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Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
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Feiertag

Diesmal hatten die Leute ganz andere Gedanken im Kopf, als den ersten Mai zu feiern. Die größte der Bergbaugesellschaften in jenem Bezirk lag noch still. An ändern Stellen wurden nur kleine Aufräumungsarbeiten verrichtet. Eine neue Firma begann Bohrversuche und Abteufungsarbeiten auf bisher brachliegendem Terrain vorzunehmen, das die Gesellschaft versäumt hatte, rechtzeitig hinzuzukaufen. Sie hatte ja auch bisher nicht daran denken können, dass ihr im eigenen Bezirk eine Konkurrenz erwachsen könnte, wer hätte wohl gegen sie aufkommen können, zumal die allgemeine Marktlage nicht eben günstig war. Jetzt noch ganz in der Stille hatte sich doch da jemand hingesetzt. Die neue Gesellschaft arbeitete unter Tarif, sie erkannte die Syndikate nicht an. Zunächst waren die Arbeiter zufrieden, überhaupt dort unterzukommen. Auch nach den Chemischen Werken gingen eine Anzahl in Arbeit. Einen Teil stellte die Hütte an, die einen neuen Fabrikationszweig aufgenommen hatte. So trostlos, wie in den ersten Wochen die Lage für die Bergarbeiter ausgesehen hatte, als die Unterstützungen knapper wurden und dann zum ersten Mal ganz ausblieben, war es ja nicht gekommen. Wo die Hände da waren, da fand sich schnell eine Fabrikation. Denn man verdient, wenn man die Hände in Bewegung setzt und arbeiten lässt. Aber es war den Bergarbeitern doch ungewohnte Arbeit. Sie empfanden es tiefer als je, dass das Lohnarbeit war, Strafarbeit. Die Arbeit mit der Hacke im Schacht, das war ihre Arbeit, darin spürten sie weniger das Drückende, das noch jeder Lohnarbeit anhaftet. Vom Lohn schon gar nicht erst zu reden.
Dann waren auch viele andere Sorgen. Auf die Häuschen, in denen sie wohnten, hatte die Gesellschaft meist Hypotheken übernommen. Sie waren ja ihr Eigentum, gewiss, so leicht konnte man sie nicht raussetzen, aber man weiß ja, wie das ist. War die Hypothek erst einmal gekündigt, woher hätten sie das Geld auftreiben sollen. Es schien schlimm zu stehen mit der Gesellschaft, hieß es, man sah und hörte nichts. Die Beamten blieben wie auch früher völlig unter sich, die höheren technischen wie kaufmännischen Beamten waren in die Zentrale berufen, die in der Hauptstadt ihren Sitz hatte. Die Polizei hatte viel zu tun und aufzupassen, dass aus den Werkanlagen nichts verschwand. Es wurde trotzdem mächtig gestohlen. Wer nur richtig rankam, der nahm was mit. Darunter dachte man sich langst nichts mehr. Die Not war groß, und Material, Werkzeuge und vieles andere, was Wert hatte und was man gebrauchen konnte, lag genug herum, man brauchte nur richtig zuzufassen. Übrigens die Soldaten stahlen fleißig mit, wenn es gerade anging. Auch hatte der wilde Hass auf die Arbeiterschaft etwas nachgelassen, der Befehl war etwas lange her. Nur die Arbeiter konnten allerdings weniger vergessen. Denn das war das weitere, das wie ein Pfahl im Fleische stak: die Verurteilten und Gefangenen. Trotz aller Listen war man doch damals sehr willkürlich verfahren. Da saß einer im Zuchthaus, der nicht mehr und oft weniger getan hatte als einer, der heute wieder ruhig auf Arbeit ging. Ihm selber mochte es vielleicht nicht viel ausmachen, aber die Frauen rechnen anders. Die ersten Wochen mag's noch hingehen; wenn aber die Not immer größer wird, für die Frauen ist an lohnende Arbeit so schnell nicht zu denken, die Frau sieht, wie die Kinder herunterkommen und krank werden, dann ist es hart, manchmal ein böses Wort zu verbeißen. Der andere fühlt das sehr gut. Den Vorwurf hat er sich wohl schon selbst überlegt, waren manchmal Leute darunter, von denen man hätte sagen können, sie hatten die ändern erst mitgeschleppt und aufgehetzt, und diese liefen noch rum, als ob nichts gewesen wäre. Das ließ manchmal die Menschen aneinander vorbeischleichen, als müssten sie sich aus dem Wege gehen. Und dann die vielen, die unter der Erde lagen. Wer gibt denn jetzt was, wer sorgt für die Familien, hä?
Unter solcher Stimmung kam der erste Mai heran. Gefeiert musste schon werden, das heißt die Arbeit sollte ruhen, aber die Gedanken waren zu zwiespältig und verworren noch, als dass sie sich zu dem erhebenden Grundgedanken dieses Arbeitsfeiertages hätten sammeln können. Zu großen politischen Demonstrationen war wenig Lust vorhanden, die Leute werden in den Dörfern bleiben, hieß es, nach der Stadt werden sie doch nicht kommen. Dort allein hätte eine größere Demonstration nur Zweck gehabt. Man wollte sich an den Gräbern der Opfer versammeln. Gewiss, im Städtchen kam das auch zustande. Dort fand auch eine größere politische Versammlung statt. Man hatte von auswärts einen kommen lassen. Der sprach ruhig und streifte nur so nebenher das, was erst so frisch noch hinter ihnen lag. Die Polizei fand keinen Anlass einzugreifen. Dann wurden im geschlossenen Zuge auf dem Friedhofe die Opfer besucht. Aber man muss verstehen, die in der Stadt Gefallenen, das war nur ein sehr kleiner Teil, sie waren auch mehr noch zufällig unter den Toten; ermordet, hinterrücks niedergeschossen waren die nicht. Diese lagen auf den einzelnen Dörfern zerstreut, und insbesondere in einem, wo achtzehn Mann in einer Reihe in die Erde gebettet werden mussten. So wollte auch in der Stadt die rechte Stimmung nicht aufkommen. Stumm und bedrückt standen die Leute um die Gräber. Der Kranz mit der roten Schleife und dem goldgestickten Schwur, auszuharren im Kampf, fehlte nicht. Der Redner hatte einige Gedenkworte gesprochen. So standen sie denn und ließen den Kopf hängen. Ein furchtbares Weh quoll hoch und lastete ringsum. Das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, in den Schraubstock gepresst, nicht mehr weiter zu sehen, was ist und was werden soll - dieses Weh zermalmt. Es ist weder Wut noch Schmerz, kein Klagen mehr, ein entsetzliches Gefühl der Ohnmacht, das Mark wird einem ordentlich aus den Knochen gezogen. So standen sie da und schämten sich fast voreinander und noch mehr vor denen, die da unten lagen. Das war ein furchtbarer Tag.
Aber in den Frühnachmittagsstunden kam ein großer Zug der Arbeiterjugend aus der weiter entfernten Industriestadt ins Tal. Die jungen Leute waren schon viele Stunden unterwegs, aber frisch und mit blitzenden Augen, in scharfem Gleichschritt zogen sie in die Stadt ein, mit roten Fahnen an der Spitze. Da schlossen sich einige aus der Stadt dem Zuge an, der noch weiter ins Tal wollte. Und allmählich wurden es immer mehr, von Dorf zu Dorf zogen sie, und überall hielten sie eine kurze Rast, Lieder wurden gesungen, eine kurze Ansprache, ein Treuegelöbnis — und der Frühling war doch eingezogen, der Feiertag war spät, aber schließlich doch noch eingekehrt. Die Leute, die erst verstohlen hinter den Fenstern vorgeschaut hatten, waren doch noch alle herausgekommen auf die Straße, hatten die Herzen aufgehen lassen und einen Blick getan in die Zukunft, der sie für einige Minuten alles Drückende, alles Furchtbare, das sich nicht auflösen wollte, vergessen ließ. Das waren die Richtigen, die Jungen - fühlten sie. Warum war das bei ihnen noch nicht aufgekommen, Arbeiterjugend -waren doch auch Mädels und Halbwüchsige da genug. Und diese waren auch schon eifrig mitten drin, etwas schüchtern noch, etwas schwerfällig und ungelenk, das erfasste man sofort im Blick, aber schon aufgeweckt und glühend. Ein Funke hatte gezündet, er wird nicht verlöschen. In dem Dorf, in dem die achtzehn Opfer in einer Reihe lagen, wurde am längsten Rast gemacht. Mit Grün und Blumen waren die Gräber bald geschmückt, und wie die rote Fahne darüber sich senkte und das Treuegelübde gesprochen war, da fühlten alle, als hebe von diesem Augenblick wieder die Hoffnung und die Befreiung an. Mochten die Gedenkworte mehr zum Herzen sprechen als sonst, mochten die Lieder ergreifender hinausgehen durch die vielen, die nur im Gemüt die Melodie mitempfanden, denn sie waren zu schwere Arbeit gewohnt, als dass sie um Singen sich je bekümmert, geschweige denn zum Singen aufgelegt gewesen wären - über sie hinweggehen mit den tiefen zitternden Akkorden und sich wie schützend über sie senken, über die Männer, Frauen und Kinder, die da standen in ihrem Kummer und in dumpfer Verzweiflung, jetzt wie beschenkt, wie zurückgeführt in den Kreis der Lebenden, der Menschengemeinschaft - zum ersten Mal wohl seit langer Zeit traten ihnen Tränen in die Augen. Sie begriffen, die da unten sind nicht umsonst gefallen — und das tat wohl, unsagbar wohl. Es verband die Menschen wieder, es führte sie wieder enger zusammen, und sie durften wieder den Blick erheben und den Kopf höher tragen. Das tat wohl, das war Feiertag, das war Frühling. Also war er doch noch gekommen. Und als der Trupp zum Abmarsch rüstete, da gaben ihm alle noch einen guten Teil Wegs das Geleit, da blieben nicht viele im Hause zurück. Es lag ihnen nicht, große Worte zu machen. Die Bergarbeiter der dortigen Gegend sind schweigsam und in sich gekehrt. Sie können sich nicht so geben, wie ihnen wirklich ums Herz ist. Das tut auch nichts. Und die Frauen nicht minder, fast noch mehr als die Männer, die doch immer meist noch mehr in der Welt rumkommen und ein Stück Befangenheit vielleicht ablegen, draußen in der Arbeit mit den Kameraden. Aber als der Zug nunmehr wieder energisch den Höhen zustrebte, um noch vor der Nacht wieder in der Stadt zu sein, da trennten sie sich ungern. Sie standen und winkten und riefen vereinzelt und immer vielstimmiger und zuletzt wie mit einem einzigen großen Aufschrei: Kommt bald wieder!

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