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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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Front

I. Verhaftung

Der eisige Wind stieß von beiden Seiten tobend in das Tal zwischen dem Shimizudanihang und dem Haksuanwald herunter und stieg wie eine Fontäne wieder über die nassen, schmutzigen Dächer der Mietkasernen, die wie altes Papier im Regen lagen.
" Hallo, Essen kommt", schrie eine Frau im roten Wollunterrock an der Wasserleitung der ersten Baracke und schwenkte die Kinderwindeln, die sie gerade gewaschen hatte. Sie sah den Lastwagen, der seinen Hintern hochspringen ließ wie ein Pferd, als er über die Straßenbahnschienen in die Straße einbog.
Dieser Lastwagen, mit langen Fahnen behangen, war mit Reissäcken, Shoju (Anm.: Japanisches Maggi.) und allem, was nötig war, beladen. Aus der Baracken kamen eilends fünf oder sechs Frauen und einige Kinder in dünnen Schlafhemden.
" Wartet, wartet - das ist - das ist... " schrie Otatso die geschwätzige Alte, sich vordrängend, "das ist der Lastwagen unseres Bundes, der Genossenschaft in Kanto. "
Die alte Otatso, die die Schriftzeichen ihres eigenen Namens nicht zu lesen verstand, kannte schon die Inschriften der Fahnen auf dem Auto. "Bravo, sie leben - hoch!"
Die Männer auf dem Wagen erhoben ihre Fäuste. . "Bravo!" antworteten die Weiber und Kinder.
Siehst du, unsere Genossenschaft ist immer noch obenauf, wenn die Kleinhändler auch vom Streik schon pleite gehen." An diesem Morgen war Okayo mit blassem Gesicht aufgestanden. Immer wieder mußte sie in diesen Tagen an Miatji denken, als sie unter dem Herd Feuer machte, als sie sich ihr Gesicht wusch, immer, das Bild Miatjis kam nicht aus ihren Gedanken.
Der Kopf war ihr schwer, ihre Brust schmerzte, und obwohl sie sich zusammennahm, fühlte sie eine Müdigkeit in allen Gliedern, als wollten die Gliedmaßen auseinanderfallen. Die Schwester meinte, das sei der natürliche Zustand der Schwangerschaft und tröstete sie. Okayo wollte der Schwester keine Sorgen machen, sie scheute sich vor der tatkräftigen Schwester zu klagen.
Sie fühlte in diesen Tagen die ersten Bewegungen des Kindes. Das kleine Wesen, dessen Dasein sie vor einem Monat noch nicht geahnt hatte, wuchs unaufhörlich in ihrem Leibe. In ihren leeren Gedanken empfand sie diese ersten Bewegungen des Kindes wie Stoße und wurde selbst verzagt wie ein Kind. Während sie gemeinsam mit ihren Kollegen in ihrem Streiklokal arbeitete, trat auf ihr junges Gesicht mit der Momoware-Frisur plötzlich der Ausdruck eines Erschreckens, in dem Freude und Leid nicht zu unterscheiden waren.
Aber ihr Schicksal war nur eine belanglose Episode an der revolutionären Front. Unaufhörlich warteten neue Aufgaben, sie mußte noch in der Straßenhandel- und in der Verpflegungsabteilung arbeiten. Seit gestern war eine Resolution im Lokal der dritten Streikgruppe, zu der Okavo gehörte, angeschlagen.

Resolution
Es muß jedem japanischen Arbeiter jetzt klar sein, daß die Unternehmer den Streik der Daido-Druckerei ausnutzen wollen, um, wie die Gesellschaft es schon im Frühjahr geplant hat. die Gewerkschaften zu vernichten.
Dieser provokatorische Angriff der Gesellschaft ist zweifellos der erste Hieb, den die herrschende Unternehmergesellschaft gegen die proletarische Klasse geführt hat. Die Verbrechen der Unternehmerklasse haben jetzt die unrettbare politische und wirtschaftliche Katastrophe verursacht, und nun wollen sie alle Lasten dieser Katastrophe der proletarischen Klasse aufwälzen und die werktätigen Massen in Arbeitslosigkeit und Hunger stoßen.
Jetzt haben wir Proletarier klar zu erkennen, daß wir die Streikenden der Daido-Druckerei vor der Gefahr der räuberischen Offensive der Unternehmer unterstützen müssen. Alle müssen der Bedeutung dieser großen Aufgabe bewußt werden.
Das erste erweiterte ZK des Rates der japanischen revolutionären Gewerkschaften ruft alle angeschlossenen Gewerkschaften Japans auf, mit aller Kampfkraft den Streikenden der Daido-Druckerei zu helfen. In den kommenden Kämpfen müssen wir einen entscheidenden Sieg erringen.
(Streikdokuments. 38).
Das erste erweiterte Zentralkomitee des Rates der japanischen revolutionären Gewerkschaften.

Diese Resolution hatte der Vorsitzende Oda mitgebracht, als er vor- gestern von Osaka kam. Der Kampf war in eine dritte Etappe eingetreten und hatte das schon ermattende Feuer der ermüdeten Streiker von neuem entfacht.
Die Lokale der einzelnen Streikgruppen rund um den Bezirk Kotshikawa hatten schon oft gewechselt. Durch die Maßnahmen der Gesellschaft und der Polizei ließen sich die Gruppenlokale nie länger als eine Woche halten. In diesen immerfort wechselnden Lokalen kamen die Streikenden jeden Morgen um sieben Uhr zum Appell. Das Lokal der dritten Streikgruppe, zu der Okayo gehörte, war vom Emme-intempel in Kotshikawa nach einem Kabarett-lokal in Janagimathi und dann zum Gume-ijitempel gewandert, zuletzt war die Gruppe wieder in den Shime-Saalbau im Honko-Bezirk eingezogen. Jede Streikgruppe wurde von einem oder zwei Gruppenleitern geführt, und alle Angelegenheiten wurden im Gruppenkomitee beschlossen. In den Gruppen gab es eine eigene, autonome Rechtssprechung. Außerdem gab es noch Streikgruppenzellen, die zur S-Abteilung gehörten und von der höchsten Streikleitung zusammengesetzt wurden. Sie hatten alle Abweichungen in den Streikgruppen aufzuklären und außerdem die verschiedenen Aktionen durchzuführen.
Jede Gruppe umfaßte ungefähr 300 bis 400 Mitglieder und stellte einen sozialen Organismus dar, dessen Mitglieder sich gegenseitig in ihrer Not halfen; selbst die Konflikte der Eheleute wurden von einem Gruppengericht geschlichtet. Dort war man entweder ganz radikal oder ganz konservativ, aber immer wieder offenbarte sich doch die Fähigkeit zu klarster Kritik.
Rund um die Gruppenkomitees waren die Meinungen in ständiger Bewegung. Die Meinungen beherrschten die ganze Atmosphäre der Gruppen trotz aller Gefahren. Die Befehle der höchsten Streikleitung mußten sich oft erst der öffentlichen Gruppenmeinung anpassen. Aber diese öffentliche Meinung wurde zeitweilig durch Gerüchte beeinflußt, die von der Gesellschaft und der Gegenpropaganda der Spione ausgestreut wurden. Die Genossen verloren die Siegeszuversicht und die ganze Gruppe wurde verwirrt; doch diese Fälle waren selten. In der Hitze des Kampfes erregte sich diese öffentliche Meinung derart, daß jeden Augenblick die Explosion erfolgen konnte - wie bei Lokomotiven, die bis an den Hals Kohlen geschluckt haben.
Die Spitzel der Gesellschaft bewiesen manchmal eine solche Geschicklichkeit und Frechheit, daß sie den scharfen, durchdringenden Augen der Gruppenzellenleitung entgehen konnten. Sie schmuggelten sich in wichtige Funktionen der Streikgruppen, fälschten Befehle der höchsten Streikleitung und versuchten verschiedentlich, gefährliche Pläne durchzuführen, um damit eine ganze Gruppe auf einmal zu vernichten. Die Gruppe war auch die Familie der Streikenden. Sie säuberten des Morgens ihr Lokal, ordneten die Garderobe und gaben alle wertvollen Gegenstände einem dazu bestimmten Genossen in Obhut. Die Arbeiter, die im Augenblick ohne besondere Funktionen waren, sorgten für Unterhaltung und spielten "ihr Theater". Sie waren alle gute Schauspieler und gute Kritiker. Mittags kam die Verpflegungsabteilung mit Reisklößen und verteilte den Tee. Das armselige Posium war Diskussionstribüne und feierlicher Richtertisch, gleichzeitig aber auch die Bühne für ihre Schauspiele.
Da geschah es wohl manchmal, daß über die Liebesgeschichte zweier Streikenden hergezogen wurde - aber von Tag zu Tag häuften sich die Berichte über die elende Lage der Streikenden und ließen alle Anwesenden ernst werden. Die Spitzel schmuggelten sich immer häufiger in die wichtigsten Stellen, immer unverhüllter bedrohte die uniformierte Polizei die Frauen und Kinder und versuchte sie von den Lokalen fortzujagen. Gerüchte flogen immer öfter herum und schnürten die Kehlen der Gruppen zusammen. Um die Gruppen noch fester zusammenzuschweißen spannten die Gruppenzellen alle Kräfte an. Ein Bote, der vor dem Eingang des Lokals sein Rad abstellte, sprang zum Gruppenkomitee.
" Hallo, habt ihr heute morgen um 10 Uhr Auftrag gegeben, daß ihr zehn Abwehrmänner haben wollt?"
Das Gesicht des Jungen in Mütze und Kittel war von der rasenden Fahrt gerötet. Die Komiteeleute antworteten augenblicklich, ohne erst ihre Akten einzusehen:
" Nein, wir nicht, wir hatten überhaupt keinen Bedarf daran. " Der Bote fragte schnell noch einmal:
" Aber, Genosse Wakabajashi, dein Name stand darunter und der Stempel."
Der Bemützte fragte dringend und rieb sich seine erstarrten Hände. Die Genossen sagten wie aus einem Munde:
" Absolut nicht, wer hat denn eigentlich den Auftrag zu euch gebracht?" Die Tatsachen lagen klar. Die vier Männer, die den Auftrag zur fünften Gruppe gebracht hatten, standen seit gestern auf der Appelliste als fehlend, und in dem Bericht der Wohnungsbesuchsgruppen, die diese Leute aufgesucht hatten, stand für alle vier: "Gestern nacht nicht nach Hause gekommen, Erklärung der Angehörigen."
Die Gruppenzelle berichtete telefonisch der S-Abteilung und dem Gruppenkomitee der fünften Streikgruppe, und dann fuhr der Bote mit dem Rade zur Streikzentrale.
Am selben Nachmittag wurde Okayo vor dem Lokal von einem seltsamen Manne angerufen. Er war ein dicker Mann von etwa dreißig Jahren, der unter einem Havelock einen japanischen Kimono trug, der seine fette Brust sehen ließ. Sie hielt ihn erst für einen der Streikenden, und trotzdem sie ihn außerordentlich unsympathisch fand, ging sie ganz unbekümmert zu ihm hin. Es war gar nicht selten, daß ein Mann von einer anderen Gruppe mit einem Anliegen oder einem Wunsche zu ihnen kam. "Bist du Kayo-tjan?"
Sie trat ängstlich einen Schritt von diesem merkwürdigen, unsympathischen Menschen zurück. "Miatji hat mir eine Bestellung übergeben..." "Das ist ein Spitzel."
Sie ließ sich nicht täuschen, drehte sich auf dem Absatz herum und wollte fort. "Warf mal."
Der Mann hatte eine durchdringende Stimme, er sah sie, die überrascht stehengeblieben war, scharf an und kam näher. Er änderte sofort seinen Ton und lächelte: "Ich habe eine Frage. "
Aber der Ort war seinem Vorhaben nicht günstig, sie standen dicht vor dem Eingang des Lokals. Wie er sich umsah, kamen Oja, Takae, Ma-tjan und Fusa-tjan von der Haltestelle der elektrischen Bahn, sie gehörten zur Wanderreferentengruppe und wollten jetzt in das Lokal. "Was ist los?"
Takae hatte schon von weitem die beiden bemerkt und sprang heran. "Geh' gleich in den Saal, du brauchst nicht hier herumzustehen." Sie nahm ihre Schwester unter den Arm und zog sie von dem aufdringlichen Kerl fort.
" Du, das ist ein Spitzel, was hat er zu dir gesagt?" Okayo lächelte.
" Ja, er sagte so etwas wegen Miatji, aber ich habe ihm nichts gesagt." Sie hatte immer noch ein Gefühl der Angst. Takae war empört und sah sich noch einmal nach dem Kerl um, der den beiden Schwestern nachstarrte.
" Du brauchst keine Furcht mehr zu haben. Wenn man vor solchen Kerlen Angst haben wollte, dann könnte man auf der Straße nicht gerade gehen - aber wie häßlich er grinst... "
Takae wollte ihm eigentlich eine Fratze schneiden, aber sie ließ es bleiben und ging mit ihrer Schwester in den Sall, der in der ersten Etage lag.
" Du mußt immer sehr vorsichtig sein, Kayo-tjan. " Im Saal redete sich Oja mit hochgeschobenem Kinn in Eifer. Robuko Oja und Takae waren in der Frauenabteilung die besten Rednerinnen.
Von dem kleinen Nebenraum aus, wo Okayo mit ihrer Schwester stand, konnte man alle Gesichter im Saal wie unter einer Lupe sehen. Die Gesichter der Genossen, die zwei Monate langen schweren Kampfes durchgemacht hatten, sahen von hier noch vertrauter aus als sonst, das Feuer der Rednerin verband sich mit den Augen zu einer Flamme, die in allen Anwesenden brannte. Dann zitterte Schreien und Händeklatschen in Wellen durch den ganzen Saal. Takae sah die Gesichter, während sie das Manuskript ihrer Rede überflog, als die scharfe Stimme des Polizeikommissars rief:
" Halt!------"
In diesem Augenblick ging ein Beben durch den ganzen Saal, man schrie, die Säbel der Polizisten schepperten blechern, aber sofort beschwichtigte die ruhige Stimme der Gruppenleiterin die ganze Aufregung.
" Als nächste spricht die Genossin Takae Haruki von der Frauenabteilung. "
Wieder klatschten alle; noch während des Beifalls trat Takae auf die? Tribüne.
" Seit Anfang des Streiks bis heute sind 63 Tage vergangen, zwei volle Monate sind vorbei. Sieg oder Niederlage, davon will ich jetzt nicht reden, aber wir können stolz darauf sein, - nicht nur vor dem japanischen Proletariat, sondern vor den werktätigen Massen der ganzen Welt, daß wir fest zusammengeschlossen und mit ungebrochenem Kampfgeist gegen die Übermacht der Offensive des Kapitals gekämpft haben, und daß dieser Kampf in die Geschichte der Arbeiterbewegung für immer ein glänzendes Beispiel und ein unverlöschbares Dokument sein wird."
Während jeder Satz von Beifall unterbrochen wurde, schüttelte sie ihre festgebundenen Haare; eine Hand auf den Tisch gestützt, bewegte sie ihren Oberkörper hin und her, was eine Eigentümlichkeit von ihr war. Wenn sie an einen Höhepunkt der Begeisterung kam, schien ihr kleiner Körper unter die Massen springen zu wollen. Sie war eine wunderbare Agitatorin. Sie verstand leichter die Herzen der Arbeiter zu packen als das Herz eines Liebhabers.
Sie erwähnte verschiedene traurige Vorfälle und sagte, man dürfe sich durch solche erschütternden Kleinigkeiten nicht mutlos machen lassen, aber man müsse sich auch der Verantwortung für die Opfer bewußt sein. In diesem Moment klirrten die Säbel, und der Ruf des Kommissars erscholl: "Vorsicht!"
Sie hielt einen Augenblick inne, blies ihre Backen auf, ihre Augen brannten lebhaft:
" Aber wir dürfen nicht zulassen, daß diese Opfer Opfer bleiben, wir dürfen nicht nur leiden, wir müssen mit unseren Fäusten, mit unseren Leibern kämpfen, damit diese Todesopfer nicht umsonst gefallen sind."
" Halt!"
Gleichzeitig hörte sie den zweiten Befehl: "Verhaften!"
Ein Polizist sprang vor, packte sie an der Schulter und schleppte sie fort. Ein Teil der Genossen wollte zwischen sie treten, aber es war schon zu spät - alle Anwesenden sprangen auf die Tribüne, die Frauenleiterin Oja und Okayo kamen auch hinzu, es entstand ein großes Durcheinander... Arme und Beine, Hände und Füße - alles drehte sich in rasender Bewegung. Aber schon nach kaum fünf Minuten hatte die ausgezeichnet bewaffnete und geschulte Polizei diese Aufregung niedergeschlagen. Takae, Oja und Okayo und einige andere verschwanden auf der Treppe nach unten, von zahlreichen Polizeispitzeln begleitet. Als sie auf die Straße kamen, bemerkte Takae erst, daß auch Okayo mit verhaftet war.
Sie wurde fast wahnsinnig; der auffallende Mann von vorhin hielt Okayo am Arm.
" Was hat denn dieses Mädchen gemacht, warum ist sie verhaftet?" Takae bemühte sich ihre gefesselten Hände freizumachen, und wollte zu ihrer Schwester. "Laß doch, laß doch los!"
Sie schüttelte ihre verwirrten Haare und stampfte mit den nackten Füßen auf den Boden.

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