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Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
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Gott verschläft die Zeit

Draußen im flachen Lande die kleinen Betriebe wurden stärker in den Strudel hineingezogen als sonst bisher. Die Unternehmer hatten bisher einen Schein von Selbständigkeit bewahrt, da der Trust es nur für notwendig befunden hatte, sich mit der Zusammenfassung solcher Betriebe in dem entsprechenden Fabrikantenverband zu befassen. Aber gerade die Diskussion über die Gewinnbeteiligung der Arbeiter am Unternehmen und die Kleinaktienfrage brachte dort die Gegensätze schärfer aufeinander. In der kleinen Stadt war bisher der Arbeiter eine wenig geachtete Persönlichkeit. Man kann sogar sagen, er wurde geradezu verachtet. Solche Städte leisten sich noch den Luxus des Handwerks, umgeben von Kleinbauern (für die der Landarbeiter gleichbedeutend ist mit Lump, weil sich diese Menschen niemanden vorstellen können ohne Haus und ohne sein eigenes Stück Land), ergänzen sich die Bewohner dieser Stadt ständig aus dem Überschuss jener Bauern, die nach der Stadt ziehen müssen und dort irgendein Handwerk lernen. Im Grunde ist die Dorfgrenze nur hinausgeschoben, denn diese Handwerker sitzen nun da und warten auf die Kundschaft ihres Dorfes. Die Konkurrenz untereinander ist groß, die Mühe, sich durchzubringen, noch größer. Diese Menschen waren schwer auf den Gedanken zu bringen, dass sie sich eigentlich elend quälen mussten und dass sie besser daran tun würden, sich mit den Dutzenden ihrer Berufskollegen zusammenzutun und gemeinsam zu arbeiten. Dazu steckte ihnen noch dieser gewisse Bauernstolz zu sehr in den Knochen. Jeder wollte sein eigener Herr und Meister sein, und ihr Auftreten war auch ganz darnach. Da sie wenig Geld einnahmen, so machten sie Schulden, nicht nur untereinander, sondern beim Lieferanten der Waren, die sie mit nebenbei verkauften, und der Rohmaterialien, die sie verarbeiteten. Mit der Zeit gerieten sie von diesen Lieferanten, die einen eigenen, sehr glänzenden Geschäftszweig daraus gemacht hatten, in immer größere Abhängigkeit, ja sogar in viel schlimmere als die eigentlichen Arbeiter, da sie der Lieferant vollkommen in der Hand hatte und auch entsprechend ausbeutete, denn es stand dem jederzeit frei, seinem aufbegehrenden Schuldner seinen ganzen so genannten Geschäftsbesitz wegzunehmen und ihn auf die Straße zu setzen oder ihn gar einsperren zu lassen. Der Staat hatte mit einem Gesetz nachgeholfen, dass zu einem Geschäft kaufmännische Buchführung notwendig sei. Kaufmännische Bücher zu führen, ist aber auch ein sehr nebelhafter Begriff, und das haben die Handwerker auch nicht gelernt. Trotzdem trugen sie den Kopf sehr hoch, und einen gewöhnlichen Arbeiter, wie sie sich ausdrückten, hätten sie überhaupt nicht angesehen. Sie waren eben der Meinung, das sind Leute, die als Bauern oder Handwerker bankrott gemacht haben, weil sie zu was »Besserem« nicht taugen. Es versteht sich von selbst, dass sie ihre Kinder wieder zu Handwerkern erzogen und meistens für den gleichen Berufszweig, wodurch sie sich selbst das Elend immer größer machten. Dass sie selbst von den verachteten Arbeitern sich in nichts unterscheiden als etwas durch größere Schwerfälligkeit und Dummheit, das merkten sie nicht. Aus solchen Menschen bildete sich draußen im flachen Lande die Stadt. Auch als die ersten Fabrikbetriebe, meist irgendwelche Spezialindustrien und Maschinenfabriken, sich an der Peripherie ansiedelten, änderte sich das nicht. Die Arbeiter und die Handwerker sonderten sich streng voneinander ab.
Erst die zunehmende Geldnot und das Aufhören jeder geordneten Gütererzeugung, wodurch ja gerade die kleinen Bauern und die Beamten in Mitleidenschaft gezogen wurden, riefen dann eine Umwälzung hervor. Diese Entwicklung beschleunigte sich jetzt und gewann zusehends an Kampfcharakter. Sie bekam eine Spitze gegen Regierung und Staat, und unmerklich war eine Annäherung an die Arbeiterschaft eingetreten. Das kam daher, dass diese Handwerker gezwungen waren, sich zu Kreditgenossenschaften zusammenzuschließen, in deren Weiterentwicklung der gemeinsame Einkauf der Materialien durch Rohstoffgenossenschaften gelegen war. Von da nur noch ein Schritt zur gemeinsamen Verarbeitung, und die Zusammenschlussbewegung solcher Versuche über das ganze Land bot gewissermaßen eine Ergänzung zum Gemeinschaftsbetrieb in der Gemeinschaftswerkstätte. Die Regelung der Zweckmäßigkeit war sozusagen nur noch eine technische Angelegenheit und lag in der Luft. Die jungen Handwerker, die sahen, wie sie hinter den Arbeitern zurückblieben, nahmen sich mit Eifer der Bewegung an. Nicht nur, dass sich die Zahl der bisher selbständigen Handwerker in den Fabrikbetrieben vermehrte, die Zahl der bisherigen Fabrikarbeiter, die in eine Genossenschaft eintraten, zu der eine bisher einzeln arbeitende Werkstätte der Not der Zeit folgend umgearbeitet war, vermehrte sich. Bis in die Bauernschaft hinein ging diese Bewegung, die gleichfalls das Genossenschaftsprinzip auf das Kredit- und Verkaufswesen wie auf allen ändern Arbeiten auszudehnen begann.
Die Aufklärung des flachen Landes war zu einem der Hauptziele der politischen Arbeiterparteien geworden. Überallhin wurden Agitatoren geschickt, die in unermüdlicher Kleinarbeit diese Aufklärung von Haus zu Haus und von Mann zu Mann trugen. Es war dennoch sehr schwer, Luft zu schaffen, denn die alten Gewohnheiten sind zu stark eingewurzelt, und man wird manchmal den Eindruck nicht los, diese Leute denken zu langsam, sie können daher noch nicht gemeinschaftlich und gemeinsam sein. Sie wirken wie ein Eisenklotz. So überflüssig und wenig geachtet Agitatoren dort sind, wo bereits große Massen um die gemeinsame Kampfform sich durchzusetzen ringen, so notwendig und willkommen sind die draußen im Lande, wo alles nur darauf wartet, angestoßen zu werden, wo sie als Boten begrüßt werden, die aus dem Kampfgetümmel kommen und noch etwas mitzubringen scheinen von der Unruhe des Strebens nach Befreiung der Gesellschaftsordnung von Starrsinn und Barbarei. Sie sind notwendig, dem trag hindämmernden Bewusstsein immer wieder von neuem die sozialen Aufgaben einzuhämmern und diese Menschen, die gewissermaßen noch nicht richtig leben gelernt haben, lebendig zu machen und wachzurufen. Und das Land wurde mit solchen Agitatoren überschwemmt. Viele Arbeiter, die gerade arbeitslos geworden waren, gingen freiwillig und ohne besonderen Agitationsauftrag einer bestimmten Gruppe auf eigene Faust aufs Land, um dort für die Idee der Solidarität der Arbeitenden zu wirken. Technisches Wissen und Arbeitstechnik kamen aufs Land.
Solche freiwilligen Helfer haben es nicht leicht. Träge liegt die Stadt. Manchmal ist es, als ob jeder Schritt mit einer besonderen Anspannung erkauft werden müsse. Die wenigen Menschen auf den Straßen schleichen dahin und beäugen sich voller Misstrauen. Der Fremde ist immer automatisch auch der Feind. Es ist schwer, solchen Menschen näher zu kommen. Es fehlt ihnen auch, scheint's, ein Schutzpanzer gegen die Kräfte der Umwelt. Daher sind sie so scheu und so schläfrig. Darin liegt allein ihre Verteidigung. Sie wollen nichts hören, sie halten sich von allem abgeschlossen. Denn ist einmal der Weg erst freigelegt, so geben sie sich schrankenlos dem Neuen hin. Sie werden zum willigen Werkzeug jeder Kraft, die sie vorwärts treibt. Leider ist diese Kraft nicht immer diejenige der Arbeitenden und der Arbeit. Es gibt auch eine Kraft der Gewöhnung, die sie im Bann hält. Dann kostet es eine ungeheure Anstrengung, wieder bis ins Innere von Herz und Verstand vorzudringen.
Gerade waren, von den Arbeitern einiger kleiner Maschinenbetriebe gerufen, Agitatoren in die Stadt gekommen. Mit den Handwerkern und Bauern sollte die gemeinsame Gründung einer Reparaturwerkstatt für landwirtschaftliche Maschinen beschlossen werden. Daraus bot sich dann die Möglichkeit, auch darüber hinaus den Betrieb zu entwickeln. Die Arbeiterschaft der Fabriken wartete nur darauf, um dann ihrerseits entweder die dortigen Betriebe unter dem Druck der Genossenschaft zu übernehmen und zu einem Ganzen zu verschmelzen oder die Unternehmer auf andere Weise kaltzustellen. Mit den Handwerkern der Stadt war ein Übereinkommen erzielt, man wollte gemeinsam und gleichberechtigt arbeiten, technische Vorbedingungen waren erledigt. Auch mit den Bauern war man so gut wie einig. Da mischte sich die Geistlichkeit ein. Der Pfarrer trat an die Spitze. Der Plan bekam einen ändern Sinn. Er wurde christlich, das ist unfrei, unterwürfig, kapitalistisch. Keine Rede mehr von Angriff und Verteidigung gegen das Großkapital. Der Streit, der längst begraben schien, flackerte auf. Im Nu waren wieder die verschiedensten Meinungen da. Man verstand sich auf einmal nicht mehr. Und die Agitatoren, die zu Hilfe gerufen worden waren, gerieten bei ihrer Ankunft mitten in eine Prozession. Die Straßen der Stadt waren in ihrer ganzen Breite durch frische Wiesenmatten in einen Teppich verwandelt, auf dem sich gleichwie in tausendfältigen Schnörkeln Blumen über Blumen in allen Farben hinzogen. Die Glocken läuteten, vom Turm schlug die Uhr, und noch lange hallte eine wunderfeine Musik dazwischen nach, die eine alter Meister aus früheren Jahrhunderten da oben im Uhrwerk angebracht hatte. Der Weihrauchduft stieg in geraden Säulen empor und breitete sich dann oben über die ganze Stadt. Es hatte etwas Überwältigendes und Zauberisches. Die Häuser waren geschmückt, von den Fenstern hingen die Hausfront herunter golddurchwirkte Tücher. Überall Blumen und brennende Kerzen. Die Agitatoren rieben sich die Augen, sahen sie hier einen Traum, war das ein Märchen - aber da kam schon die Prozession. Die Innungen mit ihren jahrhundertealten Fahnen schritten einher und hinter jeder Fahne gingen viele hundert Jungen und Alte, Meister, Gesellen und Lehrlinge - viele trugen brennende Kerzen m der Hand. Dann kamen die Vereine, die Schützen, die Soldaten, blumenstreuende Kinder in weißen Kleidern, Jungfrauen mit leuchtenden Kränzen im Haar, die Vertreter der Stadt, der Beamtenschaft. Dann kam der lange Zug der prächtig gekleideten Priester, von Chorknaben, die das Weihrauchfass schwangen, umgeben, und dann der Thronhimmel, unter dem der älteste Priester mit dem Allerheiligsten dahinschritt. Dahinter drängte sich das gläubige Volk nach Hunderten und Tausenden. Und alle sangen. Die Musik fiel manchmal mit Pauken und Trompeten dazwischen ein. In dem Gesang lag etwas Demütigendes, das sich aufgab, das zurück wollte aus dieser Zeit in eine ferne Traumvergangenheit, aber so etwas zwingend Gemeinsames, das alle diese Menschen eng verband. Enger schien es, als es die Arbeiter bislang noch tun können. Es war eine Gemeinschaft aus der ältesten Zeit, die doch den Menschen, wie wir heute wissen, nicht das Glück und die Freiheit gebracht hat. Aber diese Leute, mochten sie auch selbst vieles kaum verstehen, klammerten sich noch daran.
Die Agitatoren aber schüttelten den Kopf. Soll man lachen, soll man weinen - sie hielten die Verabredung erst nicht ein. Sie fuhren gleich wieder ab. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun.

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