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B. Traven - Der Marsch ins Reich der Caoba (1933)
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SECHSTES KAPITEL

In der letzten Siedlung vor dem Einmarsch in den Dschungel blieb der Trupp zwei Tage in Ruhe liegen.
Die Agenten hatten einige Tage vorher einen berittenen Boten zu dieser Siedlung geschickt, um die Ankunft eines so großen Trupps anzukündigen. Die wenigen Frauen, die in dieser Siedlung wohnten, alle indianischer Rasse, mit Ausnahme der Frau des Mayordomo, die Mestize war, arbeiteten Tag und Nacht, um die gewaltigen Mengen von Totopostles herzustellen, die der Trupp für seinen langen Marsch durch den Dschungel benötigte. Ein Totopostle ist eine große Tortilla, ein Fladen aus Maisbrei von etwa fünfunddreißig Zentimeter Durchmesser und zwei Millimeter dick.
Diese Fladen werden nach Art der gewöhnlichen indianischen Tortillas über offenen Feuern auf Blech oder auf Tonplatten leicht geröstet. Darauf, sobald sie kalt geworden sind, werden sie abermals geröstet; diesmal jedoch hart geröstet. Die gewöhnliche Tortilla beginnt am zweiten Tage des Marsches unter dem Einfluss der tropischen Hitze und der Feuchtigkeit des Dschungels zu schimmeln, wird am dritten Tage ungenießbar und kann, wenn trotzdem gegessen, schwere Darmerkrankungen verursachen.
Im Dschungel am Magen oder Darm zu erkranken ist, um das wenigste darüber zu sagen, in jeder Hinsicht unangenehm, weil es eine Angelegenheit ist, die man recht gut als eine hoffnungslose bezeichnen kann. Totopostles hingegen verderben nicht. Sie zerbröckeln nur mit jedem Tage mehr und mehr, und man hat an den letzten Tagen nur noch einen Haufen von Krümchen, die man freilich, mangels besserer Dinge, bei jeder Mahlzeit mit der gleichen Wollust verzehrt, wie man in Europa über warme Semmeln und in Nordamerika über Cookies herfällt.
Dos dias de descanso wurden die zwei Rasttage der Marschierenden von den Agenten genannt, die zwei Tage des Ausruhens. Aber wenn Arbeitern Ruhetage aufkommandiert werden, so sind es gewöhnlich die arbeitsreichsten Tage. Die Burschen wurden herangeholt, Mais auszukörnen, Bohnen zu dreschen, Mais
und Bohnen in Säcken zur Waage und wieder zu dem Transport zu schleppen. Man hätte die Waage zu dem Transport tragen und so die doppelten Wege zu einfachen Wegen machen können. Aber an Vereinfachung dachte man hier so wenig wie bei Soldaten, denen sogar das natürliche Laufen noch erschwert werden muss dadurch, dass man sie drillt, wie Automaten mit steifen Beinen zu stampfen.
Leute, die nicht ständig beschäftigt werden, machen Revolution. Dann hatten die Burschen Kaffee zu verlesen, ihn zu brennen und zu mahlen. Mühlen gab es keine. Der Kaffee wurde auf Steinen zerrieben, auf den Metates. Andere halfen beim Doktern der Tragtiere und beim Beschlagen der Hufe, die Eisen verloren hatten. Ein Dutzend wurde in den Busch geschickt, Holz zu schlagen.
Wieder andere flickten und stopften die Tragsättel der Tiere aus. Ein Dutzend musste für den Mayordomo einen neuen Zaun bauen, weil er behauptete, einige Mules im Trupp seien ausgebrochen und hätten seinen Zaun zusammengerissen.
Als die beiden Ruhetage dann endlich um waren, hatten die Burschen nicht einmal Zeit gehabt, sich ihre verschwitzten Hemden auszuwaschen. Hier wäre für eine solche Arbeit die letzte Gelegenheit gewesen.
In den Monterias wurde gearbeitet und nichts als gearbeitet. Da konnte keine Zeit darauf verwendet werden, Hemden zu waschen. So ist es keineswegs verwunderlich, wenn in den Monterias ein Hemd an das Ende seiner irdischen Laufbahn gelangte, ohne auch nur ein einzigesmal gewaschen worden zu sein.
Wenn es ein Bursche doch vielleicht einmal versuchte, so war es sicher, dass der Contratista oder sein Ayudante herbeikam und sagte: »He, du, du bist hier, um Caoba zu schlagen, dafür wirst du bezahlt, aber nicht, um deine verdreckten Hemden zu waschen. Ich werde dir eine Note für fünfzig Azotes anschreiben, für fünfzig gesunde Hiebe beim nächsten Fest.« Darum bildete sich der Brauch, dass die Burschen in den Monterias sich in der Nacht von dem Lager fortschlichen, an den Fluss gingen und ihre Hemden wuschen, wenn sie wussten, dass sie dabei von den Aufsehern nicht überrascht werden konnten. Während einige Völker unter den Indianern den Mexikodreck weder zu fühlen noch zu kennen scheinen, gibt es eine andere, die den Neid oder die Rachgier einer holländischen Bäuerin erwecken könnte. Und Burschen dieser Völker fanden es erträglicher, fünfzig Hiebe auf ihrem Rücken zu haben als ein verdrecktes Hemd.
Am ersten Tage im Dschungel erreichte der Trupp noch vor dem halben Tagemarsch einen See. Nicht groß, aber sehr schön in seiner Stille. Die Agenten nahmen ihre Pfeifen und pfiffen das Halt zur Rast.
Die Burschen ließen sich nieder und warfen ihre Packen ab. Sie gingen an der Böschung hinunter, wuschen sich Hände und Mund und schöpften Wasser in ihre Schale.
Celso, Andres und Santiago marschierten beieinander. Seit dem Lager bei der Finca La Condesa hatte sich den dreien auch Paulino angeschlossen, der indianische Bursche, der von den übrigen seines Stammes als Weltkluger angesehen wurde, weil er eine so reiche Lebenserfahrung besaß, die in dem Fangen von zweibeinigen Kätzchen ihren eigentlichen Ursprung hatte.
Es war durchaus natürlich, dass sich diese vier Burschen zusammenfanden. Sie standen auf der gleichen Stufe angeborener Intelligenz. Andres, der ehemalige Karrenführer, war der gebildetste. In Zivilisation hatte er es, durch eigene Arbeit und durch eigenen Trieb, am weitesten gebracht. Den übrigen drei hatte
nur eine gleiche Gelegenheit und wahrscheinlich auch genügender Trieb gefehlt.
Andres war der ruhigste, ernsteste und friedliebendste unter den vier Burschen. Celso, Santiago und Paulino verließen sich mehr auf ihre Fäuste und auf ein schnelles Zuspringen als auf ein langes Nachdenken und sorgfältiges Überlegen. Andres hatte die Neigung, das Leben ernst zu nehmen und es
sich dadurch zu erschweren. Die drei anderen nahmen das Leben hin, wie es kam, und rückten es sich dann zurecht, so lange, bis sie glaubten, dass sie sich wohl fühlen könnten. Alle vier, wie der ganze Trupp, waren Mächten verfallen, die stärker waren als sie. Diese Mächte, die das Schicksal dieser vier Burschen, wie aller hier, bestimmte, war für diese Menschen unsichtbar und ungreifbar. Für sie lag es zu fern, zu erfassen, dass ihr Schicksal bestimmt wurde von dem Diktator Don Porfirio Diaz, dessen Handlungen wiederum beeinflusst wurden von der Idee, dass die Wohlfahrt der mexikanischen Lande nur gewährleistet sei, wenn der Kapitalismus unbeschränkte Freiheiten besitze und der Peon keinen anderen Zweck in der Welt habe, als zu gehorchen und das zu glauben, was ihm die Autoritäten, die großen und kleinen Diktatoren, befahlen. Wer andere Ideen hatte hinsichtlich der Rechte der Menschen, wurde gepeitscht, bis er seine Meinung änderte, oder er wurde erschossen, wenn er solche Ideen verbreitet hatte, oder er kam in das Totental, wenn er landwirtschaftliche Arbeiter zur Rebellion aufgehetzt hatte.
Gesetzt den Fall, jeder einzelne der hundertneunzig Burschen, die im Trupp marschierten, würde den mächtigen Diktator Don Porfirio irgendwo persönlich angetroffen haben, so würde keiner von ihnen auch nur einen Augenblick lang gedacht haben, dass dieser alte, knackrige Mann die Macht sei, die sie zur
Monteria kommandierte. Er sah aus wie jeder andere gewöhnliche Mensch, nur dass er es liebte, Orden und Ehrenzeichen anzustecken und in Uniform umherzustelzen.
Die Burschen, wenn man sie nach New York hätte bringen und sie in die Büros der Central American Fine Woods and Chicle Corporation hätte führen können, würden ebenso wenig geglaubt haben, dass diese kleine Armee von Männern, Jungen, Mädchen, die sich hier an Schreibtischchen flegelten, die Macht sei, die sie zu dem Inferno der Monterias verurteilte. Auch die Senores, die in den Häfen Laguna de Carmen und Puerto Alvara Orbegon, damals Frontera, die ankommenden Flöße notierten, auseinanderbrachen, die Stämme aufschichteten und sie dann wieder in große Transportschiffe verfrachteten, hätten die Burschen nicht als die Macht angesehen, die ihr Schicksal bestimmte. Diese Senores, Agenten und Aufkäufer der amerikanischen Edelholzkompanien, waren freundliche Herren in ihrer Weise; sie waren menschlich, was man daraus ersah, dass sie meist besoffen waren, und wenn man sie brauchte, sie in den Cantinas suchen musste, wo sie vierundzwanzig Stunden lang auf einem Sitz hockten und Domino spielten. Waren sie in keiner Cantina zu finden, so fand man sie ganz sicher im Barrio de Tolerancia, im Freudenviertel des Hafens, wo sie die Gelder, die außer ihren Gehältern so
nebenbei in ihre Taschen rutschten, mit jenen Mädchen verfegten, die am geschicktesten den Rumba tanzten.
Sogar die Agenten, die Leute für die Monterias anwarben, wurden von keinem der Burschen als die verhängnisvolle Macht angesehen, deren Gewalt man nicht entweichen konnte. Alle diese Männer, der Diktator, seine Minister, die Direktoren der Mahagonikompanien in New York, die Hafenagenten und die Werbeagenten, schienen selbst wieder von einer größeren Macht gezwungen zu sein, Macht nach unten hin, bis zu den Peones auszuüben. Die Direktoren der Mahagonikompanien, soviel sie auch als die eigentlichen Herren erschienen, waren nur Angestellte gegen Monatsgehalt.
Sie konnten entlassen werden wie die Stenografen und Maschinenschreiber in ihren Büros. Ihre Tätigkeit in ihren Grenzen nach oben und nach unten wurde bestimmt von Papierbogen, die man Shares nannte, Acciones, Aktien. Und diejenigen Leute, die jene Shares in ihren Stahlschränken hatten, befahlen den Direktoren, was sie zu tun und was sie nicht zu tun hatten.
So weit freilich vermochte wohl auch der intelligenteste unter den Burschen nicht zu sehen, um herauszufinden, wo die Macht war und wer die Macht in Händen hielt, die über sein Leben verfügte.
Jeder einzelne in der langen Kette von Menschen, die in diesem Geschäft ihre Interessen hatten, war an sich völlig unschuldig an all den Härten und Mühsalen und Leiden der Caobaarbeiter. Jeder, wenn man ihn befragt hätte, würde geantwortet haben: »Das wusste ich nicht, dass so etwas geschehen kann. Es tut mir sehr leid, und ich will versuchen, ob ich das nicht mildern kann.«
Wenn es schon unmöglich gewesen wäre, den Peones mit vielen Worten und noch mehr Beispielen zu erklären, dass ein Büro in New York, angefüllt mit emsig und unermüdlich schreibenden und rechnenden Männern und Frauen, die in ewiger Sorge waren, ihre Posten zu verlieren, das Schicksal des Trupps
bestimmte, der durch den Dschungel marschierte, so wäre es noch viel weniger durchführbar gewesen, die Peones zu überzeugen und es ihnen klarzumachen, dass nicht eine Person oder eine Anzahl von Personen die Schicksale von Proletariern bestimmte, sondern ein System. Und auch der geschickteste
Agitator, der feurigste Redner hätte nicht einen einzigen Burschen in dem ganzen Trupp finden können, dem er auch nur mit ganz geringem Erfolg hätte begreiflich machen können, was ein System sei.
Für diese proletarischen Indianer, selbst den intelligenten Andres nicht ausgenommen, war alles das, was nicht unmittelbar mit einer Person verknüpft werden konnte, unbegreiflich.
Vierhundert Jahre Erziehung durch die Kirche hatten nicht vermocht, dass sich auch nur einer von ihnen Gott hätte vorstellen können, ohne die Heilige Jungfrau oder den heiligen Antonio, in Holz geschnitzt und mit Samtkleidern behängt, so wirklich vor sich zu sehen, dass sie das Kleid anfassen und küssen konnten und dass sie ihre Lippen und Hände auf die hölzernen Füße des heiligen Pedro pressen durften. Wie hätten sie dann ein System, viel verwickelter als das religiöse, begreifen können.
So wie der gemeine Soldat, der sich geschunden und gequält und geprügelt sieht, den Militarismus nicht als System erkennt, sondern nur die älteren Kameraden, die ihn nachts verprügeln, und die Unteroffiziere und Feldwebel, die ihn am Tage und in der Nacht quälen, und vielleicht noch seinen Hauptmann als den Militarismus ansieht, der ihm das Leben zur Hölle macht, so sahen auch die Burschen im Trupp nur die als ihre verhängnisvolle Macht an, die ihnen am nächsten waren, die sie sehen konnten, deren Peitschenhiebe sie fühlten. Ihr Hass reichte merkwürdigerweise nicht einmal bis zu den Agenten. Sie entschuldigten die Agenten damit, dass sie sagten, es sei deren Geschäft und deren Auftrag, Leute für die Monterias anzuwerben, wie es das Geschäft von Viehhändlern ist, Vieh anzukaufen für die Fleischverkäufer in den Städten. Die Leute, die sie als die Gewalt und die Macht ansahen, weil sie deren Gewalt und Macht unmittelbar fühlten, waren die Capataces, die Zutreiber für die Agenten und die Treiber hier im Trupp.
Der Diktator, der vielleicht ihr Schicksal hätte ändern können, war den Burschen ebenso fremd, ebenso unerreichbar, ebenso unnahbar, ihnen gegenüber ebenso unerbittlich und ebenso hilflos wie Gott im Himmel, den sie sich nicht vorstellen und zu dem sie nur in eine sehr ferne Verbindung kommen konnten, wenn sie vor einer hölzernen oder wächsernen Heiligenfigur knieten. Ihr Diktator, den sie kannten und sahen, war der Capataz. Der Capataz war zu erreichen. Ihn anzuflehen, weniger grausam zu sein, daran dachten sie nicht einen Augenblick. Es wäre besser gewesen, einen Stein anzurufen. Ein Stein hätte sich vielleicht bewegt, wenn man ihm nahe genug gewesen wäre und genügend laut gebrüllt hätte.
Die Peones, wenn sie an ihrer eigenen Wut nicht zerbersten wollten, fühlten keinen anderen Ausweg, als ständig in Aufruhr gegen die Capataces zu sein, nicht nur auf den Transporten, sondern erst recht in den Monterias. Es war ihr steter Gedanke bei Tag und bei Nacht, wenigstens einen Capataz unter ihre Fäuste zu bekommen. Sowenig wie ein geschundener Soldat daran denkt, seine Qualen zu enden dadurch, dass er das ganze militärische System zu stürzen trachtet, sowenig und noch hundertmal weniger dachte auch nur einer der Peones daran, die Capataces zu beseitigen durch einen gemeinsamen Angriff auf das Wirtschaftssystem, in dem der Capataz nur ein Werkzeug ist. Das Äußerste, zu dem sie vielleicht in ihrer Hoffnungslosigkeit getrieben werden konnten, war, die Monterias zu zerstören, so wie einige Jahre später die revolutionären Peones im Staate Morelos alle Zuckerfabriken bis auf die untersten Grundmauern völlig vernichteten, weil sie die Zuckerfabriken als die Quelle ihrer Leiden ansahen.
An dem See, wo der Trupp rastete, verzögerte sich der Marsch eine gute Weile. An dem Urwaldbach, der zu durchkreuzen war, hatten mehrere der Tragtiere Schwierigkeiten gehabt, ungefährdet hinüberzukommen.
Der Bach war sehr steinig, mit zahlreichen ausgewaschenen Löchern, in denen die Tiere strauchelten und fielen. Und er war angefüllt mit angeschwemmten Bäumen, die irgendwo abgebrochen waren und nun hier die Furt versperrten. Es musste ein neuer Weg weit im Bogen aus dem Dschungel geschlagen werden, um die Tiere durchzubringen. Ein großer Teil des Trupps war bereits am See, während ein beinahe ebenso großer Teil noch nicht den Bach gekreuzt hatte. Darum wartete hier der gesamte Trupp so lange, bis die Reste nachkommen konnten. Dieser Nachtrupp wollte natürlich gleichfalls rasten.
Der Vortrupp war bereits abmarschiert. Und nun wollte sich der Haupttrupp aufmachen. Aber da kam Botschaft vom Vortrupp, dass erst eine Brücke gebaut werden müsse über einen Sumpf, weil die Tiere versanken. Und weil an jener Stelle der Pfad so schmal war, dass nur immer je zwei Mann oder ein Tier marschieren konnten, kam die Anordnung, dass der Haupttrupp am See lagern bleiben solle, bis der Marschbefehl da sei. Es wurde gleichzeitig angesagt, dass keine weitere gemeinschaftliche Rast an diesem Tage gemacht werden würde, bis das Ruhelager erreicht sei, das noch eine gute Wegstrecke entfernt war.
Infolge des engen Weges konnten nur wenige Burschen beim Bauen der Sumpfbrücke gebraucht werden, denn zu viele würden sich gegenseitig nur im Wege gewesen sein.
»Dann lasst uns nur ruhig hier ordentlich Vorrat schlafen«, sagte Santiago, und darauf streckte er sich aus.
Andres wollte gleichfalls schlafen. Aber es schien, dass Celso nicht schläfrig war und dass er nicht allein wach bleiben wollte. Er bemühte sich deshalb, jemand zu finden, mit dem er sprechen konnte.
Sein Schicksal, das ihn so mitleidlos von seinem Heimatdorf, von seinem Mädchen und damit von allen Dingen getrennt hatte, die er benötigte, um für sich selbst sein eigenes Leben aufzubauen, sei es reichlich oder sei es ärmlich, aber es war sein eigen, dieses Schicksal, das sich in seinen Weg gedrängt hatte, würgte stetig in ihm. Er ließ es niemand merken, was in ihm vorging, wie er innerlich litt und in seinem Herzen traurig war, so traurig, dass er zuweilen meinte, sein Gemüt weine nach innen und fülle sein ganzes Wesen mit Tränen. Nach außen hin wusste er wohl kaum, was Tränen sind; denn der Charakter
seiner Rasse ließ es nicht zu, dass er sein Gefühl und sein Weh auf dem Antlitz trug. Er war in allem, was er war, Indianer. Ein Indianer stellt sich nicht hin und sagt mit Worten oder Gebärden:
»Seht hierher, Menschen, seht, wie ich leide. Habt Mitleid mit mir oder doch wenigstens Verständnis.«
Er hatte wie alle seine Rassengenossen den stoischen Charakter des Widerstandes und der unerschütterlichen Hoffnung auf Rettung in einer Form, die in der weißen Rasse nur die Fanatiker und die gefolterten und gehetzten Kommunisten haben. Aber des Abends, wenn er sich niederlegte zum Schlafen, oder auch am Tage, wenn er rastete und schläfrig wurde, dann begann es in ihm zu würgen und zu wüten. Dann, häufig schon halb im Traum, zauberte er sich Bilder vor von Rache, die er üben wollte an denen, die an seinem Schicksal unmittelbar schuld waren. Er sah die Capataces und Agenten und Contratistas sterben unter entsetzlichen Qualen, sah sie bitten, ihnen zu helfen, und er sah sich ihnen gegenüberhocken und ihren Leiden so erbarmungslos zusehen, wie sie ohne Erbarmen gewesen waren gegen ihn und seine Arbeitsgenossen. Diese Vorstellungen regten ihn auf, machten ihn wild, ermüdeten ihn und erschlafften ihn mehr, als es sexuelle Gedanken vermocht haben könnten. Er fürchtete sich vor diesen Vorstellungen, ihrer zermürbenden Folgen wegen. Er war immer froh, wenn er sich am Tage so überarbeiten konnte, dass er in Schlaf fiel, sobald er sich nur auf seinem Petate ausstreckte. Aber jetzt war er nicht müde genug, um rasch einzuschlafen. Darum suchte er nach Gesellschaft, um plaudern zu können und wach zu bleiben.
Auf der Anhöhe, wo der Trupp lag, standen turmhohe Tannen. Sie wuchsen bis unten dicht an den See heran.
Die Tannen erinnerten ihn an sein Dorf und an die friedlichen Hütten seiner Heimat. Die Hütten waren aus Lehm gebaut, ohne Fenster, ohne Möbel. Das Herdfeuer brannte auf dem gestampften Erdboden in der Mitte der Hütte.
Und wenn seine Mutter kochte, war die Hütte immer voller Rauch; denn der Rauch zog nur langsam ab an den Seiten, wo das Palmdach auflag auf den Balken, die die Lehmmauern der Hütte zusammenhielten.
Hier war der Boden dicht bestreut mit den fingerlangen Tannennadeln, die abgeschüttelt waren von den Bäumen. Und das erinnerte ihn an die Festtage in seinem Dorfe, wenn in allen Hütten der Erdboden dicht bestreut war mit grünen Tannennadeln, die schöner waren als der schönste Teppich und die die Hütten mit einem würzigen Duft füllten, lieblicher als das köstlichste Parfüm.
Er hockte und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Er rauchte nicht, sah nur hinauf in die Kronen der Tannen.
»Andres«, sagte er, »habt ihr in eurem Dorfe auch Tannennadeln in euren Jacalitos, wenn ihr Feste habt?«
»Gewiss doch«, gab Andres zur Antwort.
Andres, der in diesem Augenblick an seine Carretas dachte und wer sie wohl führte und wie die Jungen vielleicht jetzt irgendwo im Schlamm mit den Carretas stecken mochten, wurde durch diese Frage aufgerüttelt. Auch er wurde durch den Teppich der Nadeln, auf dem sie hier rasteten, an die Heimat
erinnert. Und auch er wurde, wie mit einem Ruck, an sein Mädchen Estrellita, das Sternchen, erinnert, das er hatte zurücklassen müssen und mit dem er gehofft hatte, einst in einer Hütte wohnen zu können, wo der Erdboden mit Tannennadeln bestreut war. »Bueno«, redete Celso weiter, »wenn ihr auch Tannennadeln habt in euren Casitas und du auch daran denkst, wie schön das zu Hause ist, dann sieh dir nur diese Tannen hier recht und recht lange an. Nimm Abschied von ihnen. Es sind die letzten Tannen, die du auf Jahre hinaus sehen wirst. Vielleicht sind es überhaupt die allerletzten Tannen, die du in deinem Leben siehst. Denn wir sind die Perdidos, die Verlorenen.«
Andres nahm ein kleines Ästchen auf, das ihm zur Seite lag, spielte damit, roch daran, und wie gedankenlos steckte er es in seinen Packen.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Celso, als er das sah. »Das will ich auch tun. Es ist wie ein kleines Stückchen Hoffnung, so ein Ästchen zu haben und es gelegentlich in der Hand zu halten am Abend beim Feuer in der Monteria. Auch wenn es vertrocknet sein wird, es bleibt doch immer Hoffnung, und man
vergisst nicht, dass irgendwo Tannen wachsen in der Welt und dass irgendwo jemand ist, der auf dich wartet und an dich denkt, so übel es dir auch gehen mag.«
Andres hatte nun ebenfalls seine Schläfrigkeit verloren. Er hatte sich aufgerichtet und war dicht neben Celso gerückt. Sie redeten für eine Weile nicht. Sie blickten nur hinunter in den See, wo kleine Wellen in der Sonne spielten.
Um sie herum schwätzten einige der Burschen. Die meisten schliefen. Einige wenige packten an ihrem Gepäck herum.
Dann hörte man ein knirschendes Bersten, ein Krachen und das Fallen einer gigantischen Tanne, deren Äste beim Stürzen knatterten und zwitschten. Drüben auf der anderen Seite des Sees hatte eine altersmüde Tanne aufgehört, ihre Krone im Sonnenlicht zu wiegen. Sie hatte sich niedergelegt, zu sterben
und Raum zu geben den Jungen, die zum Licht wollten und die Hoffnung in sich trugen, dass ihnen nie das gleiche Schicksal werden würde wie dem vom Alter und von verbrauchter Lebenskraft gefällten Kameraden.
»Schneide dir hier genügend Ocote, Kien, heraus«, sagte Celso endlich. »Wenn du hier keinen Ocote schneidest, dann hast du keinen mehr auf dem ganzen Wege, und du kannst dann versuchen, mit vertrocknetem Schitt Feuer anzublasen. Hast du das mal versucht? Geht ganz gut. Aber es muss
Pferdeschitt sein oder Muleäppel. Der Schitt von diesen gottverdammten Capataces ist zu nichts zu gebrauchen.
Stinkt nur wie die Pest, wie überhaupt die ganze Bande. Wenn ich doch nur allen diesen Coyotes den Machete durch den Kadaver jagen könnte. Mijito, mein Söhnchen, das wäre noch ein schönes Vergnügen, verflucht noch mal. Ich weiß überhaupt nichts auf der Welt, das ich mit mehr Andacht tun möchte als das.
Dafür lasse ich mich sogar mit Wollust henken und hier begraben. Du kennst doch die beiden Räuber, die mich in Hucutsin eingefangen haben für fünf Duros, für fünf beschissene Pesos. Aber ich habe gar nicht nötig, meinen Machete an ihrem stinkigen Leder zu zerkratzen.«
»Ich weiß nicht, was du meinst, que pienses, hombre«, sagte Andres, ohne seinen Blick von dem glitzernden See abzulenken.
»Ich bin ein Adivinador, ein Weissager, mein Söhnchen«, sagte Celso. »Weißt du das nicht? Ich kann ganz genau voraussagen, was diesen beiden Schurken geschehen wird hier auf diesem Marsche. Im letzten Campo, in der letzten Siedlung, von der wir heute morgen abmarschiert sind, da habe ich doch
gestern helfen müssen, den Zaun zu bauen, den die Mules eingetreten hatten. Da hatte ich einen Palo eingerammt, einen Pfosten, und als die Burschen anzogen mit dem Bast zu dem anderen Palo, da stürzte mein Pfosten um. Wie kannst du denn so rasch einen Palo einrammen, wenn du das Loch nur mit dem
Machete und mit den Händen graben musst und der Capataz nicht warten will, bis ich den Boden wieder festgestampft habe. Da hat mir der verfuckte Hurensohn einen mächtigen Striemen rübergerissen, dass ich nur so aufwichste, sage ich dir. Verflucht noch mal. Und kaum eine halbe Stunde später stehe ich da und polke mir Dornen aus den Händen, weil die Dornen sich einbohrten und ich nicht richtig zupacken konnte, da kommt der andere Sohn einer verdreckten Hündin heran und sagt: >He, du Flojo, du stinkige Kanaille von einer Mula, willst wohl hier Fiesta machen, einen Feiertag, ich will dir nur gleich deine Fiesta geben.< Und da wichste er mir gleich ein halbes Dutzend über mit seiner Mulepeitsche. Ich habe nichts gesagt. Was hat es denn für einen Zweck, sich zu streiten. Man muss nicht reden, man muss tun. Und am Abend, da habe ich getan. Ich habe den beiden Hunden, die mich für fünf
Duros verkauft haben und mich nun auch hier noch auf dem Marsch schinden wollen, die Hände gelesen. Ich kenne jetzt ihr Schicksal so gut wie das meine. Ich habe dir ja gesagt, ich bin Weissager. Meine Schuld ist es nicht. Es steht in ihren Händen geschrieben, dass die Hündin, die den einen der beiden
Wegelagerer zur Welt gebracht hat, diesen unter ihren Söhnen nicht mehr wieder sehen wird und dass jene Tortillahure, die den anderen Muleschitt ausgekotzt hat, ebenfalls einen Sohn weniger haben wird, ehe wir in der Monteria ankommen werden. Ich mache keine Schicksale, ich lese nur in den Händen, was das Schicksal zu vollbringen hat. Diese beiden Knaben, so schön sie auch sind, so stolz sie auch im Sattel sitzen mögen und so herrlich sie auch hier herumflitschen und herumkommandieren mögen, keiner von den beiden bleibt bei uns bis zur Monteria, keiner von beiden kommt wieder zurück, und keiner von ihnen wird auf einem gesegneten Friedhof eingegraben. So sind die Schicksale der Menschen, daran können wir nichts ändern. Und wenn das Schicksal seinen Lauf nimmt, ich werde nichts dazu tun, diesen Lauf aufzuhalten.«
»Es sind in der Tat Schurken«, sagte Andres, »und ich glaube, dass es angenehmer in der Monteria sein wird, wenn diese beiden nicht dort sind.«
»Da kannst du sicher sein, Söhnchen, es ist besser dort ohne die beiden. Die Capataces, die wir da haben, sind ja gewiss nicht verweichlicht, und sie wissen verflucht gut auszuholen. Aber sie haben wenigstens keine so höllische Freude daran, jemand zu schinden, wie die beiden hier. Die elendsten Schurken auf
diesem Erdboden sind die, die sich an Wehrlosen vergnügen.«
»Hast du den beiden Hunden gesagt, was du in ihren Händen gelesen hast?« fragte Andres unschuldig.
»Dir ist sicher die Sonnenhitze in die Gedärme gehuscht, dass du so etwas von mir glauben kannst«, sagte Celso.
»Es ist doch vielleicht besser, dass du es ihnen sagst, damit sie sich gut vorsehen auf dem Wege und du nicht die Schuld hast wenn ihnen etwas geschieht.«
Celso sah Andres mit halb zugekniffenen Augen an. Er wusste nicht recht, ob Andres das im Ernst sagte oder in Ironie.
»Du meinst das wirklich«, fragte er, »dass ich die beiden warnen sollte, was das Schicksal mit ihnen vorhat?«
»Es ist, ich meine, sie sind doch auch Christen und keine Heiden«, sagte Andres zögernd.
Aus dem Ton heraus, mit dem Andres sprach, fühlte Celso, dass Andres wirklich das meinte, was er gesagt hatte.
»Christen? Schitt sind sie. Trockener Ochsenschitt sind sie, aber keine Christen.« Celso sagte es so, als habe sich das Schicksal an den beiden Capataces bereits vollzogen. »Christen? Meinetwegen. Dann will ich kein Christ sein, sondern lieber Chinese oder ich weiß nicht was, aber jedenfalls nicht dasselbe, was die sind. Und ich es ihnen sagen? Konnten ja ein altes Weib in Hucutsin auf dem Heiligenfeste fragen und ihr zwei Reales geben, damit sie ihnen weissage. Das ist nicht mein Geschäft. Mein Geschäft ist es vielleicht, darauf zu sehen, dass meine Weissagung recht bekommt. Und ich will dir auch gleich noch etwas anderes erzählen: Wenn du diesen beiden Hurenbrüdern, diesen Cabrones, auch nur eine kurze Silbe sagst von meiner Weissagung oder wenn du auch nur einem anderen Muchacho hier im Trupp, etwa deinem dicken Amigo Santiago, ein Wort sagst, mein Söhnchen, dann haue ich dir so mächtig eins in deine Fresse, dass du vorn und hinten Zähne pisst. Das weißt du nun, und du hältst dein gottverfluchtes Maul und sagst auch später nichts, dass ich aus Händen weissagen kann. Ja, und nun wird es lebendig. Da kommen die Capataces, und da hörst du auch die Pfiffe zum Weitermarsch. Los denn.«

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