Ein richtiges Sorgenviertel
  Schon die dritte Generation lebt in diesem Kampf. Sehr viele  Menschen können sich anderes gar nicht mehr vorstellen. Sie sind auch  gewöhnt, dass einzelne das Maul weit aufreißen. Aber geändert hat sich  noch nichts seit Großvaters Zeiten. Mag auch das Leben in manchem  bequemer geworden sein, die Not ist sicher noch größer geworden. Die  Angst, ob noch für die nächste Woche das Brot langen wird, ist dieselbe  geblieben. 
    Es geht nicht immer an, dass die Frau mit verdienen  gehen kann. Dann sitzt die Frau zu Hause und hat die Kinder am Halse.  Höher als Stube und Küche kommt's selten. Da hocken sie nun in diesem  Viertel der Stadt, die Menschen, eng aufeinander. Lässt sich gut reden  von Körperpflege und Reinlichkeit und Sport und so etwas, da müssten  sie erst da raus. Aber sie sind dort so aufeinander angewiesen, sie  haben ja alle die gleichen Bedingungen, sie können sich ganz genau  vorstellen, was beim Nachbar vor sich geht und gegenüber. Dort liegt  zwar die Frau den ganzen Tag im Fenster, weil sie keine Kinder hat, und  dort läuft eine und bringt die paar Pfennige, die sie überhaben, in  Näschereien durch oder spart sich's vom Mittag ab, alles weiß man, es  bleibt nichts verborgen, auch Seitensprünge nicht, über die sonst der  Betreffende schweigt — alles liegt offenbar, und das gibt eine Luft,  die stickig ist und jeden Gedanken tötet und die Menschen müde und  gleichgültig macht. Dann laufen sie aneinander vorbei, so eng sie  beieinander hocken, und können sich nicht ansehen. Mancher denkt, in  den ändern Vierteln ist es besser, aber das ist der Anfänger, einer,  der von fremd her zugezogen ist. Jeder weiß bald, es ist überall  gleich. Man entflieht dem nicht. Sie verkriechen sich voreinander, und  das, was einer im Betrieb gesprochen hat, das soll noch lange nicht  gelten bei seinen Hausmitbewohnern. Es ist schwer, auch in dieser Luft  etwas Sicherheit aufzubringen. 
    Aber das setzt sich durch. Die Frauen setzen sich durch. Es war, als ob  die Frauen sich schneller entwickeln würden als die Männer. Man hat gar  nicht viel davon gemerkt an äußerlichen Geschehnissen. Eines Tages war  der Umschwung da. Es schien, als ob die Frauen ihre Männer schärfer an  ihren Mannesstolz erinnert hätten oder vielleicht auch, dass sie selbst  eingesehen hatten, das Jammern allein stürzt weder die Ordnung um, noch  bringt es die Not aus dem Haus. Die Frauen fingen an, selbständiger zu  arbeiten. Es war nun eben so, der Mann hatte für die Familie zu sorgen,  wenigstens dachte das der Staat. Mochten die Leute dann leben, wie sie  wollten. Wer aber von früh bis abends schwer arbeiten soll, für den  fiel das verdammt ins Gewicht. Er arbeitete für die Familie - na schön,  aber gerade wohltuend war das nicht. Es wurde zu einer drückenden Last,  wenn mal was in der Familie nicht in Ordnung war. Dann arbeite mal,  doppelt geknechtet - das mag der Teufel aushaken. Es kam dann vor, dass  so einer einfach davonlief, kam sogar sehr oft vor, dass er die ganze  Familie oder ein Mädchen mit Kind und so weiter einfachen sitzenließ.  Die Art und Weise, wie so eine Familie zustande kam, war schlimm genug:  Etwas Menschlichkeit finden, wissen, dass man nicht allein ist, einen  Augenblick mal etwas Freude, alles ringsum vergessen, und sei es nur  für die kurze Spanne, die sich die Sinne gewähren - sinnlich, das ist  dann menschlich sein - nun, und die Folgen. Solche Menschen mühen sich  schwer, sie tragen ihr Los wie Helden, sie opfern häufig Jahre ihres  Lebens, immer nur Verpflichtung über Verpflichtung. Die Menschen, die  sich da zusammengefunden haben, mögen sich nicht. Ist denn das etwas so  Schlimmes, wie sollte es auch anders sein - hetzt sie doch die Angst,  vom wirklich freien, glücklichen, menschlichen Leben ausgeschlossen zu  sein, zusammen. Sie kennen sich kaum, sie wollen sich gar nicht erst  kennen lernen, denn jeder fühlt am besten irgendwie tief im  Unbewussten, wie verkrüppelt und hässlich er ist. Und wenn dann einer  nicht mehr weiter kann und alles hinschmeißt, ist das nicht zu  verwundern. Es kann gar nicht anders sein. Es ist gut so. Dann aber  schrieen die aus dem Villenviertel hinter ihm drein. Dann wird die  Moral aufgerichtet und die Verantwortung und alles solche Sachen. Das  trieft diesem Pack nur so vom Maul. Es ekelt einen, deren schweinisches  Leben auch nur anzusehen. Gewiss, nach außen ist alles poliert und in  Kultur getaucht, die sie sich gemacht haben, um sich weniger wehzutun.  Kultur ist so etwas wie ein Handschuh, den diese Menschen sich  überziehen, um die Geschwüre zu verdecken. Dafür haben sie es ja auch  leicht genug. Sie tun ja im Grunde genommen nichts anderes, als sich  den Tag über darauf vorbereiten, in guter Haltung die  Geschlechtswerkzeuge zusammenzustecken, diese Leute im Villenviertel.  Warum sollen sie darin nicht ein gewisses Training bekommen, dass es  besser klappt; aber, und das ist zum Lachen, dabei klappt es noch nicht  mal. Diese Leutchen jammern noch obendrein, die ganze Kultur erhebt  sich darauf. Roman über Roman. Früher hörten die im ändern Viertel  darauf. Da gab es immer einige, die sich daran bilden wollten. Dann  setzte der entscheidende Umschwung ein. Gerade die Frauen wollten von  solchem Quatsch nichts mehr wissen. Sie wurden selbständiger auch ohne  den Staat, der sie zu lange damit warten ließ. Sie bereiten damit in  Wirklichkeit erst die wahre Revolution vor. Sie machen dem Manne die  Arme frei, und das Wichtigste, sie greifen selbst mit ein. 
    Sie fingen an, sich im Viertel gegenseitig zu erziehen. Sie hatten ja  nichts zu verschweigen - und sie verbargen auch nichts mehr von dem,  wovon man sonst nicht gern sprach. Erst der Klatsch musste das  herauszerren. Warum das, hieß es, was vorgeht, kann auch jeder wissen.  Und so fanden sich die Frauen enger zusammen. Sie lachten diejenige  aus, die sich über das Verschwinden ihres Mannes Kopfzerbrechen machte,  bis sie selbst begriff, welchen Fehler sie gemacht hatte, oder  überhaupt, dass es so am besten war. Stelle sich jeder auf seine  eigenen Füße, hieß es. Es zeigte sich plötzlich, dass auch für die  Frauen genug zu tun war. Nicht bloß, dass sie an und für sich ja auch  überall arbeiten konnten wie ihre Männer, nein, es war genug Arbeit zu  tun für sie, die nur allein von Frauen getan werden konnte oder die  sich im gewissen Sinne mit der Arbeit des Mannes ergänzte, eine Arbeit,  die sozusagen eben nur von zweien getan werden konnte. Es ist nicht  gesagt, dass den Haushalt führen und die eigenen Kinder zu warten eine  solche Arbeit ist. Immer mehr bricht sich der Gedanke durch, dass dies  eine Verschwendung an Arbeitskraft ist, die doppelt schwer lastet, weil  sie auch unnütz ist. Es ist eine dumme Angewohnheit, übernommen von  denen aus dem Villenviertel. Überlassen wir diese sich selbst, sie  sollen nach ihrer eigenen Fasson zugrunde gehen. Das heißt - es wäre  Arbeit da, wenn der Staat beweglich genug wäre, sie zu schaffen. Man  kann aber von dieser verrosteten Maschine nichts mehr verlangen. Das  ist doch nur mehr eine Bande halbverrückter und verängstigter Beamter,  ein Marionettentheater, was allerdings in seiner Wirkung nicht weniger  furchtbar als lächerlich wird, solange es die Menschen in Gang halten.  Und so bekam der absterbende Bürgerstaat in den Frauen gerade einen  erbitterten Feind. Die Arbeiterfrauen wurden für ihn bald gefährlicher  als die einzelnen Arbeiterparteien, mit denen er lavieren und die er  gegeneinander ausspielen konnte. Aber der neue Feind arbeitete  unterirdisch und war doch zugleich überall zu finden. Die Industrie  verhielt sich entgegenkommender. Es ist ihr Schicksal, den Händen  nachzugeben, und hier boten sich Hände an. Die Industrie half damit  selbst in erster Reihe diesen Umschwung vollenden. Obwohl sie mit den  ausgesprochen männlichen Berufsgruppen am kritischen Punkt eines  entscheidenden Kampfes stand, den sie mit Stilllegungen und Kurzarbeit  führte, um die Arbeiter zur Lohnverkürzung zu zwingen, und im Verlauf  des Kampfes selbst alle Mittel anwandte, um die Arbeiterschaft zu  sieben und die unruhigen Elemente zu entfernen, griff sie dennoch auf  das Angebot neuer Hände sofort zu. Neue Fabrikationszweige wurden  erschlossen, neue Berufe, neue Arbeitstechnik und neue Märkte. Es ist  der Moloch Kapital, der zugleich eine Riesenmaschine ist von ungeheurer  Kraftquelle, die die menschliche Arbeit verschlingt und in immer neue  Werte umwandelt. Neue Menschenware bietet sich an, neuer Kapitalswert  wird daraus erwachsen, so lautet das Gesetz. Es ist eine der größten  Dummheiten zu glauben, Frauenarbeit würde die Männerarbeit verdrängen.  Die Maschine entscheidet darüber, und sie wechselt ihre Bedürfnisse an  menschlicher Leistung und Hilfsarbeit unausgesetzt, sie richtet sich  nach der Kraft und Schnelligkeit, die sie zu leisten hat. Dass dies  noch zu wenig ist, ganz furchtbar zu wenig, das spürt doch jeder am  eigenen Leibe. Sind die Menschen glücklich? Also - 
    Die arbeitenden Frauen führten mit einem Schlage Gemeinschaftsküchen  ein. Die Kinder wurden gemeinsam betreut. Fast überall in den  Betrieben, die für Frauenarbeit erschlossen und umgewandelt wurden,  setzten sie diese Forderungen schlankweg durch. Wer hätte sich auch dem  widersetzen wollen und mit welchen Gründen. Ein starker Stoß ging davon  auf die Männer über. Das Viertel veränderte deswegen nicht sein  Gesicht. Die Menschen schlichen noch aneinander vorbei. Sie hockten  noch zusammen wie früher, aber es war ein freierer Zug, eine Hoffnung  auf die Zukunft. Es ging etwas vor, das fühlten alle. Zwar war noch  Jammer und Leid über Leid, da waren sich noch zwei im Wege, da schlugen  noch zwei aufeinander ein, da ging noch der Klatsch, da war noch rohe  Vergewaltigung, Trunkenheit und Laster. Da waren vor allem noch die  Gebrechen und Krankheiten, an denen man das Proletariat erkennt. Die  Menschen werden über Nacht nicht zu Engeln. Viele Generationen Elend  und Schwäche, eine tief eingefressene Gewöhnung, ein Dünkel zu leben,  ringt sich langsam durch zu Licht und Luft. Die Kinder sterben noch wie  die Fliegen. Man soll darüber nicht zu bombastisch reden. Die kleinen  Lebewesen tragen schon die Verzweiflung auf der Stirn, eine  entsetzliche Müdigkeit, als hatten sie schon viele Leben gelebt. Dann  war es manchmal, wenn so ein Wurm mit Eiter bedeckt sich in Krämpfen  wand - dass vielleicht andere Menschen dazu gehört hatten, es gesund zu  machen oder am Leben zu erhalten. Die Mutter ist verbittert in Sorgen,  sie kann kaum über den nächsten Tag hinaussehen, sie hat sich als  Mensch selbst noch nicht gefunden, sie weiß nicht, auf welchen Platz  sie gehört, was sie gerade in ihrer Person im Leben bedeutet. Das Kind  leidet, es verzieht so unsagbar schmerzhaft für den Nebenstehenden das  Gesicht, vielleicht empfindet es selbst weniger Schmerzen, es schreit,  es schwillt blau an und windet sich in Krämpfen - wer vermöchte zu  sagen, welche Martern das organische Mutterherz erduldet. Das  organische, denn meist ist der Mensch gar nicht fähig, sich alles auf  einmal bewusst zu machen. Es würde zerbrechen. Hört nicht auf die von  draußen, die es so viel leichter und besser haben, die so genannten  humanitären Frauenvereine der Bürgerlichen, die Unterstützungsklubs,  die Kinderkrippen. Alles das sind Feinde. Mögen die Kinder noch sterben  - es ist eben noch nicht die Zeit zum Leben. Sie kamen zu früh, Sie tun  gut daran, noch zugrunde zu gehen. Sie haben noch zuwenig Luft, noch  zuwenig Sonne, noch zuwenig freie menschliche Arbeit und Glück. Man  soll nicht angeben, dass diese Bürgerfrauen in so genannter Hilfe sich  loskaufen. Sie rächen sich doppelt dafür an euch selbst. Im gleichen  Augenblick geben sie euch den Fußtritt: Geh arbeiten, wenn du zu  fressen haben willst - sie selbst aber arbeiten nicht. 
    Wir vermögen das manchmal nicht zu fassen -weil zum Menschlichen doch alle  Menschen gehören. 
    So erwuchs den Arbeitern an den Frauen ein Rückhalt. Eine neue Kraft  wurde frei: der Angriff ballte sich zusammen, er bekam sein eigenes  Gesicht.  | 
  
    
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