbreite versperrend - "Halt!"
Der Mann mit dem rasierten Schädel sprang vom ersten Wagen, lief an den Führersitz des feindlichen Autos und zielte mit dem Revolver auf die Leute. Im selben Augenblick erhielt er einen Schlag auf den Arm, der sofort gefühllos wurde und herabsank. Aber die Wagen hielten.
" Halunke... !" Kuroiva sprang auf den Lastwagen und umschlang den Mann mit dem Knüppel. Der Lastwagen, der einen Zusammenstoß mit den andern Wagen hatte vermeiden wollen, war mit einem Rad auf das weiche Feld geraten und stand ganz schief; er war in der Dunkelheit in dem überschwemmten Boden festgefahren. Vier Männer sprangen von den Autos der Gesellschaft. Sie hatten Knüppel und Dolche und rangen mit den andern auf den Wasserfeldern. "Vorsichtig, nicht so aufgeregt", rief die Brille den Genossen zu. Die großen Lampen der Automobile strahlten nach allen Richtungen und beleuchteten hin und wieder die Gesichter der Kämpfenden. "Steigt aus, schnell, schnell", rief der mit dem ausrasierten Schädel den ängstlichen Lehrlingen zu. Die Genossen waren in einer schlechten Lage. Die Feinde waren alle bewaffnet. Kuroiva konnte deshalb nicht an seinen Gegner herankommen und wurde auf dem Felde herumgejagt.
" Schurke!" Er glitt nieder, nahm eine Handvoll Erde und Steine und warf sie dem Mann ins Gesicht, aber in der Dunkelheit verfehlte er sein Ziel, der Bursche hob dicht über ihm das Messer. "Gefahr!"
Die Brille kam heran und warf, weil es nicht schnell genug ging, seinen Knüppel auf den Messerhelden, der mit dem Kopf auswich und so dem unter ihm liegenden Kuroiva ein Ziel bot. Der traf ihn mit einem Stein mitten ins Gesicht.
" Umstellt sie!" brüllte die Brille. Auf den sumpfigen Feldern zitterte die Finsternis wie Wassergras im Meer.
Die Kieselsteine flogen - die Steine waren immer unsere beste Waffe. Die Lehrlinge schossen mit den Kieselsteinen Deckungsfeuer. Die Feinde waren Strolche, gewerbsmäßige Bösewichte, aber die Unseren waren ihnen überlegen.
Da blitzte ein Feuerschein in der Dunkelheit auf. "Lump!"
Kuroiva sprang von hinten dem Strolch auf den Rücken. Einer wälzte sich am Boden. Es roch nach Pulver.
" Hör auf!" schrie die Brille und zog Kuroiva hoch, die Sirenen der Autos brüllten durch die Nacht. Die Mannschaft der zwei Autos quetschte sich mit den Lehrlingen in die Wagen, ihre Augen waren blutunterlaufen. "Scheiße!"
Einer der Rowdys erhob sich mit letzter Anstrengung. In diesem Augenblick setzten sich die Autos in Bewegung. Päng - - ein scharfer Knall zerschnitt die Finsternis. "Oh!"
Die Brille schrie auf und fiel in den eben anfahrenden Wagen. Im Licht der Schlußlampe schwelte der gelbe Rauch eines Schusses. Finsternis. Zwei Autos verschwanden wie der schnelle Wind.

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