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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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SCHATTEN ÜBER DEN FAHNEN

I. Qualvolles Sterben

Takae rannte voran, Hagimura folgte ihr durch die dunklen Gassen der Baracken.
Schon an der Haustür drang ihnen der starke Geruch von Kreosot entgegen. Ununterbrochenes Stöhnen übertönte das Geräusch, das die ganze Familie machte.
Der weiße Operationskittel des Arztes lag mitten im Zimmer, wie eine heruntergeschlagene Motte. Die Frauen und Kinder der Nachbarschaft drängten sich an der Tür; das unaufhörlich aufquellende Stöhnen hielt sie im Bann, sie hielten ihre Köpfe schief und litten mit der Kranken.
" Schwester------"
Okayo suchte in einer Pause der Wehen die Hand der Schwester. Der starke Blutverlust hatte schon ihre Sehkraft getrübt. Takae schob die Leute, die an der Tür standen, beiseite und trat an die Kissen. Das Kind, auf das sie ihre letzte Hoffnung setzte, war noch nicht geboren. "Ich bin ja bei dir, Kayo-tjan - faßt meine Hand, halt' dich ganz fest." Takae zog ihre Augenbrauen hoch wie im Wahnsinn und ließ die beiden suchenden Hände der Schwester sich an den ihren festklammern. "Faß doch fest, sei nicht so bange, kleines Häschen. " Die Schmerzwellen zermahlten den schwachen Körper der Kranken, daß sie sich zusammenkrümmte; dann wieder bog sie sich hoch und ihr ganzer Körper warf sich wie verbrennendes Papier in der Flamme. Die ältere Schwester bemühte sich, das kleine Leben, das die Flut entführen sollte, in ihren Armen zu bergen.
Hagimura wurde vom Arzt und der Pflegerin in die Ecke geschoben und saß und stand abwechselnd hilflos herum. Er glaubte, irgend etwas tun zu müssen, wußte aber nicht, was er anfangen sollte, grad' so, als stände er vor einem sich zu rasch drehenden Zahnrad. Außerdem machte ihn diese Szene, vor der ein Mann immer Angst hat, an sich schon verlegen.
Man hörte die heisere Stimme des alten Vaters: "Sie stirbt - bitte, bitte, helfen Sie ihr doch."
Die Frucht, noch nicht sechs Monate alt, war infolge der Beri-Beri-Krankheit im Mutterleib abgestorben, und das Mädchen war zu schwach, das tote Kind herauszutreiben. Sinnlos quälte sie sich in den Wehen. "Hallo, holen Sie noch einen Arzt ------ wenn sie einen Herzkrampf bekommt, ist alles vorbei ------ ganz gleich wer, aber schnell bitte. "
Der Arzt sagte das grob, ihn kümmerten die Gefühle der Kranken nicht weiter. Hagimura eilte hinaus.
Die schmerzenden Wehen kamen in immer kürzeren Zwischenräumen.
Die Nachbarin, die in der Küche vor Hilflosigkeit fortwährend Wasser kochte, drehte jedesmal, wenn das Stöhnen lauter wurde, den Kopf
zur Kranken und sagte:
" Noch mal tief Atem holen - so - noch mal - preß dich zusammen... Oh - ah - ja, ja sie ist so herunter." -
Das tote Kind war schon mit dem Kopf heraus, die Krankenschwester saß gebückt bei der Kranken, wandte sich zum Arzt und berichtete:
" Herr Doktor, schon eine Stunde und sieben Minuten seit dem ersten Wasser."
Wenn die Welle des Schmerzes zurückebbte, wurde das Bewußtsein der Kranken ganz matt, sie fiel in sich zusammen wie ein Blasebalg.
Dieser Zustand war noch gefährlicher als die Zeit, in der sie von den Schmerzen gequält wurde. Dann zog Takae sie stark an den Haaren, um sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.
" Du mußt es herauspressen, selbst das tote Kind muß heraus - sonst muß Okayo sterben. "
" Schwester... " flüsterte Okayo und suchte Takaes Hand, wenn mit dem Schmerz das Bewußtsein wiederkam.
Die Kinder aus den Baracken, die vor der Tür standen, begannen zu weinen.
" Bitte, bringen Sie das Kind heraus, und wenn Sie es zerschneiden müssen, meine Schwester muß leben, auf jeden Fall!" Takae sah böse auf den Arzt, der mit seiner kalten Geschäftigkeit die Kranke loswerden wollte, und schrie wie besessen: "Verdammt, wenn meine Schwester stirbt, werde ich diesen Hunden, dieser Polizei, die Kehlen durchbeißen."
Die dicke Krankenschwester, die die beiden Schenkel der Kranken
hielt, sah erschrocken in das wilde Gesicht. Hagimura kam keuchend zurück:
" Er kommt gleich - es ist ein Arzt für innere Leiden, ist es gut so?" Der Arzt nickte böse.
" Ich habe seinen Koffer mitgebracht, damit er kommen muß. " Dann trat er leise an die Kissen. Okayo lag schon wie tot. Nur ein leises Stöhnen, wenn sich beim Einsetzen der Wehen der zuckende Körper aufbäumte, verriet noch, daß Leben in ihr war. "Kayo-tjan, siehst du mich noch - Hagimura -."
Der große starke Mann flüsterte an ihrem Ohr. Aber ihre leeren Augen bewegten sich nicht, sie erkannte ihn nicht mehr. In ihrer völlig veränderten gelben vertrockneten Stirn lagen die großen, versunkenen Augen, in denen nur eine wehe Erinnerung an die ehemalige Okayo blieb -wie vom Wind verwehte Blüten.
" Bleib bei dir, Okayo", schrie Takae krampfhaft, wie irre, jedesmal, wenn der Druck der kranken Hand nachließ.
Der andere, schweigsame Arzt kam herein, die beiden Ärzte begrüßten sich mit einer Höflichkeit, die wenig zu der Stimmung in diesem Zimmer paßte. Dann berieten sie sich über die Behandlung, nahmen verschiedene Nickelinstrumente und bereiteten die Operation vor. Da bewegte Okayo den Mund. Takae hielt ihr Ohr schnell an den zitternden Mund der Schwester und fragte: "Was willst du?" Okayo war jetzt vollkommen von Sinnen und hatte Haluzinationen; sie faßte den rechten Arm Hagimuras und sagte mit schlaftrunkener Stimme wie ein gesunder Mensch:
" Saburo (das war der Vorname Miatjis), es geht mit mir zu Ende. Alles vorbei - vorbei - unser Kind auch... "
Okayo bewegte den Mund, ruhig und kaum hörbar: "Der Streik ist auch vorbei - - alles vorbei - -."
Aus ihrem Gesicht verschwanden die Schatten der Schmerzen und Qualen. Takaes rotgeweinte Augen spiegelten Verzweiflung und Verwirrung wider. Die letzten Worte der Schwester preßten ihre Kehle zusammen, sie legte den Kopf auf die Kissen, ohne einen Laut - ohne zu weinen ------.
Die Kranke ließ ihre Hand vom Arm Hagimuras herabfallen.

Okayo war tot - ein Herzkrampf hatte ihr Leben beendet, wie eine Blüte, die der Wind fortweht.
" Machen Sie keinen Unsinn", sagte Takae zu den zwei Ärzten, die mit ihren Messern sich der Toten näherten.
Sie weinte nicht mehr.
Auf das erkaltende Gesicht der toten Schwester starrend, saß sie an den Kissen, regungslos wie ein Stein. Schluchzen kam vom Fußboden der Küche. Der kranke, alte Vater stierte irre auf einen Punkt. Die Leute aus den Baracken sammelten sich, sie holten aus der Pumpe Wasser und füllten die leeren Reiskästen mit Reis und kochten Essen für die Familie. Sie legten den Leichnam dorthin, wo die Bettmatte des alten Vaters gelegen hatte; der alte Hiko, der gegenüber in der Baracke wohnte, saß vor dem kleinen Hausaltar und schlug die Glocke. In der kleinen Kammer und in der Küche saßen die vielen Leute gedrängt, beteten die heiligen Texte und hielten die Totenwache.
Am nächsten Morgen kamen alle Streikenden, sie stellten die rote Fahne an das Kopfkissen der Toten.
Hagimura beriet mit dem Alten die Trauerfeier und sammelte Geld von den Streikenden, die ohne Zögern von dem wenigen gaben, das sie selber hatten.
Am nächsten Abend wurde der Leichnam über die Brücke des Senkawa-Kanals, den Haksuan-Abhang hinauf, zum Armenfriedhof in Soshikawa gebracht. Über die einsamen Gräber wehte wild der Winterwind, am Saume des Waldes verwob sich die Dunkelheit in den Baumkronen.
Takae stand tränenlos an dem kleinen Grabhügel. Ringsum standen die Trauernden, schweigende Sterne. Als Vertreter der Streikenden verlas Takagi vor dem Grabhügel die Abschiedsworte. Die rote Fahne der Streikenden, von Mori, einem Freund Miatjis getragen, bewegte sich schwer und dunkel über dem kleinen Grabhügel.
"... wir stehen jetzt, mit diesem neuen Opfer, auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Wie können wir diesen Toten danken------?"
Aus einer einfachen Schale stieg der Weihrauch inmitten einer dichten Menschenmauer hinauf in den Abendhimmel. Ojah, Fusa-tjan, Okimitjan, Gin-tjan nahmen ein wenig Räucherpulver, sie hatten alle verweinte Augen - streuten das Pulver in die Schale und schluchzten. "Tote Genossin, du hast im Leben wenig Glück gesehen. Wir werden die Erinnerung an dich in unseren Herzen tragen und in unser Gedächtnis eingraben."
Okimi begann plötzlich laut zu weinen. Nun kam das Weinen von allen Seiten.
Takaes Lippen zitterten, aber ihre Tränen waren eingefroren------.
" Wir schwören an deinem Grabe, unter unseren Fahnen, daß wir unsern Kampf bis zur Entscheidung fortführen werden. "
Mit gesenkten Köpfen standen regungslos die Frauen. Einige Männer begannen zu singen, in einem Augenblick schwoll das Lied hoch an, alle sangen.
Nur sie konnten es wagen ihre Trauer, ihre Freude, ihren Zorn, all ihre Gefühle in diesem Gesang, diesem Rhythmus zu bergen.
" Fahne des Volkes - rote Fahne------"
Die Fahne flatterte von den singenden Stimmen bewegt. Vom fernen Horizont drohte die Finsternis, die singenden Stimmen wurden vom Wind verweht und vom Wald verschluckt. Dann ging die Fahne vom Grabe fort, und die Leute zerstreuten sich langsam.
Die Sonne war jetzt ganz untergegangen, und der Grabhügel blieb einsam und verlassen. Takae kniete vor dem Grabe. Sie fühlte die kalte Erde, unter der ihre Schwester schlief, ihr erstarrtes Herz wurde weicher. "Kayo-tjan..." Der Wind trug den Ruf fort. "Kayo-tjan, antwortest du nicht mehr - -?"
Plötzlich überfiel sie der Schmerz, und ihr Rücken zuckte, von einem heftigen Weinkrampf erschüttert. "Mein Kind, mein liebes, das ist dein Vater. "
Sie nahm ein Photo Miatjis aus der Tasche und legte es auf den Hügel . Hagimura stand hinter ihr und wagte nicht, sich zu bewegen. Er war tief erschüttert. Die Nacht senkte sich über den Friedhof, auf dem außer ihnen kein Mensch mehr war, und in der Tiefe der Dunkelheit verschwand der Grabhügel. "Okayo, Okayo ... "
Takae drückte ihren Kopf auf die Erde, weinte und schrie und tobte verzweifelt. Die fernen Büsche verloren in der Dunkelheit ihre Umrisse, der Wind wühlte in ihnen und wirbelte um den Grabhügel, unter dem Okayo mit ihrem toten Kind schlief.

 

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