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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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II. Das geheimnisvolle Feuer

Noch einige Tage nach dem Tode Okayos lebte Takae ganz mit dem alten Vater zu Hause, sprach kein Wort und schien völlig erschöpft wie . eine kranke Katze.
Sie fühlte immerfort Schwindel, als ob sie von einem hohen Felsen herabstürzte. Kimi-tjan und Fusa-tjan kamen täglich auf dem Rückweg von der Versammlung zu ihr. Auch die freundlichen Nachbarn kamen öfter herein, um sie zu trösten. Aber selbst wenn sie die tröstenden Worte an Okayo erinnerten, konnte sie nicht mehr weinen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie die allzu stark schmerzende Wunde heilen sollte.
Eines Abends, als sie nachdenklich am kalten Ofen saß, schrie Fusatjan mit der ihr eigentümlichen schrillen Stimme herein: "Taka-tjan, weißt du, diese Rothaarige ist in die Fabrik zur Arbeit gegangen. Sie hat immer nur ein großes Maul gehabt, und jetzt verrät sie uns!"
Der schwarze Schal ließ nur ihre Augen sehen, wie sie durch die Türspalte diese Neuigkeit rief: die Rothaarige hatte am lautesten auf seiten Ojas gebrüllt.
" So" antwortete Takae mechanisch. Sie zeigte kaum Interesse. Fusa-tjan sah sie enttäuscht an und schob den Kopf ganz durch die Türspalte: "Diese Damen verraten uns, wenn es uns Arbeitern am schlechtesten geht, verdammt das ist doch kaum zu glauben!"
Aber Fusa-tjan bekam keine Antwort, schloß schließlich wieder die Tür und ging fort; laut klapperten ihre Schritte auf den Brettern des Straßengrabens (Anm.: Die "Rinnsteine" in den japanischen Armenvierteln sind aus Holz.). Takae blieb in ausdruckslosem Schweigen zurück. Auch im Hause konnte sie an dem Gasolingeruch, den der Wind bis hierher trug, spüren, daß die Kraft der Streikenden Tag für Tag schwächer wurde.
Aber sie war für diesen Geruch schon fast unempfindlich geworden. Je mehr sie von einem Tag zum andern das quälende Schwindelgefühl niederdrückte, desto gefühlloser wurde sie. Sie blieb fast gleichgültig, wenn die Frage nach Sieg oder Niederlage des Streiks an sie gestellt wurde. Das alles war jetzt unwichtig für sie, die nicht mehr glauben wollte, daß es in ihrem künftigen Leben noch Licht geben würde. "Den Feind schlagen, oder sich schlagen lassen, einen anderen Weg gibt es nicht mehr. "
Es war ihr nur zu klar, wer sie vom Felsen herabgestoßen hatte. Sie brauchte sich nicht erst umzudrehen. Sie fühlte die Augen des Feindes im Rücken - die todglühenden Augen - schmerzhaft und heftig. Diese kranke Katze leckte nicht einmal mehr ihre Wunde. Ihre Augen funkelten und sie schärfte ihre Nägel. Der Wind riß an dem Blech auf dem Dache, klapperte mit den Grubendeckeln und schlug mit dem Giebelfenstern. Der alte Vater lag den ganzen Tag zusammengekrümmt in den Kissen und stöhnte. Und auch die Barackenreihen lagen wie tot im trockenen Wind des Jahresendes.
Eine Woche nach dem Tode Okayos ging Takae zum ersten Male aus dem Hause. Aber sie ging nicht zu den Streikenden, ihr Gesicht von einem Schal verhüllt, irrte sie, vom Wind getrieben oben den Abhang entlang, bog in die Villenstraße ein. Sie wußte noch genau, wo die Villa Okawas lag.
Am Abend kam sie wieder zurück, und am nächsten Morgen in der Frühe ging sie wieder fort.
Auf dem Heimweg von einer Sitzung der Zentralstreikleitung verabschiedete sich Hagimura von Kamei und Terraishi auf der Kasugastraße und ging geradeaus in der Richtung auf Haksuan die Schienen entlang. Die Läden zu beiden Seiten der Straße hatten noch ihre Türen geschlossen. Die müden Lampen verblaßten in der frierenden Luft der ersten Dämmerung.
Den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, ging er nachdenklich durch die Straßen, in denen noch nicht einmal die erste Straßenbahn fuhr. Er beschleunigte seine Schritte, um seine Fußspitzen, die vor Kälte fast gefühllos waren, zu erwärmen.
Deutlich hatten sich in der Sitzung der Zentralstreikleitung, die von gestern abend bis in den Morgen gedauert hatte, zwei Richtungen unterscheiden lassen. Bisher hatte man sich in den Sitzungen wenigstens am Schluß noch immer geeinigt, auch wenn die gegensätzlichen Meinungen noch so heftig aufeinanderprallten. Die Hoffnung eines Sieges in den ökonomischen Fragen lag vor den Leuten wie ein noch nicht geöffnetes Lotterielos. Und die Führer machte der Stolz auf die vergangenen Streiks, aus denen sie immer als "siegreiche Generale" hervorgegangen waren, etwas hochmütig. In der Tiefe ihres Herzens klebte noch"der alte, süße Traum", in dem sie wie durchgehende Droschkenpferde kämpften und mit Löwenmut die Massen anfeuerten.
Aber dieser Streik machte im Gegensatz zu allen süßen Träumen das Elend noch größer, und die unvermeidlichen, schrecklichen Folgen erschienen vor ihren Augen wie die roten Warnungszeichen an einem Gasometer.
" Wir hätten bei der ersten Verhandlung überlegter vorgehen müssen", begann Kamei jammernd.
" Außerdem haben wir uns bei der zweiten Verhandlung verrechnet", sagte Yamaura tadelnd zu Nakai.
Nogota, Ando, Oshima, Matsusawa - fast alle leitenden Delegierten der Daido-Druckerei stimmten dem Tadel Yamauras zu. "Willst du das auch noch verständig gehandelt nennen?" Nakai blieb mit gesenktem Kopf sitzen und biß sich auf die Lippen. Yamamoto und Terraishi brüllten los: "Was heißt verrechnet, wer hat sich verrechnet! ?" Zu allem Unglück kam noch die Spannung zwischen den Leuten der Daido-Druckerei und den Berufsrevolutionären hinzu, die jetzt zur Entladung kam.
Takagi schwieg finster vor sich hin. Nakai war niedergedrückt als trüge er eine schwere Last.
Verrechnet - das war schon vor dem Sturm auf die Oji-Papierfabrik geschehen. Sie hatten den Fehler gemacht, die zweite Verhandlung, von der der Sieg der Streikenden erwartet werden konnte, - nur etwa zweihundert Mann sollten zu günstigen Bedingungen entlassen werden - zum Scheitern zu bringen, nachdem schon alle Forderungen der Streikenden angenommen waren. Es war schon so weit, daß Direktor Furuya als Vertreter der Gesellschaft, und Oda, Takagi und Nakai die Abmachungen festgelegt hatten, und daß nach Ablauf von sechs Stunden dieser Vertrag von einem Notar unterzeichnet werden sollte.
Aber drei Stunden später wünschte Direktor Furuya plötzlich Aufschub der Unterzeichnung und erklärte kurz darauf, er müsse die Verhandlungen abbrechen. Er selbst wurde seines Postens als Vertreter der Gesellschaft enthoben. Leider aber hatten die Vertreter der Streikenden nicht daran gedacht, daß über dreihundert Streikbrecher in der Fabrik saßen.
Diese dreihundert Ratten würden, zusammen mit den anderen Reserven, der Gesellschaft, von Direktor Furuya ganz abgesehen, sie zum Selbstmord zwingen.
Daß Sie sich derart fürchterlich verrechnet hatten, war die Ursache, daß die Streikenden zum dritten Male ihre ganze Entschlossenheit aufbieten mußten.
Jetzt entschloß sich auch Okawa, den ganzen Profit von fünf Jahren in diesem Kampf zu opfern; und so ging die Gesellschaft aus dem Kampf und der Unordnung neu gestärkt hervor.
Das Großkapital hatte den Schleier seiner Vampirmaske gelüftet. Erst nach dem Zusammenschluß Okawas und Shibusakas begann das Großkapital gleichzeitig mit der Kabinettsänderung seinen Generalangriff. So entbrannte zum dritten Male der Kampf. Alle Kräfte der linken Front in ganz Japan wurden aufgeboten und hier in der "Straße ohne Sonne" gesammelt. 2000 Yen Streikfonds und 5000 Streikhelfer wurden aus allen Gegenden Japans, von Kyushu, Shikoku, Aomori, Sapporo zusammengebracht.
Aber die Streikenden waren schon müde, sahen vollkommen erschöpft aus, von der drohenden Unterdrückung niedergeschlagen. "Wir haben uns nicht verrechnet, wir konnten nicht anders handeln" sagte Nakai und hob den Kopf.
" Wieso?" Yamaura und einige andere wollten sich nicht damit zufrieden geben.
" Wir sind noch nicht niedergeschlagen, und es wäre reiner Zufall gewesen, wenn jene zweite Verhandlung Erfolg gehabt hätte. " Nakais Gesicht sprühte Empörung. Yamaura schrie, was Nakai sage, sei eine reine Verdrehung der Tatsachen. - Die Diskussion war eher heftiger geworden. Vollends hatte die letzte Erklärung der Gesellschaft die oberste Streikleitung in zwei Lager gespalten:
" Die Gesellschaft wird ein Drittel der Streikenden nach ihrer Auswahl wieder aufnehmen. Den anderen zwei Dritteln wird sie nach einer an anderer Stelle veröffentlichten Berechnung das Entlassungsgeld auszahlen. Gleichzeitig ist die Streikorganisation aufzulösen. " "Sowas von Blödsinn, wir lassen uns nicht verkohlen!" schrie Ishisuka spontan. "Kämpfen und wenn alle Streikenden entlassen werden!" Aber Yamaura und die anderen wollten das nicht, sie dachten zuerst daran, wie elend die Lage dieser dreitausend Streikenden war. "Wenn noch mehr erwerbslos werden, wird die Revolution nur beschleunigt" höhnte Terraishi die Feiglinge.
Die meisten waren durch diese Äußerung empört. Jetzt ging es auch nicht mehr um die letzte Mitteilung der Gesellschaft jetzt kam der offene Gegensatz der Gefühle und Meinungen zum Ausbruch. Kampf gegen Okawa oder Kampf gegen die ganze obere Klasse. Kampf um die Entlassenen und Ausgesperrten oder Kampf bis zur letzten Entscheidung.
Aber auch Hagimura konnte dabei nicht ruhig bleiben. "Ob wir die Revolution beschleunigen oder nicht. Das Schlimmste ist jetzt der Hunger."
" Du kannst so etwas sagen, weil du überhaupt noch nicht aus dem Eßkasten essen mußtest!" höhnte Terraishi weiter. "Entlassen heißt für uns hungern, das versteht ihr nicht, ihr Bonzen!"
Diese Beschimpfung brachte Hagimura, ohne daß er es eigentlich wollte, ganz mit Terraishi auseinander. Er spürte außerdem seinen leeren Magen wie einen Eisblock.
Er war so wütend, daß er sich beinahe im Laufschritt davonmachte - -. Er war tief traurig, daß solche feigen Sklavengefühle in ihm waren, aber dieses Gerede von Terraishi, der sich, trotzdem er vielleicht mit am schlimmsten unter dem Hunger litt, so ohne Bedenken über sein Leiden und das Leiden der andern hinwegsetzen konnte, brachte ihn immer von neuem auf.
" Natürlich werden sie dazu bereit sein, aber wo sollen sie sich nachher verkriechen, diese dreitausend Erwerbslosen?"
Kurz vor der Ecke der Sasugarjastraße ging er von der Gasse der Asumagarage durch die Passage nach der Blinden- und Taubstummenschule auf dem Haksuanabhang, von wo es bis zu seinem Hause nicht mehr weit war. Theoretisch hatte Nakai natürlich recht, das mußte er selbst zugeben. "Erst schlafen, dann noch mal überlegen." Er schüttelte den Kopf und ging rascher um seine schlechte Laune zu verjagen. Es wurde schon heller.
Plötzlich, zuerst traute er seinen Ohren nicht: Feueralarm! Die Feuerglocke rasselte. "Ah, Feuer!" rief er unwillkürlich und sah sich um. Fast zu seinen Füßen, mitten in dem schneebedeckten Stadtviertel, stieg aus dem Gebäude der Daido-Druckerei schwarzer, wirbelnder Rauch, vom Wind getrieben. Dann schoß wie eine Fontäne eine Feuersäule hoch. Er blieb stehen. Die Feuerglocke weckte andere, jetzt tönten von allen Seiten die Glocken und zerrissen die Dämmerung. Der schwarze Rauch hüllte den Seminarwald in dichte Wolken, und das Schloß des Teufels, das die Straße ohne Sonne beherrschte, ertrank in den Flammen.
" Feuer, Feuer!"
Plötzlich waren seine Augen von Helligkeit geblendet, wie in einer Eisenbahn die aus dem Tunnel kommt. Er rannte den Abhang hinunter, seinen Hunger, seine Müdigkeit, seine Traurigkeit abschüttelnd wie ein Kind.

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