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Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
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Arbeitsschulen

Ein gewiss seltener Fall, dass sich in gleicher Weise Regierung, Industrielle wie auch die Arbeiter für die Arbeitsschulen begeisterten, obwohl die ganze Frage im allgemeinen noch im Stadium der Versuche und in den ersten Anfängen stecken geblieben war. Aber es sprach sich so gut darüber. Die Regierung hatte ein Thema, das sie, ohne Gefahr zu laufen, sich irgendwie festzulegen, hin und her wenden konnte. Die breite Masse interessierte sich für so etwas an und für sich nicht, man stieß also damit keine irgendwie staatserhaltenden Kreise vor den Kopf. In der allgemeinen Volksschule lief die Regierung Gefahr, an Ansehen zu verlieren. Die religiösen und schließlich auch die politischen Parteien richteten den Unterricht nach ihrem Gutdünken ein. Es war ein ständiger Kampf um die Vormachtstellung der einen oder anderen Richtung in der engeren Gemeindeverwaltung, der über die Schule sozusagen entschieden wurde und bei der Buntheit der Anschauungen gerade sonst teilnahmsloser Volkskreise einen ständigen Wechsel bot. Elternbünde lösten mit den seltsamsten Programmen einander ab, und mehr und mehr gewannen die Schülerbünde und diejenige Richtung, welche die Selbstverwaltung der Schulpflichtigen auf ihre Fahnen geschrieben hatte, sichtbar Boden. So boten die Arbeitsschulen Veranlassung zu einer Fortsetzung solcher Volksschulen, wobei das Hauptgewicht darauf gelegt wurde, die heranwachsenden jungen Leute mit den Pflichten des Staatsbürgers vertraut zu machen und sie zu nützlichen Gliedern des Staates heranzuziehen. Nicht nur, dass sie das Wesen und die Organisation des Staates kennen lernen sollten, sondern sie sollten es von seiner schönsten Seite erkennen, wie eins ins andere griff, wie man mit Rechnungen und Wechseln umging, die Steuern wurden erörtert und das Glück ausgemalt, das darin besteht, sich in die bestehenden Verhältnisse zu fügen. Von Arbeit war darin wenig zu finden, etwa nur in dem Satz: in der Arbeit folge deinem Meister und Vorgesetzten, und wer in der Jugend arbeitet, der hat im Alter genug gespart, um sorgenfrei leben zu können, und dergleichen Unsinn mehr. Dem Druck der Schüler folgend, wurden schließlich auch einige allgemeinere technische Kenntnisse so nebenbei mit berücksichtigt.
Diesem Zustand machte die Großindustrie ein Ende, indem sie das Schwergewicht solcher Arbeitsschulen auf die Berufswahl und die Fähigkeitsprüfung legte. Damit kam ein neues Schlagwort in Schwung. Die Schulbehörden waren froh, eine neue Aufgabe und damit zugleich eine weitere Existenzberechtigung zu bekommen, wofür sie den Vertretern der Trustleitungen, die ihnen überall zu- und übergeordnet wurden, willig jeden Einfluss einräumten. Ein Schullehrer ist kein selbständig denkender Mensch. Berufsberatung, das war Berufsauslese, das war die Prüfung für den Arbeitsmarkt. Niemand will mehr die Katze im Sack kaufen, nachdem durch Syndikate und Nachgiebigkeit der behördlichen Stellen eine Arbeitsordnung angenommen werden musste, die dem Käufer und Benutzer der Arbeitsware die ausschließlich freie Verfügung darüber wesentlich einschränkte. Die Leistungsprüfung bot Ersatz. Dass bei dem Massenangebot genügend Auswahl vorhanden war, blieb selbstverständlich, auch dass eine Steigerung der Leistungen damit immer gewährleistet war. Die technisch-wissenschaftlichen Kräfte, Psychologen und Arzte zogen in die Arbeitsschule ein. Der Körper wurde durchsucht und durchleuchtet, die Organe auf ihre Ausdauer und Haltbarkeit geprüft, niemand hatte Lust, Unfallrenten und Krankengeld zu zahlen statt Arbeit zu empfangen - das war die längste Zeit ein schlechtes Geschäft gewesen, und die Nervenspannungsmöglichkeit großartig auf eine Kurve gebracht, die genau anzeigte, an welchem Tage, Monat und Jahr die Höchstleistung zu erwarten war. Das ist ein wichtiger Fingerzeig für die Betriebsleitung. Dann aber wurden auch noch die entsprechenden Versuche gemacht, um herauszufinden, welche Steigerungsmöglichkeiten selbst dann noch gegeben waren durch Anwendung besonderer Dopmittel. Das ist die künstliche Steigerung der Leistungsfähigkeit bei Rennpferden, um sie zur Höchstleistung über ihre eigentlichen normalen Kräfte hinaus zu bringen. Wenn auch das Pferd dabei zugrunde geht, so doch wenigstens nicht früher, bis es den Preis gewonnen hat. Man gibt ihnen Champagner zu saufen oder spritzt ihnen irgendein herzutreibendes Gift hinters Ohr. Das Herz ist überall die Hauptsache. Setzt man das gut in Schwung, so wird auch der Mensch leistungsfähiger, wenn auch nicht gesünder. Aber darauf kommt es eben nicht an. Die Dopmittel müssen erprobt werden. Sie sind in jedem Beruf und für jede Arbeitsgruppe verschieden. Zum Beispiel kann man den Arbeitern keinen Champagner geben, das würde für den Chef eine schlechte Rechnung sein. Es darf überhaupt nichts kosten, denn sonst hebt es sich ja wieder auf, die Mehrkosten wiegen die Mehrleistung, das wäre nichts. Es soll doch verdient werden und vor allem mehr verdient werden. Früher war allgemein der Lohnanreiz das Steigerungsmittel und die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Man ließ Akkord arbeiten, hatte den Antreiber dabei, der die Gruppe zusammenstellte und den Akkord vergab und der darauf zu halten hatte, dass die Leistung ständig höher wurde, sonst flog der selbst und so fort bis oben hinauf. Den Lohn festzusetzen lag ja in der Hand der Betriebsleitung, die schon den entsprechend auch für den Betrieb steigenden Verdienst errechnete. Darüber kann man beruhigt sein, das Verhältnis der Steigerung von Gewinn und Lohn war schon ein anderes. Aber alles das hat eine Grenze. Der Körper, die Nerven gehen eben nur bis zu einem gewissen Grade mit. Die Dopmittel waren noch zu plump. Die ärztliche Wissenschaft musste eingreifen, wozu bezahlte man solche Leute, hielt die Hochschulen über Wasser und so. Es war auch wichtig, nicht mehr an der Arbeitszeit direkt zu experimentieren, denn deren Bedingungen lagen doch ziemlich eindeutig fest, sondern auf die Pausen das Hauptgewicht zu legen. Und da griffen denn auch die Ärzte ein, die Psychologen, die Wissenschaftler und allerhand dieser Menschenfreunde. Die Pause brachte die Ermüdung zustande, das war klar. In der Pause begann sich der Mensch auf sich selbst zu besinnen. Das war die Gefahr. Es sank nachher die Leistungskurve, das Herz ging unwilliger, kam schwer in Gang. Man muss es eben machen wie beim Motor - schneller laufen lassen. Und so fingen sie denn an, die Pause auszugestalten und auszufüllen. Da musste geturnt werden, Musik gemacht, Vorträge, und alles lief darauf hinaus - Erregung, hastiger, Anspannung, nur nicht ruhen. Aber was taten die paar Pausen — draußen in der freien Zeit machte ja der Arbeiter, was er wollte - das ging nicht. Und der ganze Tross der Menschenfreunde stürzte sich jetzt auf das Leben außerhalb des Betriebes. Jeder Blick, den so ein Mensch noch auf irgend etwas zu werfen gedenkt, muss automatisch aufgefangen und mit der Forderung zurückgeworfen werden: Hast du bedacht, was dich stählt - achte darauf, morgen fair und fit, fein eingeölt, schneller, Tempo, Tempo - dafür war der Film schon langst zu langweilig. So wurde der Arbeiter gedopt. Mit Politik und mit Medizin, mit Wissenschaft und Religion, und dazwischen Akkord und Sport, Arbeitslosigkeit und Schnaps. Die Extreme müssen ständig zusammenplatzen, sagte ein berühmter Psychologe, auf der Katastrophenlinie entwickelt sich die Höchstleistung, die Angst. Wer vor Schreck nichts mehr sieht, leistet Wunder. Um solcher schönen Theorien willen musste ein solider Grundbau errichtet werden, eine humanitäre Religion von Körper- und Nervenkraft, eine schöne Geste, an die sich der Ertrinkende halten könnte, ein ungeheurer Nebel, der den Verdummungsapparat außer Licht brachte - Wissenschaft und Technik. Das wurde denn auch in die Arbeitsschule hineingebracht. Es wurde geradezu der Mittelpunkt. Nicht nur die Regierung hatte jetzt das Vorrecht auf solche Schulen abgetreten, nein, bald zeigte sich das Bedürfnis nach solchen Statten in weit größerem Umfang. Jeder Großbetrieb richtet für seine Leute eine eigene Schule ein. Die Arbeiter sollen aufgeklärt werden, sie sollen verstehen lernen die Bedingungen der Arbeit, die Arbeit selbst, die Herzmuskulatur und alle die Wohltaten, mit gesunden Organen arbeiten zu können. Vertauscht die materiellen Sorgen mit Sport.
Nun gibt es ein Gesetz, das nur für diejenigen von allen Menschen gilt, die unterdrückt und ausgebeutet werden sollen. Ein Gesetz, an dem die schönste Wissenschaft und alle Raubtierinstinkte zuschanden werden. Dieses Gesetz lautet: Alles geht gut aus. Gerade das wissen die Arbeiter. Deswegen sind sie auch mit Feuereifer hinter der Arbeitsschule her. Es ist gut, wenn sich jemand Mühe gibt, dem ändern etwas weiszumachen. Der andere hat dann um so mehr Gelegenheit, das herauszusuchen, was für ihn passt. Es dauerte auch nicht lange, dann hatten sie das alles begriffen. Diejenigen, die da gefürchtet hatten, die Arbeiter würden den neuen Arbeitsmethoden, der wissenschaftlichen Arbeitsführung, wie man es nannte, größeren Widerstand entgegensetzen, sahen sich getäuscht. Nur in wenigen vereinzelten Fällen bäumten sich einzelne auf. Es kam eben nur darauf an, auf welche Seite man die Münze warf. Sport — gut, der Körper wird gekräftigt, man lernt überhaupt erst die Organe kennen, stellt sich sicherer und selbstbewusster auf die Beine. Arbeitstechnik - gut, man lernte überhaupt dabei kennen, was Arbeit ist, und vor allem den Wert der Arbeit. Aus den ellenlangen Berechnungen und Studien ging doch immer nur wieder hervor, wie wichtig für die da oben ihre Person und ihre Arbeit waren. Dann kam man schon weiter. Sie lernten die Augen um sich herum aufmachen, lernten sehen, was als Ganzes der Betrieb war, welche Stellung er in der Produktion einnahm und welche Stellung sie selbst dann in der Gesamtproduktion hatten. Daraus ist es nicht schwer, den Vergleich zu ziehen von der tatsächlichen Bedeutung zur tatsächlichen Macht. Man begreift auf einmal ganz anders, dass man eine Null ist, ein Stück Vieh, eine Ware gegenüber jenem Beamtenkörper, den der Arbeiter erst erhält und füttert, damit er auf ihn losgelassen werden kann, und gegenüber dem Unternehmertum, das sie selbst, sie, die Arbeiter, jeden Tag erst immer wieder von neuem in Gang setzen mussten, damit es überhaupt da war und auf sie wirken konnte. So etwas begreift sich schnell, das wird wie eine Erleichterung. Dazwischen standen aber noch die Maschinen. Es versteht sich ganz von selbst, dass man die Maschinen, den Apparat, die Technik kennen lernen muss. Das war eine automatische Schlussfolgerung, es gehörte mit allen ändern Dingen zusammen. Dagegen konnte niemand etwas einzuwenden haben. Weder Regierung noch Industrie konnten sich darum drücken. So brachten die Arbeiter die Arbeitsmittel allmählich und unangefochten in den Mittelpunkt der Arbeitsschule. Zäh und den meisten kaum bewusst, setzten sie die Arbeitsschule zu dem durch, was die Arbeiter selbst daraus machen wollten. Weil der Mensch letzten Endes oben nur das aufnimmt, was er aufnehmen will, was er für sich selbst daraus verarbeitet. So lernten die Arbeiter die Maschinen kennen und deren Bedeutung, die Kräfte verstehen, die mit ihrer Hände Arbeit und unter ihrer Leitung die Wirtschaft, die gesamte Gütererzeugung in Gang bringen und in Bewegung halten. Wenn aber erst alle mal so weit wären, dann - aber davon wollen wir jetzt nicht sprechen.
Noch etwas anderes ergab sich, scheint's fern liegender und doch von entscheidender Bedeutung. Die Arbeiter sahen es jetzt selbst vor Augen, wie eine Technik in die andere greift, wie ein Arbeitsmittel auf dem anderen ruht und nichts für sich allein in Bewegung ist, es sei denn völlig nutzlose und überflüssige Kraftverschwendung. Da war nichts Willkürliches, nichts gewaltsam Zueinandergesprungenes, die Technik der Gütererzeugung folgt einem obersten mechanischen Gesetz der bis ins kleinste Glied geordneten Zusammenfassung. Da hätte schon jemand müssen ein Brett vor dem Schädel haben, der daraus nicht gelernt hatte; das ist wie auch bei uns: Solidarität, gemeinsames Kämpfen - gemeinschaftliches Wirken. Aber, und das fühlte jeder, es gab bei ihnen ja noch gar keine Solidarität. Allgemeine Menschlichkeitsphrasen, denen man nur zur Hälfte glaubte, Kampfbünde, die sich untereinander nicht trauen, die alle nur wollen und wollen und doch nicht sind, wie ja jeder im entscheidenden Augenblick mit sich selbst genug zu tun hat - jetzt erlebten sie es an den Maschinen. Da erlebten sie, dass es nicht nur schöne Ideale, nicht nur Phrasen waren, sondern nüchternste, selbstverständliche Bewegungstechnik, Vorbedingung einer Kraftgewinnung, die nach dem einen alleinigen Ziel ging: Zusammenfassung, Zusammenarbeit. - Da mochte sich mancher, schloss er von den Maschinen auf sich, Gedanken machen. Ein neues Bild der menschlichen Wirtschaft tat sich vor ihm auf. Er lernte schon wieder weit mehr begreifen die wahre Bedeutung seiner Arbeit. Er sah jetzt die einzelnen Arbeitsgruppen vor sich, wie sie gleich Maschinen ineinander griffen. Sie arbeiteten schon einander Hand in Hand - und wussten es bisher nicht, hatten noch nicht richtig sehen gelernt. Jetzt begriffen sie erst, welche Macht sie im Grunde eigentlich schon besessen. Es hieß nur die Augen aufzumachen, so sollte doch -
Aber es war erst eine Schule. Sie fingen ja erst an. Sie rieben sich sozusagen erst die Augen klar. Und die Vorgeschrittensten ließen nicht mehr locker. Immer mehr brach sich die Erkenntnis durch. Die Solidarität bekam einen ändern Sinn. Es kam nicht mehr darauf an, einander nur zu helfen, wenn der andere schon am Versinken war; mit dem ganzen hohlen Unterstützungsrummel will man sich bloß loskaufen von seinen wahren, ursprünglichen, weit ernsteren Verpflichtungen. Die Solidarität war ja überhaupt gar nicht mal so sehr eine Pflicht. Es war ja eine technische Selbstverständlichkeit, sie wirkte ja automatisch, sie brauchten ja nur in die Maschinen zu sehen, um sich das immer wieder von neuem ins Gedächtnis zu rufen, und sie waren doch so unlöslich schon miteinander verbunden, dass es eigentlich genügte, das zu wissen und es sich einzugestehen. Wer stand dem entgegen - dieser Popanz von Regierung, diese Industriebarone, was waren denn das für Schreckbilder - sie selbst machten sie doch erst dazu. - Und solche Überlegungen mehr.
Allmählich bildete sich darauf eine feste Plattform. Wir sollen nicht zusehen, wie Generation auf Generation verkommt, zugrunde geht und immer weniger menschenähnlich und immer mehr unglücklich wird, hieß es da, wir müssen nicht warten und warten, wie sich das wohl noch entwickelt. Haben wir die Lage erkannt, die Bedingungen endlich abgeschätzt, was hindert uns anzugreifen, wer kann sich überhaupt entgegenstellen? Greifen wir an, von uns aus machen wir jetzt Luft. Erobern wir die Maschinen - das wurde die Losung der Elektrikerunion.

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