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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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Sturm

I. Am Vorabend

Wie alle anderen Weltstädte hat Tokio seine Vororte mit einem Ring von Fabrikvierteln umgeben. Südlich von Shinagawa zieht sich ein breiter Gürtel von Tokio nach Yokohama. An der Ostseite bildet Oshima den Mittelpunkt.
Die ganze Gegend von Skishima ist dem Wasser abgewonnen. Im Norden von Tokio liegen Nordsenjiu und Südsenjiu, südöstlich davon Oji und Jujo. Immer mehrdehnen sich diese Fabrikviertel, die Barometer der großkapitalistischen Zentralisierung, aus. Die Macht des sich fort und fort vermehrenden Kapitals ebnet alle Berge ein, trocknet die Sümpfe aus, kanalisiert die Flüsse und baut Straßen. Diese Viertel werden immer größer und breiter, recken sich nach allen Himmelsrichtungen, nach Südwest, Südost und Nordost, wie das Meer, das sich in das Land
hineinfrißt.
Es fängt an mit den Ankauf des Bodens; der Bauer verliert seine Rechte und die rückständige, der Provinz eigentümliche Lebensweise ändert sich von Grund auf. Damit beginnt das Durcheinander der wirtschaftlichen, politischen und strategischen Konzentration der bürgerlichen Parteien, der Aktionen und Korruptionen. Aber diese Schattenseiten werden durch den "Aufbau der Wirtschaft" oder den "kulturellen Fortschritt" überschminkt. Und nun herrscht das Großkapital in diesem neuen Königreich stolz, feierlich und brutal wie Don Quijote auf seiner fernen Insel (Anm.: So im Original. Der berühmte Roman des Cervantes ist das meistgelesene europäische Buch in Japan.).
Die riesige Fabrik steht mitten in der Stadt wie eine Burg, wie ein Schloß auf dem Berge.
Man baut ein Polizeiamt und auf den früheren Reisfeldern unterhalb des Dammes am Wasserfeld, werden aus alten abgetakelten Güterwagen Baracken erbaut, um für das zerbrechliste Rohmaterial der Fabrik, den Menschen, Schlafstellen zu liefern. Das lärmende Geheul der Sirenen weckt die Menschen und treibt alle aus den Wohnlöchern, mit Ausnahme der Nachtmädchen, die gespenstisch geschminkt in ihren Betten bleiben. Der schwarze Rauch aus dem größten Schornstein verdunkelt selbst die Sonne und die Ketten der Kräne lassen die öligen Wasserflächen erzittern. Die rotglühenden Kessel winden sich wie Fieberkranke im Schüttern der Fabrik.
Die größte Autorität in einer solchen Fabrikstadt haben der absolutistisch schaltende Polizeipräsident und die Sozialpolitiker: Stadtverordnete und Missionare, lammfromm wie Bräute; der buddhistische Priester dumm wie ein Stein; der Arzt mit seiner albernen Liebenswürdigkeit. Um das gemeinsame Ziel aller hier zusammenwirkenden Kräfte zu fördern, gibt es billigen Reis, Wein und Scharen billiger Frauen. Das sind die Fabrikviertel, die Lungen der Großstadt. Sieben Stockwerke hohe Gebäude werfen riesige Schatten auf das Pflaster. In den Villen der Reichen, den großen Kaufhäusern, die die Mode ausspeien, unter der Kuppel des Reichstages, in den Tanzsälen der großen Hotels, den Theatern und Music-Halls, in den Palästen der großen Banken im europäischen Renaissancestil pulst das Blut, das die Vorstädte speisen.
In gelbbraunen Lederkoffern wird dieses Blut als vornehmste Habe in der Zentrale in Sicherheit gebracht - zur Bank, in die Wechselstuben, Börsen, Kaufhäuser, Theater, Bars, vornehmen Restaurants, Tanzhallen und so weiter.
Ein kluger bürgerlicher Politiker hat im Reichstag vorgeschlagen, alle Fabriken aus der Stadt zu verlegen.
" Eine bequeme Wohnung muß immer in Ordnung sein. Küchen, Dienerkammern und Aborte werden immer so angelegt, daß sie die Stimmung der Hausbewohner nicht stören. Das ist nicht nur nützlich und nicht nur um äußerer Schönheit willen, sondern weil man dadurch auch von Lärm und Gestank befreit wird; vom hygienischen Standpunkt aus ist es ein unbedingtes Erfordernis. "
Der Reichstag nahm diesen "Vorschlag zur Güte" einstimmig an. Die "Straße ohne Sonne" im Kotshikawabezirk würde danach das Schicksal haben, zwei Meilen weit fortgejagt zu werden.
Jetzt, wo Tokio von fortschrittlichen Kapitalisten Europas und Amerikas besucht wird, darf eine solch schmutzige Gasse nicht mehr mitten in der Stadt bleiben. Zudem war das "malerische Waldtal", das der Kronprinz beim Besuch des Seminars entdeckt hatte, eine besondere Sehenswürdigkeit der Stadt. Solch ein Schmutzfleck ist im schönen Tokio eine Ausnahme. Deshalb sollte diese "Straße ohne Sonne" schon in nächster Zukunft mit ihren Barackenreihen nach außerhalb wandern, um' das Ansehen der Großstadt nicht zu stören.
Es trägt doch wirklich auch nicht zur "allgemeinen Harmonie" bei, wenn auf dem schönen Pflaster die Lastwagen fahren, in den Wartesälen der großen Banken die blauen Arbeiterblusen sitzen, auf dem Parkett der Tanzahallen die Arbeiterinnen tanzen, in den großen Schaufenstern der Kaufhäuser Essenkästen aus Aluminium, blaue Arbeitshosen und gestrickte wollene Unterröcke ausgestellt werden!
Erst wenn die neuen Typen von Citroen, Buick und Nash auf dem staubfreien Asphalt fahren, wenn gut manikürte Hände aus Pelzärmeln heraus im Scheckbuch blättern, wenn die Damen in schönen, glänzenden Kostümen ihre schlanken Rundungen tanzen lassen, wenn die kostbaren, zarten Gewege mit noch kostbareren Edelsteinen geschmückt werden -dann erst wird die Stadt in ihrem richtigen Lichte glänzen. Ja, nur dafür existiert die ganze kapitalistische Kultur, ihr System, dazu haben ihre Abgeordneten ihre Gesetze geschaffen. Funken fliegen!
Von der Stadt ausgehend verbreitet es sich nach allen Seiten und brennt, wie vom Wind gejagter Heidebrand. Wenn die Abenddämmerung in den Schatten der Berge kriecht, lodert der Brand auf den Feldern, am Bahndamm der Vorstadt Oji.
Kinder mit glühenden Backen schlugen mit Standen das vertrocknete Gras auf dem Damm, daß dürres Heidegras und Schilf zitternd und schwankend, vom Feuer fortgepeitscht aufflog.
" Guck mal, schon wieder ein voller Wagen" schrien die Kinder und winkten mit den Händen. Es war auffällig , in wie kurzen Abständen heute die überfüllten Wagen hintereinander kamen.
Die Elektrische fuhr über das Feuer, gegen den Wind stürmend vorbei. Die Wagen waren mit Menschen überladen.
Zornige Gesichter - traurige Gesichter - Arbeiterblusen - abgetragene Mäntel - Arbeiterinnen, die Gesichter halb von schwarzen Schals verdeckt.
Die elektrischen Bahnen hielten am Berg; ihre Körper zitterten. Jedesmal, wenn eine Bahn hielt, stiegen Rufe auf - Bansai (Anm.: Eigentlich 10 000 Jahre; d.h. soll er leben)! Wieder der nächste Wagen - noch einer und noch ein dritter. Alle waren überfüllt und spuckten die Massen an der Endstation am Askajamaberg aus.
Die Kinder machten Trompeten aus ihren Händen und schrien: "Hallo, wohin geht ihr?", aber die Massen gingen schweigend, als wären sie böse, stiegen den Berg herab und drängten nach der Vorstadt Oji hin. Männer, Frauen und Kinder gingen, als hätten sie nichts miteinander zu tun, scheinbar ohne jede Eile, und überschwemmten die Straßen der Stadt, die schon in Abenddämmerung lag. Niemand wußte wohin. Nur die Hunde mit ihrer scharfen Witterung spürten, daß diese Massen einen gemeinsamen Geruch hatten.
" Was ist da nur los?" Die Kleinbürger der Vorstadt ließen ihre fragenden Augen über die Scharen der unbekannten Arbeiter schweifen. Der Polizist an der Eingangsstraße telephonierte übereifrig an das Polizeiamt.
Aber die Massen ließen ihre Absicht noch nicht erkennen. Mit wachsender Dunkelheit schien sich die Zahl der Arbeiter ungeheuer zu vermehren. Sie gingen, mit niedergeschlagenen Augen, andere mit hocherhobenen Kopf, immer zwei oder drei in einer Reihe. Arbeiterblusen Sweater - Mäntel - Arbeiterinnen, deren schwarze Schals im Wind flatterten.
Auf der Hauptstraße, in den rückwärtigen Gassen, um die Fabrik, im Schatten der Mauer, auf den Schienen für die Handloren, unter den Bergen, vor den Warenläden, auf dem großen Platz der Stadt - sie über schwemmten wie eine Flut von Schatten die Askaijamaberge bis an die Ufer des Ojikawa - immer mehr - immer mehr. Die Kleinhändler der Stadt kamen auf die Straße und sagten erstaunt: "Sie sind anders, als sonst die Leute bei einer Kundgebung. " Gerade tagte die Protestkundgebung der ausgesperrten Arbeiter der Oji Papierfabrik in einem Winkel im Osten der Vorstadt. Aber diese Massen kamen von der Endstation der Vorstadtbahn.
Immer mehr stieg die Verwirrung. Die Bewohner der Stadt wurden unruhig. "Aber, ich verstehe das nicht."
Sieh, wie finster und zornig sie alle aussehen", sagte der Wirt eines Reisweinausschanks zu seinem Nachbarn, einem Kuchenbäcker. "Vielleicht richtet sich ihr Haß gegen die Papierfabrik hier?" Vollkommene Finsternis senkte sich über den Horizont, die Lampen an den Häusern wurden zahlreicher. Vor dem Berg stand die Oji-Papierfabrik. Acht Straßen gingen, wie die Felder eines Schachbretts, von ihr aus. In diesen Straßen gab es Kinos, Schulen, Cafes, Kabaretts und zahlreiche Lebensmittelläden, die genau dieselbe Rolle spielten wie in der "Straße ohne Sonne". Sie waren sehr billige und ärmliche Speisetische des Barackenzuges, der sich um diese Vorstadt lagerte. Vor dem Tor der Fabrik lag der einzige Platz der Vorstadt mit seinen Cafe's, Bars, Bücherläden und Kleidergeschäften, die Kulturzentrale dieser Stadt.
Die Bäume an den Bergen verschwammen im Dunkel, immer noch stieg Schar um Schar den Berg hinab, kam aus dem Schatten der Bäume hervor, aus den Schluchten der Wiesen. Bald war auch der Berg unter schwarzen Massen begraben. Jetzt kam das Geknatter eines Motorrades aus einer der Straßen, die Bewohner sammelten sich aufgeregt flüsternd vor den Ladentüren: Die Kundgebung ist zu Ende - jetzt kommt der Polizeileutnant! Das scharfe Knattern kam näher. Der Polizeileutnant in blitzender Uniform, den Säbel zwischen den Beinen, saß mit vorgereckter Brust in dem Beiwagen der Maschine.
" Jetzt kommen die Leute aus der Kundgebung. "
Vier oder fünf Gewerkschaftsfahnen mit blanken glänzenden Fahnenspitzen kamen in der drängenden Menschenmenge näher. Die Massen schrien zornig - nein, sie sangen, aber man verstand die Worte nicht, weil es zuviele waren und mit ihren schrillen Stimmen, wie das Pfeifen der tausend sausenden Treibriemen in der Fabrik, auseinandergerissen wurden. - In diesem Augenblick erlosch auf einen Schlag alles elektrische Licht in diesem Stadtteil. "Eine Störung!"
Nur die Sterne brannten an dem kalten, dunklen Himmel. In den finsteren Straßen schrien verwirrt und aufgeregt die Anwohner - was hatte das zu bedeuten? Aber die Fahnen marschierten unbeirrt weiter. In der Nähe des Fabriktors beschleunigten die Massen ihre Schritte und bald begannen sie zu laufen. Die Massen wurden dichter und größer, von den Ecken der Straßen, unter den Dächern der Häuser hervor drangen die schwarzen Schatten in die Dunkelheit des Platzes und ballten sich vor der Fabrik zusammen, dunkle, rote Fahnen schwammen über den ersten Reihen. Sie überschwemmten den ganzen Platz und verjagten alles mit ihrem Lärm.
Auf dem Berg hinter der Fabrik funktelten aus den schwarzen Schatten lauernde Augen in die Tiefe. Unter ihnen lag die wie ein Panzerschiff bestückte Fabrik und streckte ihren Eisenbetonbauch auf dem Grunde der Finsternis. Dort, wo man die Fabrik fast mit Händen greifen konnte, standen die großen Schornsteine wie Dämonen und wirkten noch düsterer, weil sie keinen Rauch ausspien. Die Mauer, hoch und dick, wie von einem Gefängnis, begann unten am Berg, zog sich über die Straße bis an das Ufer, wo die Wellen des Ojikawa in der Finsternis leuchteten.
Die Mauer hob und senkte sich gleich der "chinesischen Mauer" bis an den Fluß. "Wo ist das Hintertor?"
Unterhalb des Berges lagen die sägeförmigen Dächer der Fabrikgebäude mit festverschlossenen Eisentoren. Ihren Mittelpunkt bildete das spitze, kegelförmige Dach der großen Filteranlage. Von dort aus liefen sternförmig die einzelnen Fabrikgebäude.
Die schwarzen Schatten starrten schweigend auf die riesige Bestie und hielten den Atem an.
Fünf Minuten - zehn Minuten - plötzlich sprang ein Schatten auf die Mauer neben dem Haupttor und schwenkte eine Fahne. Das dunkle Fahnentuch flatterte in der Finsternis wie eine riesige Fledermaus. Da - ein Schrei stieg auf - ein großes Geräusch, wie ein Bergsturz rollend, flog brausend um die Fabrik, brandete gegen den Berg, schwoll wieder zurück, hin über den Fluß Ojikawa und erfüllte die ganze Vorstadt, donnernd brauste es unter dem Nachthimmel. Bäume umreißend das Gras zerstampfend, rollten die Menschenmassen wie eine Lawine herab - hunderte - tausende - zehntausende drückten gegen die Mauer, kletterten auf die Gitter, die Tore, krochen wie Ameisen auf die Mauer Die Mauer war in ihren ganzen Länge von den schwarzen Schatten umspült. Die Augen funkelten. Wie vom Teufel besessen stürmten die untenstehenden über die sich den Berg hinabziehende Mauer. Das Getös wurde zum Sturm, der die Stille der Nachtdurchbrach, der die Fabrik mit der Schnelligkeit des elektrischen Funkens umraste und stoßweise, wie ein Taifun, heulte. Die Finsternis war erschüttert und zerrissen; auf der Höhe der Betonmauer wirbelten und tobten die Fahnen. Es war ein Vulkan, der plötzlich kochende Wassermassen emporwirft.

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