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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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III. Das geheimnisvolle Feuer 2

Terraishi, der sich auf der Kasugastraße von Hagimura getrennt hatte, stieg den Gokurukusiabhang hinunter, wo er etwa zehn Minuten eher als Hagimura auf der gegenüberliegenden Seite am Haksuanabhang anlangte.
Er wohnte in der zweiten Etage des Büros der zweiten Abteilung der Gewerkschaft, der Wohnung Hagimuras gerade gegenüber; unten im Tal zwischen ihnen, lag "die Straße ohne Sonne".
Er war von kurzer, gedrungener Gestalt, lief immer in einem alten Studentenmantel herum und trug eine Brille für hochgradige Kurzsichtigkeit. Auf seinem Wege wurde er sonst häufig von den Polizisten aus den Schilderhäusern angerufen. Aber heute war, als er etwas ängstlich an diesen Kästen vorbeieilte, kein Beamter zu sehen. Er ging rasch den Weg hinunter; plötzlich hörte er hinter sich Tritte und, als er sich erschrocken und vorsichtig umsah, kamen zwei uniformierte Polizisten aus der Wache und sahen hinter ihm her. Er setzte ohne sich umzusehen seinen Weg fort, achtete aber auf alles, was hinter seinem Rücken vorging. So entging ihm, daß rechts von ihm, über seinem Kopf, ein Mensch auf dem Gitter stand.
" Was?" Er schrak auf, als plötzlich zwei Meter vor ihm ein Mann im europäischen Anzug vom Gitter herunter auf die Straße sprang. Der Mann stand eilig vom Boden auf, griff seinen herabgefallenen Hut und rannte an ihm vorbei den Abhang hinauf.
Das Benehmen des Mannes war merkwürdig, frech und verlegen zugleich. Terraishi dachte unwillkürlich, der Mann sei ein verkleideter Kriminal. "Was hat das zu bedeuten?"
Hinter diesem Gitter, von dem der Merkwürdige herunterkam, befand sich ein kleiner, leerer Platz auf dem erst vor kurzem fünf oder sechs neue Baracken gebaut waren. Früher, ehe das eiserne Gitter aufgestellt war, konnte man hier direkt in die Fabrik hineinschlüpfen. Er hatte es selbst einige Male gemacht, war in der Mittagspause heraus und wieder hereingeschlichen.
" He, der Kerl ist aus der Fabrik gekommen!"
Eine böse Ahnung überkam ihn, aber er hatte Angst, sich umzusehen, er wußte, wenn die Polizisten ihn erkannten, würde er bestimmt sofort verhaftet, da man ihn schon einige Tage suchte.
Unten am Abhang stand ein altes Tempeltor des alten buddhistischen Gokuraku-Si. An dieser Stelle bog die Straße zur "Straße ohne Sonne" hinüber.
Es war mittlerweile so hell geworden, daß man Gesichter unterscheiden konnte. Die Läden zu beiden Seiten lagen noch in tiefem Schlaf. "Halt, halten Sie, hallo -"
Plötzlich trampelten eilige Schritte hinter ihm her, er wendete sich um und sah die beiden Polizisten, die aus der Wache gekommen waren, und den Mann mit dem Schnurrbart; sie rannten auf ihn zu. "Aus! zum Teufel!"
Ohne zu überlegen, rannte er instinktiv los; er wußte, daß jetzt alle Streikleiter ohne jeden Grund verhaftet wurden. Der abschüssige Weg beschleunigte seinen Lauf, er rannte, was die Beine hergeben wollten; da riß der Riemen seiner Holzsandale und er stürzte.
" Du Hund, du hast das Feuer angelegt!"
Vor Terraishi, dem die Polizisten beide Arme nach hinten gedreht hatten, drängte das Gesicht des europäisch gekleideten Mannes, der ihn so anbrüllte.
" Feuer angelegt -?" Wenn er nur deswegen festgenommen wurde, schien es ihm selber komisch, daß er überhaupt fortgelaufen war. Er zwang sich, ruhig zu bleiben und fragte, was diese Bemerkung bedeuten sollte.
" Was heißt, Feuer angelegt?"
" Sag die Wahrheit und lüge nicht lange, du Hund!"
Der Spitzel schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, daß seine Brille fortflog. Er begriff gar nicht, was sie von ihm wollten - wo war denn eigentlich Feuer - er sah sich in der Straße um, in der nichts zu sehen war.
" Quatsch nicht lange und geh' schon!"
Die Polizisten zu beiden Seiten drehten ihm die Arme aus und schleiften ihn den Weg zurück den Abhang hinauf. Als sie um das Tempeltor herumgingen, schlug plötzlich die Feuerglocke rasselnd Alarm. Wirklich, aus dem Gitter, wo vorhin der Spitzel herabgesprungen war, stieg schwarzer Rauch in dicken Wolken zum Himmel auf. Terraishi kniff die Augen zusammen, weil er seine Brille verloren hatte, sah über den Schultern der Polizisten Rauch und über sein Gesicht flog ein Schatten der Angst.
" Zum Teufel, ihr habt mich in die Falle gelockt!"
Nun begriff er, zu welchen brutalen Mitteln seine verhaßten, mächtigen Feinde griffen, und sah sich das Gesicht mit dem Schnurrbart, das sich schamlos zu ihm wandte, genau an. "Frecher Lump, geh' weiter!"
Er biß sich auf die Lippen, als er abermals niedergestoßen wurde. Frecher Lump - wer? ich oder ihr? Das Blut stieg ihm vor Empörung in den Kopf, sein Hirn umnebelte sich wie mit schwarzem, wirbelndem Rauch.

Das geheimnisvolle Feuer breitete sich mehr und mehr aus und ließ seine Funken über die Fabrik regnen.
Das Rasseln der Feuerglocken und die Sirenen der rasenden Feuerwehrautos weckten die tote Straße ohne Sonne lärmend auf. Feuer in der Fabrik! - Geräusch sich öffnender Türen - eilige Schritte - schreiende Stimmen - aus den Baracken winselte das Weinen der Kinder - einige schrien aus dem Schlaf geschreckt, als hätten sie sich verbrannt. "In der Fabrik!" "Bei der Gesellschaft!"
Die Leute aus den Baracken rannten auf die Brücke über dem Senkawa-Kanal in zerissenen Schlafhemden und alten schmutzigen Doteras (Anm.: Dick gefütterte Kimonos). "Teufel, sollst lieber ganz zu Asche werden!"
Die Flammen beleuchteten grell die roten Ziegelgebäude, flogen brausend seitwärts zum Walde des Seminars und erleuchteten den Himmel. "Siehst du, das ist die Strafe Gottes!" "Die Streikbrecher werden schön blaß sein!" Aber sie sollten selber blaß werden.
Eine größere Gefahr als das Feuer drohte in ihrem Rücken. Zwischen den roten Feuerwehrautos ratterten die Lastwagen, vollbeladen mit Polizei, fuhren durch die Straße ohne Sonne und versperrten die Ein - und Ausgänge der Straße. Die "verdächtigen" Männer wurden in Massen verhaftet und auf die Autos geladen.
Ein Streikender, der einen Säugling unter dem Mantel trug, stieg auf das Auto.
" Solche Dummheit, gib das Kind der Frau", schimpfte ein Polizist den vierzigjährigen, etwas beschränkten Mann wütend an. "Ja, meine Frau ist auf Arbeit, bei uns ist niemand zu Hause", antwortete er bescheiden und streichelte sanft den Kopf des Kindes. "Dann gib es zu einer Nachbarin."
Ein alter Nattohändler (Anm.: Gericht von gegorenen Bohnen, das die Arbeiter fertiggekocht kaufen.) der zu Hause seine Ware vorbereitet hatte, und gerade fortgehen wollte, um auf den Handel zu gehen, wurde mit seinem ganzen Kram verhaftet.
Aber das geheimnisvolle Feuer wurde bald gelöscht und ging vorbei wie ein Possenspiel.
Die Fabrik behielt ihr nüchternes Aussehen, als sei nichts passiert. Nur die Betonmauern waren ein wenig geschwärzt und das Dach vom Lagerhaus teilweise verbrannt. Fünf oder sechs Baracken hinter der Fabrik, von denen das geheimnisvolle Feuer ausgegangen war, waren ganz abgebrannt, aus den Ruinen stieg noch weißer Dampf und der Brandgeruch von Wolle und Leder.
Aber die Verhaftung der "verdächtigen" Männer ging weiter. Nach einem lange vorher festgelegten Plan wurden alle aktiven Streiker, mit Ausnahme der Frauen, wie Reissäcke auf die Lastwagen geworfen. "Der muß ins Präsidium!" schrie ein Polizist, der mit Kreide auf den Rücken bestimmter Leute Zeichen machte. Die sogenannten Brandstiftungsverdächtigen waren in diesem Fall nur eine Ware, und Hagimura war eine verhältnismäßig wichtige Ware, die mit Kreide auf dem Rücken gezeichnet wurde.
Am selben Tage berichteten die Morgenzeitungen, Fräulein Etsuko, die siebenjährige Enkelin Okawas, sei um elf Uhr vergangener Nacht plötzlich verstorben.
Dieses kluge und hübsche Kind war das liebste, was Okawa besaß. Es war sein einziger Schatz, das schönste Licht in seinem Privatleben, das sonst nicht sehr glücklich war. Sein Stolz und seine Hartnäckigkeit, die ganze Welt zu beherrschen, verschwanden vor diesem Schatz. Mit ihr zusammen wurde er zu einem durchschnittlich schwachen, guten Großpapa.
Der Arzt stellte als Todesursache eine starke Vergiftung fest. Das Kindermädchen und die Diener waren ratlos, aber die Hausmeisterin sagte aus, daß niemand der "Prinzessin" eine solche gefährliche Speise, die zu einer Vergiftung führen konnte, gegeben hätte. Ungefähr um sieben Uhr, nach dem Abendessen begann die Prinzessin über Schmerzen zu klagen, um elf Uhr war sie nach großen Qualen gestorben. Der junge Professor der Medizin bestand hartnäckig auf seinem Verdacht, den er mit seiner streng wissenschaftlichen Untersuchung begründete.
Okawa, der in diesem Augenblick den kostbarsten Edelstein seines Besitzes verlor, ertrug diesen Verlust trotz aller Hartnäckigkeit nicht, er schloß sich in sein Zimmer ein und zeigte sich niemandem. Der Arzt verhörte alle Hausbewohner, er hatte in dem Erbrochenen des Mädchens Arsenik gefunden und erkundigte sich, ob solches Gift irgendwo im Hause sei. Dann fragte er weiter, ob jemand Fremdes ihr das Gift gegeben haben könnte.
Aber das war in diesem Hause, das streng bewacht wurde, unmöglich. Der Arzt sagte zu den Eltern des Kindes, deren Augen vom vielen Weinen geschwollen waren:
" Wenn jemand Fremdes mit bestimmter Absicht das Kind vergiftet hat, kann ich vom Standpunkt der gerichtlichen Medizin die Sache nicht so auf sich beruhen lassen. Wenn sie erlauben, möchte ich die Leiche obduzieren. " Der gewissenhafte Arzt hatte einen Verdacht wegen der Todesursache.
" Dummheit, wird sie durch eine Obduktion wieder lebendig -?" schrie Okawa seinen Sohn und seine Schwiegertochter an, die ihn um Rat fragten.
" Sie ist an einer Krankheit gestorben, das muß genügen", sagte er hart und wandte sich um.
Als die beiden die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter sich geschlossen hatten, stand er auf und ging in den Wintergarten in der zweiten Etage. In diesem Wintergarten, nach Süden gelegen, blühten Hunderte von Blumen wie im Frühling; er setzte sich in einen Rohrsessel und starrte hinaus..... Er hatte gesiegt, er sollte siegen. Seine kräftige Energie ließ ihn noch nicht alt werden. Sein starker Arm, der ihn auf dem Strom der Zeit vom kleinen Händlertum bis zur Blüte des modernen Kapitalismus gerudert hatte, sollte noch nicht schwach werden. Er selbst hatte nie viel von sich reden gemacht, wie die Unternehmer mit den grünen Schnauzen von heute, aber er trug in sich das klare und sichere Bewußtsein, Mitglied der herrschenden Klasse zu sein. Er trug auf seinen Schultern nicht nur seine eigenen Lasten, sondern die der ganzen herrschenden Klasse.
Er hatte die Macht der Arbeiter nie gering geachtet wie die andern; mit seinem klaren und weitschauenden Kopf hatte er sie richtig eingeschätzt, aber darüber hinaus hatte er sich nie von ihrem großen Schatten beirren lassen. Er hielt seinen kurz geschorenen Kopf geradeaus auf den Feind gerichtet und kämpfte mit den linken roten "Strolchen" ganz Japans. Er hatte anfangs geglaubt, daß sie seine Geschäfte nicht stören würden, doch er mußte bald einsehen, daß diese Rechnung falsch war. Die Arbeiter richteten die Spitzen ihrer Speere immer drohender gegen ihn. Sie wollten die Grenze, die ihnen als Arbeiter gezogen war, übertreten; sie waren nicht Aale, sie waren Schlangen.
Während dieses Streiks besuchte ihn eines Tages Herr Bunji Suzuki, der Vorsitzende des Sodome (Alljapanischer Gewerkschaftsbund), den er früher einmal kennengelernt hatte. Der wollte sein Einverständnis einholen, um die rechten Elemente der Streikenden zu organisieren und auf diese Weise die Versöhnung der Unternehmer und Arbeiter zu erreichen. Okawa antwortete diesem berühmten dicken Gentlemen mit einem einzigen Satz:
" Meine Arbeiter sind keine Aale, denen können sie nichts vorzaubern. " Und so kämpfte er mit diesen Schlangen, die keine Aale waren, und das nicht aus eigennützigen Gründen. Es brauchte ihn nicht zu kümmern, ob eine unter den vierzig Gesellschaften, die er besaß, sich wirtschaftlich rentierte oder nicht - dafür tat es nicht not, auf Leben und Tod zu kämpfen. Daß er trotz aller Angriffe und Vorwürfe, selbst aus seinen eigenen Kreisen, seinen grauen Kopf durchsetzte und in diesem Kampf unbeugsam geradeaus ging, geschah, weil er diese roten Schlangen, die sich riesenhaft vermehrten, die an den Wurzeln der herrschenden Klasse nagten, grundsätzlich vernichten wollte.
Er starrte auf die Haufen der roten Schlangen und wollte keinen Schritt zurückweichen. Ein Schritt rückwärts bedeutete die Niederlage der ganzen Klasse. Alle Kräfte, die ihm zur Verfügung standen, hatte er zusammengefaßt, um diese Schlangen vollständig niederzuschlagen. Die zerschlagenen und zerissenen Schlangen sollten die Lust verlieren, zu kämpfen, sie sollten nur noch kriechen ...
Trotzdem - welch ein Fehler in seiner Rechnung! - durch eine weibliche Schlange, die ihn plötzlich von hinten anfiel, wurde ihm ein Stück Fleisch abgerissen. Die Wunde schmerzte - seine ganze Liebe, Etsuko war ihm genommen.
Ohne die Untersuchung dieses dummen, ehrlichen Professors wäre die Todesursache niemals bekannt geworden. "Wird sie wieder lebendig durch die Obduktion?" "Dummheit!"
Sein großer Mund schrie noch einmal auf; aber was nützte es, die Todesursache noch bekannt zu machen. "Dummheit!"
Mit höhnischem Lachen würde er sie fragen: Glaubt ihr, die Arbeiter werden sich fürchten, wenn die Todesursache bekannt wird und eine von den Schlangen vernichtet wird?
" Um diese Schlangen zu vernichten, gibt es noch andere Methoden!" Man darf ihnen seine schwachen Seiten nicht zeigen. Ein Tiger wird wegen einer Wunde nicht zurückweichen....
Sein Blick kehrte aus dem Leeren zurück; er sah durch die Glasfenster auf das Tor seines Hauses und schloß nachdenklich die Augen: er erinnerte sich daran, wie seine Enkelin gestern um fünf Uhr vor diesem Tor mit ihrem Ball spielte.
Als er als Teil seines Tagespensums gestern hier im Wintergarten seine Pflanzen begossen hatte, hatte er plötzlich gesehen, wie da unten vor der Tür ein zwanzigjähriges, schlecht gekleidetes Mädchen Etsuko streichelte - Etsuko lachte fröhlich - -
Er hatte gedacht, es sei ein Mädchen aus der Nachbarschaft. "Sie war es!"
Er kreuzte die Arme über die Brust und schloß wieder die Augen. "Großpapa" - die Stimme war in seinen Ohren, wie auf einer Grammophonplatte.
Die Ruhe des warmen Wintergartens hatte ihn getröstet; er fühlte es heiß unter den Augenlidern werden. "Dummheit, kommt sie davon wieder?"
Er hob den grauen Kopf und stand auf.

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